Frankreich adaptierte in den 1920er Jahren die Unternehmensform der „Gesellschaft mit beschränkter Haftung“ (GmbH) und bezeichnete sie als „Société à responsabilité limitée“ (SARL). „Responsabilité“ kann auch mit „Haftung“ übersetzt werden, hat aber hauptsächlich die Bedeutung von „Verantwortung“. Die Franzosen nennen ihre Version der GmbH also „Gesellschaft mit beschränkter Verantwortung“.
Wenn man diese Bezeichnung auf unser Wirtschaftssystem überträgt, ist damit alles gesagt. Wir leben in einer Gesellschaft mit beschränkter Verantwortung. Wenn es in der Wirtschafts- und Sozialpolitik irgendetwas gibt, das die verschiedenen Strömungen innerhalb des rechten Lagers im allgemeinen und der AfD im speziellen einigen könnte, dann ist es der Kampf gegen eine Beschränkung der Verantwortung oder, positiv gewendet, für eine Gesellschaftsordnung, in der es weitgehend unmöglich ist, Verantwortung auf andere abzuwälzen.
Unter diesem Banner ließen sich sowohl diejenigen versammeln, die sich für eine Liberalisierung der Sozialsysteme und eine Stärkung der Marktwirtschaft einsetzen, als auch diejenigen, die sich für einen solidarischen Patriotismus stark machen, für eine ausgeweitete Sozialpolitik im Interesse von Deutschen und Familien. Nötig wäre hierzu allerdings, daß beide Seiten nach Mt 7,5 zuerst den Balken aus ihrem eigenen Auge ziehen, ehe sie daran gehen, den Splitter aus ihres Bruders Auge zu entfernen.
Beide Seiten haben nämlich insofern einen Balken in den Augen, als sie die Verantwortungslosigkeit nur in einem abgegrenzten Bereich unserer Gesellschaft bekämpfen wollen, jedoch blind sind für andere Bereiche, in denen die Verantwortungslosigkeit ebenfalls grassiert. Momentan stehen sich die Lager unversöhnlich gegenüber und werfen sich gegenseitig vor, Unverantwortlichkeit zu fördern. Eigentlich haben sie damit auch beide Recht.
Da sind zunächst die Liberalen. Sie sehen den Splitter im Auge des sozialen Flügels nur zu genau. Es ist eine Illusion zu glauben, Solidarität zwischen den Deutschen ließe sich par ordre du mufti wiederherstellen. Die Ausweitung der Ansprüche auf Sozialhilfe, Kindergeld und Altersrente mögen gut gemeint sein und Stimmen bringen, aber sie werden weder das Gemeinschaftsgefühl noch den Patriotismus stärken.
Im Gegenteil. Vielmehr wird sich die Klasse derjenigen, die ganz oder teilweise vom Staat abhängig sind, durch diese Maßnahmen vergrößern. Das Verantwortungsgefühl für die eigene Gemeinde, die eigene Familie und letztlich auch für die eigene Person nimmt ab, wenn der Staat die Verantwortung für die Wohlfahrt seiner Bürger übernimmt. Wenn Bürger einklagbare Rechte auf höhere Sozialleistungen erhalten, haben sie selber und alle Personen und Institutionen in ihrer Umgebung automatisch weniger Verantwortung zu tragen, übrigens auch die Arbeitgeber für ihre Arbeitnehmer.
Mit der Ausweitung des Sozialstaats wird die Proletarisierung der Gesellschaft vorangetrieben, und es ist richtig und wichtig, daß liberale Strömungen auf dieses Problem hinweisen und vor den negativen Folgen der Sozialpolitik warnen, insbesondere vor der Aufzehrung der Selbständigkeit und des Verantwortungsgefühls der unteren Schichten.
Den Balken in ihrem eigenen Auge sehen die Liberalen jedoch nicht. Daß unser Wirtschaftssystem nämlich auf der anderen Seite den Reichen und Mächtigen die Verantwortung im großen Stil abnimmt, scheinen sie zu vergessen. Nicht umsonst habe ich diesen Artikel mit dem Hinweis auf die französische Rechtsform der „Gesellschaft mit beschränkter Verantwortung“ eröffnet. Unsere Finanzmärkte leben geradezu davon, daß es die Unternehmensformen der Aktiengesellschaft, der GmbH, der Limited usw. gibt, daß Investoren also die Möglichkeit haben, ihre Verantwortung zu beschränken.
Die vielbeschworene Effizienz der internationalen Kapitalmärkte beruht darauf, daß es in unserer Marktwirtschaft die Möglichkeit gibt, Unternehmen zu gründen, die das Risiko und die Verantwortung, die ihre „Eigentümer“ zu tragen haben, auf ein Minimum reduzieren. Müßten Anleger mit ihrem Privatvermögen für die Schulden der Unternehmen haften, in die sie investiert haben – so wie das jeder Einzelunternehmer machen muß – würden die anonymen, weltweiten Kapitalströme wenn nicht versiegen, so doch deutlich an Dynamik verlieren. Nur durch die Eliminierung der Verantwortung ist es möglich, heute hier und morgen dort zu investieren, ohne sich über mehr Gedanken zu machen als Eigenkapitalrendite und „Shareholder Value“.
In den letzten Jahren kam verschlimmernd hinzu, daß die Verantwortung der Akteure des Finanzsystems zusätzlich dadurch beschränkt wurde, daß die großen Unternehmen und Banken im Falle eines allgemeinen Zusammenbruchs durch massive Interventionen der Zentralbanken und der Staaten vor den Folgen ihrer verantwortungslosen Investitionspolitik gerettet werden. Kurz: Die Institutionen der realexistierenden Marktwirtschaft sind so beschaffen, daß die Gewinne privatisiert, die Verluste hingegen sozialisiert werden.
Der soziale Flügel hat recht, wenn er die liberal argumentierenden Konservativen dafür kritisiert, auf diesen realexistierenden Markt zu bauen und ihn sogar stärken zu wollen. Der liberale Flügel täte gut daran, sich die Warnungen der intellektuellen Väter des deutschen Wirtschaftswunders zu Gemüte zu führen. Alexander Rüstow, Wilhelm Röpke, Walter Eucken, Franz Böhm, Leonhard Miksch – alle warnten sie eindringlich davor, die Möglichkeit der Haftungsbeschränkung allgemein zugänglich zu machen und in den Dienst des Profitinteresses zu stellen. Denn eine Marktwirtschaft, in der die Verantwortung vom Eigentum getrennt ist, ist eben keine funktionierende Marktwirtschaft. Sie wird pervertieren, sie wird zu Monopolen, Kartellen und Trusts führen und die Spaltung der Gesellschaft in Reiche und Arme, Mächtige und Ohnmächtige vertiefen.
Wenn in der gegebenen Situation vom liberalen Flügel der AfD zum Beispiel der Vorschlag gemacht wird, die Alterssicherung der Deutschen zu privatisieren und den internationalen Kapitalmärkten anheimzustellen, ist das absolut widersinnig und im Grunde genommen illiberal. Die Folge wäre ein Transfer der Ersparnisse der Deutschen auf einen im wahrsten Sinne des Wortes verantwortungslosen Markt.
Sowohl die soziale als auch die liberale Seite der Debatte innerhalb des rechten Lagers wäre gut beraten, sich mit dem blinden Fleck ihrer jeweiligen Ideologie auseinanderzusetzen. Beide Seiten haben dabei durchaus Recht mit der Kritik am jeweils anderen. Die Liberalen vertrauen zu sehr auf einen Markt, der in der Realität schon längst nicht mehr dem ihrer Theorie entspricht, und die solidarischen Patrioten wollen mit dem Staat den Bock zum Gärtner machen. Beide arbeiten dabei unbewußt an einer Verringerung der Verantwortung in der Gesellschaft, obwohl sie doch eigentlich das Gegenteil bezwecken.
Bei der Frage, wie man vorzugehen habe, wenn man die Verantwortungslosigkeit in unserer Gesellschaft bekämpfen möchte, scheint es mir unbedingt erforderlich zu sein, daß sich erst die Liberalen bewegen müssen. Es geht nicht an, von den kleinen Leuten zu verlangen, daß sie Verantwortung übernehmen, solange wir in einer Welt leben, in der die dicken Fische ihre Verluste systematisch auf die Allgemeinheit abwälzen können. Das ist zunächst und hauptsächlich ein Gebot der Gerechtigkeit, dann aber auch eine rein taktische Erwägung. Eine liberale Bewegung wird niemals zu demokratischen Mehrheiten gelangen, wenn sie von der Mehrheit der Bürger Opfer fordert, die sie einer reichen Minderheit nicht abverlangt.
Die liberalen Elemente innerhalb des rechten Lagers sollten daran gehen, ihre liberalen Forderungen für mehr Privateigentum und Verantwortung zunächst einmal auf dem Finanzmarkt, d.h. für die Mächtigen und Reichen durchzusetzen. Der dornige Weg der Reform unseres Geldwesens und des Gesellschaftsrechts muß durchschritten werden, ehe man dem kleinen Mann auf der Straße mehr Verantwortung abverlangen kann.
Es wäre ein großer Fehler, sich der Illusion hinzugeben, daß dies eine leichte Aufgabe ist. An unserem Geldsystem rackert sich der Liberalismus seit Jahrzehnten vergeblich ab, und was das Gesellschaftsrecht betrifft, ist den Liberalen noch nicht einmal ansatzweise klar, wie eine verantwortungsvolle Ausgestaltung der Unternehmensformen und des Finanzmarktes aussehen könnte. Hier hat der Liberalismus, der sich so viel auf seine Theorie einbildet, leider auf ganzer Linie versagt. Gerade deswegen ist es wichtig, daß wenigstens die Liberalen innerhalb des konservativen Lagers der Versuchung widerstehen, den wirklich drängenden und schwierigen Problemen auszuweichen.
In jedem Falle muß der Weg des geringeren Widerstandes vermieden werden. Entweder man traut sich an die entscheidenden Reformen heran – dann wird sich auch der einfache Bürger bereit zeigen, sein Scherflein beizutragen und Verantwortung für sich und seine Nächsten zu übernehmen; oder man traut sich nicht heran, aber dann hat man auch den kleinen Mann mit Liberalisierungsforderungen zu verschonen.
qvc1753
Sehr schön aufgedröselt.
Hierzu ein paar Gedanken;
Der gute alte "meene Koopman" der durch die Köpfe Vieler noch geistert, sei es als Firmenpatriarch, sei es als erfolgreicher Tycoon, der ist nur bedingt für die kapitalistische Wirtschaft tauglich.
Bestimmte Unternehmen haben einen riesigen Kapitalbedarf - so war der Eisenbahnbau nur durch Aktiengesellschaften überhaupt realisierbar. Was wiederum Spekulation förderte, die wiederum diverse Crashs.
Ergo wurden alleine durch die Aktiengesellschaften Risiken so zu sagen bereits damals von der breiten Schicht der Aktienbesitzer getragen. Ging es gut, dann gab es satt Renditen, lief es schlecht, dann hatte man sein Geld verloren. Insgesamt hat es aber gigantische Investitionen gemacht, die ein einzelner Unternehmer gar nicht persönlich haftend aufbringen kann.
Dieses System ist heute aber ein sich unfassbar schnell drehendes Karussell von Transaktionen geworden, die den Börsenwert von bestimmten Firmen in unfassbare Höhen treiben. Und einen Bill Gates oder Bezos zu einem Krösus.
Dies vor allem dadurch, das institutionelle Marktteilnehmer immer mehr das Geschehen bestimmen und über ihre Fonds auch Einfluss ausüben.
Auf der anderen Seite haben wir dann den mittelständischen Unternehmer, dem entweder die Rechtsform der GmbH nicht möglich ist (Anwalt, Arzt, Apotheker,) oder der aus anderen Gründen als Einzelkaufmann agiert.
Will man letztere stärken, dann muss man den Mittelstand stärken. Und dem ist es - wirtschaftlich gesehen - vollkommen egal wie "patriotisch" die Sozialpolitik aufgestellt ist. Der ist lokal eingebunden wie auch global und über alle Ländergrenzen hinweg. Man unterschätze nicht die vielen deutschen Firmen, die als "stille Champions" sehr spezifische Marktnischen besetzen und weltweit operieren. Und dennoch im Münsterland oder in Schwaben ihre Zentrale haben.
Warum soll eine Firma Wanzl (Weltmarktführer für Einkaufswagen) bspw. nicht international agieren ? Und dennoch nicht lokal verwurzelt sein?
Diese gilt es zu stärken, denn die sind überwiegend in ihren Heimatregionen geblieben. Wer aber lokal verwurzelt ist, der ist normalerweise anders unterwegs als Amazon oder Apple.
Der Liberalismus versagt an dieser Stelle nach meiner Ansicht nicht, er setzt falsche Prioritäten. Nicht Amazon muss gestärkt werden, sondern der Mittelstand.
Gerade jetzt in der Coronakrise zeigt sich nämlich, das die Unternehmen, die lokal verankert sind, im Besitz von Einzelkaufleuten oder persönlich haftenden Geschäftsführern eben auch diejenigen sind, die verantwortlich gegenüber ihren Mitarbeiter agieren.
Irgendwelche vaterländischen Appelle sind da nicht das Kriterium. Wer Kaufmann ist oder kaufmännisch rechnen muss, der blickt zunächst auf seine Zahlen: es muss sich erst einmal alles rechnen.
Umgekehrt kann ich aber mit einer solchen Wirtschaftspolitik auch nur einen Teil des Wohlstandes erwirtschaften. Internationale Großkonzerne wird es daher weiter noch brauchen.
Warum aber bspw. Amazon lieber von Luxembourg als von Deutschland aus seine Rechnungen verschickt, das weist darauf hin, das eine vertiefte europäische Integration und Harmonisierung von Steuern durchaus Sinn macht. Dann kann nämlich der international agierende die rein national agierenden nicht mehr gegeneinander ausspielen.