Alle Welt zitterte, aber der wohlständige Westen geriet in Panik. Eine ans Würdelose grenzende Angst gewann die Macht, und weil dadurch – mehr als durch alles andere – für die Herrschenden Entscheidendes zu gewinnen war, nutzten sie diese Angst, forcierten sie und boten sich den Furchtsamen als geharnischter Schutz an, und die meisten folgten – um den Preis der Aufgabe elementarster Persönlichkeitsrechte.
Ängstlich waren sie vorher schon, die Vorliebe für Dystopien offenbarte es. Vermutlich steht dahinter das Halbbewußtsein tiefer Schuld, das Empfinden einer Erbsünde, die nicht nur im Brudermord, sondern in der Vernichtung der gesamten Biosphäre schockierenden Ausdruck findet. Weder vegane Lebensweise noch Co2-Reduktion oder das Verbot von Wattestäbchen aus Plastik vermögen uns von dieser grundsätzlichen Schuld zu befreien. Sein eigenes Sterben bewegt den Menschen zutiefst, das Sterben der Mitgeschöpfe, die Ausrottung ganzer Arten aber viel weniger.
Zurück zum politischen Alltag: Wo die einen sich sowieso kaum mehr hinauswagten, spielten die anderen, die Politiker, sich um so mehr auf. Zustimmung gewannen jene, die härteste Einschränkungen forderten und Unbotmäßigen nichts weniger als Krankheit und Tod prophezeiten, ihnen vor allem aber vorhielten, sie würden verantwortungslos das Leben anderer gefährden und unweigerlich zum Todesengel der Alten und Schwachen. Selbst Kinder fanden sich als „Virenüberträger“ beargwöhnt.
Als lobenswert, ja als couragiert galt, wer zu Hause auf dem Sofa blieb. Der, hieß es, rettete Leben. War das je einfacher? Leben retten, ohne das Haus zu verlassen? Solch ein billiges Angebot redlichen, guten, sogar heldenhaften Handelns kraft medizinischen Autoritätsbeweises und mit Segen der Politik kommt so schnell nicht wieder. Die Helden standen hinter den Gardinen und mokierten sich über jene, die Luft und Freiheit suchten, weil nun mal dort das Leben ist.
Die Virologen verhielten sich, wie sich Mediziner zu verhalten haben: Sie sahen im Menschen den Infizierten, den Kranken, den Todgeweihten. Sie können nicht anders. Der Gesunde ist nicht ihr Thema, der Moribunde ist es. Schaut der Arzt einen an, so sieht er den Patienten, den er zu therapieren hat, so wie der Lehrer eben belehren will und der Ökonom fragt, ob es sich rechnet. Dem Gesunden kommt in der Medizin keine Priorität zu, sie ist nachrangig, schon deswegen, weil das Gesunde in der Wahrnehmung des Arztes lediglich die Vorstufe, die Anfälligkeit für die nächste Erkrankung ist, so wie das Leben die abschüssige Bahn Richtung Tod.
Davon befreit – wie so oft – die konsequente gedankliche Umkehr. Man denke das Leben vom Tode her. Und wenn man das nicht aushält, so eben vom „Stirb und werde!“, insofern wir in jedem Moment ausatmen und einatmen, welken und wachsen, abbauen und aufbauen, schlafen und wachen, sterben und leben. Goethe in der letzten Strophe des Gedichts „Selige Sehnsucht“ im „West-östlichen Divan“: „Und so lang du das nicht hast,/Dieses: ‚Stirb und Werde!‘,/bist du nur ein trüber Gast/auf der dunklen Erde.“
Der Westen ist trotz seiner vielbeschworenen jüdisch-christlichen Grundlagen daseinsfixiert, seinsverloren, in sein eigenes kleines Leben vernarrt und verkrallt, obwohl die religiösen Mythen ihn ermutigen sollten, den Gedanken an den Tod auszuhalten. Wem das Geschenk des Glaubens nicht zuteil wurde, der findet anderswo noch Trost für seine epikureische Traurigkeit, wenn er nun unbedingt getröstet werden will. Hier probeweise ein Vademecum dafür.
Weil aber Karfreitag naht, die Finsternis vor dem Licht, der Tod vor der Auferstehung, sei ein großer Theologe zitiert, Karl Rahner (1904 – 1984). Erbaulich daran: Seiner Ermutigung fehlt das Süßliche, sie ist vielmehr getragen vom Lebensernst, der aus dem Bewußtsein des Todes erwächst, bevor wir uns dann „Frohe Ostern!“ wünschen dürfen oder wie die orthodoxen Christen: „Christus ist auferstanden! Er ist wahrhaftig auferstanden!“ Golgatha, die Schädelstätte, und neues Leben … – Theologisches kann existentialistisch klingen.
Karl Rahner zum Karfreitag:
„Was soll also der Karfreitag?
Er soll zunächst einmal einfach ganz nüchtern uns an den eigenen Tod erinnern. Nicht weil der Karfreitag nicht zuerst und zuletzt das Gedächtnis des Todes des Herrn und letztlich seines Todes allein wäre. Aber man kann diesen Tod nur wahrhaft verstehen und begehen, wenn man sich selbst als den dem Tod Überantworteten weiß und annimmt. Sonst ist man von vornherein blind und erblickt den Gekreuzigten gar nicht wahrhaftig. Darum müssen wir zuerst unseres eignen Todes gedenken.
Es ist nun einmal so: wir alle sitzen im Kerker unseres Daseins als zum Tod Verurteilte und warten, bis wir drankommen. Bis dahin kann man Karten spielen, eine Henkersmahlzeit gut finden und für den Augenblick vergessen, daß die Kerkertür bald aufgeht und wir herausgerufen werden zum letzten Gang. Aber vergessen, eben das sollen wir nicht. Dem Tier ist sein Tod verborgen oder nur in dumpfer Lebensangst präsent. Wir aber wissen vom Tod und sollten dieses Wissen nicht verdrängen. Wir sollten im Angesicht des Todes leben.
Wissen, daß wir einfach in die unerbittliche Einsamkeit des Todes gestoßen werden, wohin keiner mehr mitgeht, das Geschwätz aufhört, keiner sich mehr hinter einem anderen verstecken, keiner sich auf eines anderen Meinung hinausreden kann. Wo nur noch gilt, was man dahinein mitnehmen kann: je ich selber, der ich war im letzten Abgrund des Herzens, des Herzens voll Liebe oder des Herzens voll tückisch vor mir und anderen versteckter Selbstsucht. Nichts nehmen wir in diese Verlassenheit mit als das, was wir in der letzten Grundentscheidung unseres Herzens selber sind.
Wir sollten jetzt schon unser Leben, Tag für Tag, auf der Waage des Todes wiegen, so trachten, einmal unseren eigenen Tod sterben zu können; die Gewichtslosigkeit des einen, das wir tun, und das Gewicht des anderen, das wir tun sollten – beides gilt es anzuerkennen; die innere Heiterkeit dessen zu lernen, der dem Tod gelassen entgegengehen kann, nicht weil er zynisch verzweifelt ist, sondern weil er bereit ist, das Geheimnis des Todes als Geheimnis unbegreiflichen Sinnes anzunehmen.
Wir sollten im Leben den Tod einüben, weil es zwar klar ist, daß man auf jeden Fall den biologischen Exitus fertig bringen wird, nicht aber schon eindeutig ist, daß wir den wahrhaft menschlichen Tod zu sterben vermögen, in dem das Unverfügbare die Mitte der bereiten Freiheit wird.“
(Karl Rahner, Schriften zur Theologie VII, S. 141 f.)