Die Karfreitagsliturgie war zu Ende, alle Lichter erloschen, der gemarterte, geschundene, gekreuzigte Jesus tot und ins Grab gelegt, als ich neben den Vätern in der Nacht stand und die Erschütterung vor allem eines Mönches wahrnahm. Er war naßgeschwitzt von der Anstrengung der Liturgie und von seiner Verzweiflung darüber, daß Gottes Sohn den Verrat, die Nachlässigkeit, Schlaffheit, unsere gefallene Art, unsere Ausreden und Schlauheiten wieder hatte ertragen müssen.
Da erhob sich der im Wortsinn mächtige Abt, der Altvater, der sich nur kurz, ebenfalls erschöpft, in einer Mauerecke niedergelassen hatte, und sagte von uns abgewandt ins Dunkel hinein: “Nun triumphiert der Tod. Nun reibt er sich die Hände dort unten, nun ruft er seinen Knechten einen Scherz zu, vielleicht, man solle sich nun vorbereiten für diese hohe Ankunft, man solle sich höhnisch verbeugen und gefällig applaudieren, wenn da nun das herabgeführt würde, was einmal ein unsterblicher Gott habe sein wollen.”
Der Altvater wandte sich um und blickte seine Mönche an: “Könnt ihr euch vorstellen, wie der Tod ein höhnisches Wort rufen wollte, als die Tür knarrte und der Geschundene hereintrat? Wie ihm das Wort im Halse stecken blieb, als er sah, daß mitnichten ein Überwundener, sondern der erste Selbstüberwinder, der erste Gewandelte in die stinkende Kammer trat? Wie er zerfiel, schrumpfte, sich verdrückte, sich in die kleine, schmuddelige Ecke verzog, in der er seither kauert und herausmault, weil nicht der andere, sondern eben er überwunden ist, in der Sekunde seines vermeintlich größten Sieges überwältigt, von den Füßen gesenst, nein, viel weniger und mehr zugleich: einfach weggeschoben, aus der Bedeutung geschickt, nicht mehr der Rede wert.”
– – –
Warum hatten wir den Kommentarbereich unseres Netz-Tagebuchs über die Feiertage geschlossen, warum dieses Spekulieren über Gefahr und Betrug, Maßnahmen und Hintergründe, Wissen und Bescheid-Wissen beendet? Eben deshalb: weil es gar nicht darauf ankommt, wieder einmal besser Bescheid zu wissen als die andern und wieder einmal trotzdem nur zuschauen zu können, wie etwas abläuft.
Es gibt Empörte, die uns beschimpfen, weil auf unseren Seiten der Wissenschaftsfeindlichkeit Vorschub geleistet würde; es gibt eine anders gelagerte Empörung über das Verkennen eines Weltplans, dem die Gutgläubigkeit, die Angst, die Hilflosigkeit zupass kämen. Es gibt solche, die jeden Aufruf zur Unbotmäßigkeit für fahrlässig halten und andere, die den Aufstand proben wollen, aber nicht recht wissen, wie das gehen soll und wer es verantworten könnte.
Sicher ist dabei freilich nur eines: Niemand von uns weiß, worauf wir blicken werden, wenn nach dem Erdrutsch der Staub sich gelegt haben wird. Es zeichnet sich ab, daß ökonomisch die großen Strukturen profitiert haben werden, die kleinen nicht. Es zeichnet sich weiterhin ab, daß die Einwilligung in verordnete Verhaltensrichtlinien, in lückenlose Gesundheitskontrolle, in Bewegungs- und Aufenthaltsbeschränkungen “zu unserem Besten” eine breite Akzeptanz finden könnte. Es wird sich jedoch nicht herausgestellt haben, wem wir Glauben schenken dürfen.
– – –
Wir hatten vor den Osterfeiertagen mit einem Priester über folgende Idee nachgedacht: unter unseren Lesern soviele Mitstreiter zu finden, daß ein Gebet von etwa einer Viertelstunde Dauer in unablässiger Reihung vierundzwanzig Stunden lang gesprochen würde, weitergereicht vom einen zum nächsten. Der Priester sandte mir dieses Gebet – ein tiefgründiges, in seiner Blickrichtung unserer Krisenzeit angemessenes Reuegebet für unser Volk.
Warum haben wir das letztlich nicht initiiert? Das ist nicht leicht zu erklären. Vielleicht so: Es paßt ganz zum Charakter unserer Arbeitsweise, auf Hemmnisse mit Gegenmaßnahmen zu reagieren, also Auswege zu finden, Haken zu schlagen, findig zu sein. In dieser Findigkeit liegt stets Genugtuung darüber, daß wir uns der Mittel unserer Zeit bedienten, daß wir die Dinge in unserem Sinne instrumentalisieren könnten, daß wir also geschickt genug darin seien, uns nicht viel gefallen lassen zu müssen.
Vermutlich war der glatt erfundene Loki-Verlag, auf dessen Karte wir an der Herbst-Buchmesse 2018 teilnahmen und damit die “rechte Ecke” vermieden, unsere bisher aufwendigste Findigkeit. Kaum jemand hat aber wahrgenommen, daß die Tage am Messestand dieses Coups dennoch hohle Tage waren: die ausgehebelte Mechanik dominierte, der Trick war der Inhalt. Das Eigentliche (unsere Bücher, unser Nachdenken, unsere intellektuelle Opposition) spielte keine Rolle.
Man sollte solche Analogien nicht strapazieren, nur soviel: Sechzig, achtzig, hundert Mails zu sortieren, Gebetsuhrzeiten zu verteilen und die Kontakte verdrahten – das alles ist ein Betrieb, ist eine Form der vom Wesentlichen ablenkenden Findigkeit, und so kamen uns dann auch über die Feiertage diese vielen Internet-Angebote, diese von Kameras umstellten Altarräume, diese an virtuelle Gemeinden gerichteten Abstandsliturgien vor wie besonders geschickte Tarnanstriche und Täuschungsmanöver des Weltlichen über den Geist.
Wären wir auf die Verhaltenslehren der verseuchten Zeit eingegangen, hätten wir also einen auf Abstände ausgerichteten Gebetszirkel organisiert: Wir hätte das, was uns am Herzen lag – diese seelische, geistige Kräftigung, Stärkung, Verbindlichkeit – gründlicher verfehlt als je zuvor. Wir hätten eingewilligt in die Vereinzelung, in das Täuschungsmanöver: daß nämlich virtuelle Verbundenheit etwas sei, womit die Verdichtung der Anwesenheit ersetzt werden könne.
Dann besser nicht! Wie könnte man auch das Eigentliche des Osterwunders, des Glaubensgrunds überhaupt mit denselben Mitteln transportieren (was für ein Wort!), mit denen die aufgeklärte Panikgesellschaft nun die jahrzehntelange Predigt von der grenzenlosen, der bewegungsfreien, der geradezu heilsbringenden Weltoffenheit wegwischt und sie durch eine vereinzelnde Weltquarantänepredigt ersetzt, eine Weltquarantäneverantwortlichkeit, die aus dem Andern den Ansteckenden macht und aus der Zuwendung eine Todesgefahr!
Wie will man je wieder Kirchen füllen, wenn offensichtlich geworden ist, daß man den Leuten sehr wohl den Gottesdienst verbieten kann? Oder war irgendwo das Bedürfnis so groß, daß man Kirchen stürmte und in heiligem Ungehorsam besetzte?
– – –
Wir selbst hatten das große Glück, an einem der Ostertage einen Katakomben-Gottesdienst mitfeiern zu dürfen. Flüsterpost hatte uns erreicht, man fand zusammen, ein mutiger Priester hielt vor fünfzehn Gläubigen eine Heilige Messe an unerwartetem Ort, mit liturgischem Gerät aus einer Reisetasche.
Dieser Kelch und diese Schale, dieses Brot und dieser Wein – sie erhielten eine so herausgehobene Bedeutung, wie wir sie kaum je erfuhren, so herausgelöst aus jeder Alltagsbedeutung, wie das nur in verrutschten, aus den Fugen geratenen Zeiten möglich ist, jenseits aller Selbstverständlichkeit.
Diese konkrete Handlung, diese Hervorbringung, Wandlung, Stundenfügung gab uns blinden Schwimmern Zuversicht. Später, in der Mittagssonne des sommerlichen Ostersonntags, las ich in einem der Bücher, mit denen ich nicht fertigwerde, in Erhart Kästners Der Aufstand der Dinge, folgende Stelle:
Die Welt-Ausrechnung, Allmacht der Neuzeit, vor der auch Diktatoren sich beugen und Alle, die sich sonst hassen, verbrüdern, will alle Dinge entsiegeln. In Freiräumen, wenngleich sie folgenlos wurden: Sie versiegeln sich wieder. Je mehr wissenschaftlicher Aufschluß, desto verschlossener erweisen die Dinge sich. Sie trotzen. Sie sehen den einzigen Fluchtweg, wenn sie überhaupt einen sehen: Umziehen ins Rätsel. Das Labyrinth: Ihre Wohnung.
Ich sprach über diese Einsicht, über diesen Aufstand der Dinge, die sich plötzlich ihrer Vernutzung entziehen und rätselhaft für den naheliegenden Zugriff werden, anderthalb Stunden lang mit meinem Sohn. Er und ich ahnten, was damit gemeint sei. Dann verflog es wieder.
Ich bin mir aber, während die Osterfeiertage zur Neige gehen, noch sicherer als zuvor: Wir müssen Widerstand leisten. Er wird von der Befreiung aus dem vernutzenden Gehorsam und aus den vorgegebenen Spielregeln leben. Er wird nicht virtuell sein, sondern wird die Dinge an sich zu Verbündeten haben.
Dieter Rose
Danke!