Wer gehört zu uns?

PDF der Druckfassung aus Sezession 88/Februar 2019

Caroline Sommerfeld

Caroline Sommerfeld ist promovierte Philosophin und dreifache Mutter.

Wer gehört zu uns? Die­se Fra­ge zu stel­len, führt unwei­ger­lich zu Unter­stel­lun­gen. Unter­stel­lun­gen lie­gen in der Natur des Ver­ste­hens. Ohne etwas zu unter­stel­len, kann man noch nicht ein­mal den Anfang machen, etwas zu ver­ste­hen. Soweit also erst ein­mal nichts gegen Unter­stel­lun­gen als Arbeitsbasis.

Die hier blitz­schnell gezück­te Unter­stel­lung »Und wer gehört dann nicht zu uns? Und was pas­siert dann mit dem?« könn­te ich vor­schnell abwei­sen, indem ich dem, der sie vor­bringt, mei­ner­seits unter­stel­le, er baue einen Stroh­mann auf (»Rech­te wol­len die homo­ge­ne Volks­ge­mein­schaft von allem eth­nisch Frem­den säu­bern«) oder er fra­ge nur, um Zank und Streit heraufzubeschwören.

Ich kann sie aber auch ernst­neh­men, um mei­ne eige­nen Über­zeu­gun­gen bes­ser ver­ste­hen zu ler­nen. Niklas Luh­mann sprach ein­mal von der »Kul­tur der nicht­über­zeug­ten Ver­stän­di­gung«, die es erst noch zu ent­wi­ckeln gel­te, däch­ten doch alle mög­li­chen Leu­te, Ver­stän­di­gung hie­ße, einer Mei­nung zu sein.

Da die Fra­ge nach der Zuge­hö­rig­keit zu uns alle Deut­schen (und a for­tio­ri natür­lich alle Völ­ker der Erde) etwas angeht, auch die davon Nicht-Über­zeug­ten, die sie gleich abwei­sen oder miß­ver­ste­hen wol­len, muß sie behut­sam geklärt werden.


Ebe­ne 1: Abstam­mungs­deut­scher sein.

Deutsch­sein ist pri­ma facie eine Fra­ge der Abstam­mung. Alles wei­te­re ist kon­train­tui­tiv und daher begrün­dungs­be­dürf­tig. »Deutsch ist, wer deut­sche Eltern hat«, pflegt Götz Kubit­schek zu sagen. Daß jemand auch aus ande­ren Grün­den und auf ande­ren Ebe­nen Deut­scher sein oder wer­den kann, ist selbst­ver­ständ­lich, und des­halb schiebt Kubit­schek den zwei­ten Teil stets hinterher:

Deut­scher kann wer­den, wer die Sache der Deut­schen ohne Wenn und Aber, ganz und gar zu sei­ner eige­nen Sache macht und dies unter Beweis stellt.

Die­se Ergän­zung setzt aber den Kern des Begriffs nicht außer Kraft: Abstam­mungs­deut­scher zu sein liegt nicht in der Macht des Ein­zel­men­schen, da kein Mensch abstam­mungs­sou­ve­rän, son­dern jeder Mensch abstam­mungs­de­ter­mi­niert ist.

Wer auf die­ser ers­ten Ebe­ne nicht zu den Deut­schen gehört, gehört statt­des­sen sei­ner­seits zu einem ande­ren Volk auf die­ser Welt. Es ist daher nicht gehäs­sig, frem­den­feind­lich oder supre­ma­tis­tisch, den meis­ten Men­schen auf Erden das Deutsch­sein abzu­spre­chen, son­dern das simp­le Aner­ken­nen eines Teils ihrer Iden­ti­tät: ihrer eth­ni­schen Abstammung.

Deutsch­land war nie im sel­ben Maße eth­nisch homo­gen wie bei­spiels­wei­se Japan oder Island. Seit von »Deutsch­land« und »Deut­schen« die Rede sein kann, sind Stäm­me und Grup­pen in dama­li­ge oder nach­ma­li­ge deut­sche Lan­de eingewandert.

Es han­del­te sich stets und ste­tig um ter­ri­to­ria­le Nähe­be­zie­hun­gen – wer da wan­der­te, waren alle­samt Euro­pä­er. Doch selbst wenn man an Hun­nen­ein­fäl­le denkt, bleibt ein logi­sches Argu­ment auf­recht: Nur weil es de fac­to kein homo­ge­nes Deutsch­tum gibt und gege­ben hat, läßt sich dar­aus nicht schlie­ßen, daß folg­lich jede Immi­gra­ti­on gerecht­fer­tigt oder gar begrü­ßens­wert wäre.

Weil einst­mals Huge­not­ten oder Polen nach Deutsch­land kamen, heißt das nicht, daß heu­te halb Afri­ka ein­wan­dern dürf­te. Die Abstam­mung ist mit­hin kei­ne Fra­ge von Ras­ser­ein­heit oder eine Fra­ge danach, wel­che Ger­ma­nen­stäm­me es nun wirk­lich gab.

Abstam­mung ist in einem ganz mate­ri­el­len Ver­ständ­nis eine Fra­ge von Gen- und Blut­li­ni­en, in einem umfas­sen­de­ren Ver­ständ­nis jedoch begreift sie auch gro­ße und lan­ge Ver­er­bungs­strän­ge mit ein, die Cha­rak­ter­li­ches und atmo­sphä­risch Typi­sches fortpflanzen.

Max Weber hat das Wort »eth­nisch« in die­sem Sin­ne definiert:

Wir wol­len sol­che Men­schen­grup­pen, wel­che auf Grund von Ähn­lich­kei­ten des äuße­ren Habi­tus oder der Sit­ten oder bei­der oder von Erin­ne­run­gen an Kolo­ni­sa­ti­on und Wan­de­rung einen sub­jek­ti­ven Glau­ben an eine Abstam­mungs­ge­mein­schaft hegen, […] ›eth­ni­sche‹ Grup­pen nen­nen, ganz einer­lei, ob eine Bluts­ge­mein­schaft objek­tiv vor­liegt oder nicht.

(Wirt­schaft und Gesell­schaft, 1922)

Der aus phy­si­scher Ver­er­bung und im weber­schen Sin­ne aus eth­nisch Gemein­sa­mem her­vor­ge­hen­de Phä­no­typ des Deut­schen ist augen­schein­lich. Wie jeder Phä­no­typ hat er unschar­fe Rän­der, birgt Ver­wechs­lungs­mög­lich­kei­ten, kennt Aus­nah­me­erschei­nun­gen und wan­delt sich historisch.

Er ist aber ein­deu­tig nicht mit dem Phä­no­typ eines Schwarz­afri­ka­ners oder eines Korea­ners zu ver­wech­seln. Auch ein Misch­lings­kind ist für gewöhn­lich nicht phä­no­ty­pisch deutsch in Aus­se­hen und Aus­druck. Wenn wir einen ein­zel­nen Schwarz­afri­ka­ner her­neh­men, der nach Deutsch­land kommt, eine Deut­sche hei­ra­tet, mit ihr Kin­der bekommt und sich suk­zes­si­ve mit der deut­schen Volks­see­le ver­bin­det, dann nähern sich sei­ne Kin­der und Kin­des­kin­der ihrer­seits schritt­wei­se dem Abstam­mungs­deutsch­tum an und wer­den so auch leib­li­che Tei­le des Vol­kes, somit jenes Volks­kör­pers, aus wel­chem wie­der­um abstam­mungs­deut­sche Aszen­denz mög­lich wird.

Daß es Frem­de, Ein­ge­bür­ger­te und Misch­lin­ge gibt, denen es mit­un­ter viel bes­ser als den meis­ten Deut­schen gelingt, für Deutsch­land ein­zu­ste­hen, greift die­sen Volks­kör­per nicht an, son­dern bekräf­tigt und kräf­tigt ihn sogar. Womög­lich erregt die Rede vom »Volks­kör­per« Befrem­den und es stel­len sich auf der schie­fen Bahn, hin­ab in das Lieb­lings­as­so­zia­tio­nen­re­ser­voir der Deut­schen, Kurz­schlüs­se ein.

Völ­ker als Orga­nis­men zu betrach­ten, ent­stammt einer Denk­tra­di­ti­on des 18. Jahr­hun­derts, die sich am bes­ten als Aus­drucks-Anthro­po­lo­gie bezeich­nen läßt. Jedes Ein­zel­ne, ob Indi­vi­du­um oder Fami­lie – oder eben Volk –, ist auch als phy­si­sche Gestalt ein spe­zi­fi­scher Aus­druck sei­nes Wesens, sei­ner »spe­zi­fi­schen Natur« (Lor­raine Daston).

Es hat Kör­per und See­le und Geist, die je eigen und je eigen­ar­tig beschaf­fen sind. Johann Gott­fried Her­der hat die­sen Gedan­ken am deut­lichs­ten aus­ge­führt. Von dem, was heu­te mit dem Schlag­wort »Bio­lo­gis­mus« geschmäht wird, fin­det sich dar­in kei­ne Spur, statt­des­sen Spu­ren­man­nig­fal­tig­keit in Rich­tung geis­ti­ger Individualität:

Es war Her­der und die von ihm ent­wi­ckel­te Aus­drucks-Anthro­po­lo­gie, wel­che die epo­che­ma­chen­de For­de­rung hin­zu­füg­te, daß die Rea­li­sie­rung mei­nes mensch­li­chen Wesens mei­ne eige­ne sei, und das brach­te die Vor­stel­lung in Gang, daß jedes Indi­vi­du­um (in Her­ders Ver­wen­dung: jedes Volk) auf sei­ne eige­ne Art mensch­lich ist, die es nicht mit der Art irgend­ei­nes ande­ren Indi­vi­du­ums ver­tau­schen kann – es sei denn auf Kos­ten einer gewalt­sa­men Ver­zer­rung oder einer Selbstverstümmelung.

(Charles Tay­lor, Hegel, 1978)


Ebe­ne 2: Paß­deut­scher sein.

Ein­bür­ge­rung macht den Begriff des deut­schen Vol­kes nicht bedeu­tungs­leer, wie die Mehr­heit der heu­ti­gen Deut­schen zu mei­nen beliebt. Daß ein Fünf­tel der deut­schen Bevöl­ke­rung einen Migra­ti­ons­hin­ter­grund hat, führt noch lan­ge nicht dazu, das deut­sche Volk als Kate­go­rie auf­ge­ben zu müssen.

Der Paß­deut­sche ist und bleibt vom Abstam­mungs­deut­schen unter­scheid­bar, auch wenn er in einem ganz bestimm­ten Sin­ne des Wor­tes eben­falls »Deut­scher« genannt wer­den muß. Es ist nicht wün­schens­wert, daß in Zukunft nur mehr die­ser eine Wort­sinn, Paß­deut­scher, exis­tie­ren sollte.

Paß­deut­scher zu sein, ist Resul­tat eines rei­nen Ver­wal­tungs­akts, der nie­man­den mit Deutsch­land ver­bin­det, son­dern ihn ledig­lich in das Sozi­al­sys­tem inte­griert und mit gewis­sen Rech­ten und Pflich­ten aus­stat­tet. Aus die­sem Grun­de ist die Gefahr, die in der »lin­gu­is­ti­schen The­ra­pie« (Her­bert Mar­cu­se) des Wor­tes »deutsch« durch Sin­n­am­pu­ta­ti­on liegt, auch so groß.

Schnei­det man den leib­li­chen und den see­li­schen Bedeu­tungs­teil des Wor­tes ab, und behält nur den for­ma­len bei, stat­tet ihn aber als Pro­the­se mit Ersatz­funk­tio­nen aus, muß man dem Trä­ger glaub­haft ver­si­chern, er hät­te alles, was ein Mensch braucht, und sei­ne Mit­men­schen (selbst die, die noch intak­te Vital­funk­tio­nen haben) bräuch­ten auch nichts, als die­se künst­li­chen Behelfe.

Ein­ge­wan­der­te Paß­deut­sche lei­den mit­un­ter an fürch­ter­li­chen Phan­tom­schmer­zen. Es ist ein see­li­sches Lei­den, Volks­see­len­schmerz. Die Abstam­mungs­deut­schen trös­ten sich mit dem Sur­ro­gat des Grund­ge­set­zes über das Feh­len geis­ti­ger Iden­ti­tät hinweg.

Manch böser Abwehr­kampf und Volks­tod­wunsch hat sei­ne Ursa­che in die­ser Sin­n­am­pu­ta­ti­on. Das Volk der Deut­schen lebt zu gro­ßen Tei­len auf dem Ter­ri­to­ri­um der Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land. Das Grund­ge­setz sieht zumin­dest fik­tiv eine Dop­pel­de­fi­ni­ti­on des deut­schen Vol­kes vor, bestehend aus ius solis (Ter­ri­to­ri­al­prin­zip) und ius san­gui­nis (Abstam­mungs­prin­zip).

Deutsch­land gehört zu den­je­ni­gen Staa­ten, die das Abstam­mungs­prin­zip bei der Ver­ga­be der Staats­bür­ger­schaft mit zugrun­de legen – »fik­tiv«, weil es sich beim Grund­ge­setz nicht um eine vom Volk sich selbst gege­be­ne Ver­fas­sung han­delt und man daher das his­to­risch exis­tie­ren­de Volk des Jah­res 1949 als Sou­ve­rän nur als Tat­sa­chen­fik­ti­on vor­aus­set­zen kann.

Nichts­des­to­we­ni­ger muß man aber davon aus­ge­hen, daß die Deut­schen in den 1940er Jah­ren en gros abstam­mungs­mä­ßi­ge Deut­sche und die Ver­trie­be­nen und Ost­zo­nen­deut­schen jener Jah­re expli­zit mit­ge­meint waren. Als Völ­ker­rechts­sub­jekt ist Deutsch­land wie jedes Land auf ein Volk angewiesen.

Das »Selbst­be­stim­mungs­recht der Völ­ker« bedeu­tet nicht, daß Popu­la­tio­nen Ter­ri­to­ri­en bevöl­kern, außer in der sowje­ti­schen Völ­ker­rechts­leh­re, die unter »Volk« die jewei­li­ge Bevöl­ke­rung eines bestimm­ten Gebie­tes ver­stand. Erfor­der­lich waren in die­ser Leh­re nur ein gemein­sa­mes Ter­ri­to­ri­um und wei­te­re Gemein­sam­kei­ten geschicht­li­cher, kul­tu­rel­ler, sprach­li­cher und reli­giö­ser Art sowie die Ver­bin­dung durch gemein­sa­me Zie­le, die sie (zir­ku­lär) mit Hil­fe des Selbst­be­stim­mungs­rech­tes zu errei­chen anstrebte.

Es steht zu befürch­ten, daß der gegen­wär­ti­gen Umde­fi­ni­ti­on des Volks­be­griffs sowje­ti­sche Begriff­lich­kei­ten und ent­spre­chen­de Zie­le zugrun­de­lie­gen. Frank Böckel­mann bringt das Para­dox des Paß­deut­schen in der Herbst­aus­ga­be 2018 der Zeit­schrift Tumult auf den Punkt, wenn er fragt:

Wie denn? – am Ende schrie­be ein Grund­ge­setz aus den spä­ten vier­zi­ger Jah­ren für den Fall der Ein­wan­de­rung von Aber­mil­lio­nen ins deut­sche Asyl die Selbst­auf­op­fe­rung des Staa­tes vor? Ver­hiel­te es sich wirk­lich so, wäre es höchs­te Zeit für eine Ver­fas­sung von Deut­schen für Deutsche.

Exo­ge­ne Mas­sen nach Deutsch­land Ver­scho­be­ner zer­stö­ren die semi­per­meable Mem­bran des Volks­or­ga­nis­mus – wie eine Zell­wand ist er in einer Rich­tung durch­läs­sig. Wenn es auf die­ser Ebe­ne quan­ti­ta­tiv um den Abstam­mungs­deut­schen­er­halt gin­ge, müß­ten grö­ße­re Zah­len von Aus­län­dern wie­der in ihre Hei­mat, im Fal­le hei­matz­witt­ri­ger Zweit- und Dritt­ge­ne­ra­tio­nen in die ihrer Vor­vä­ter zurückkehren.

Doch wie dies bewerk­stel­li­gen? Nur den sta­tus quo zu kon­ser­vie­ren und nie­man­den los­zu­wer­den – oder nur Ille­ga­le und Kri­mi­nel­le –, besie­gelt bereits das demo­gra­phi­sche Ende der Abstam­mungs­deut­schen auf­grund der Ver­schub­mas­sen: »Nun sind sie halt da« (Ange­la Merkel).

Doch auf genau die­ser Ebe­ne des Paß­deut­schen (Ein­bür­ge­rung, Asyl­sta­tus, Dul­dung oder Abschie­bung, Außer­lan­des­schaf­fung, Remi­gra­ti­on usw.) bringt der zu Ende gedach­te Gedan­ke in logi­scher Fol­ge »häß­li­che Bil­der« (Sebas­ti­an Kurz) hervor.

Was ist das häß­li­che­re Bild: der Unter­gang der Deut­schen oder Grenz­an­la­gen und Abschie­be­flug­zeu­ge? Wer glaubt, nur ers­te­res hät­te eine geis­ti­ge Dimen­si­on, der irrt. Wir müs­sen uns voll­kom­men klar sein über die ret­ten­de Sünde.

Iwan Iljin faß­te unse­re Lage in sei­nem Werk Über den gewalt­sa­men Wider­stand gegen das Böse in fol­gen­des Bild:

Der­je­ni­ge, der unter­drückt, steht selbst im Moor, doch ein Fuß ist gegen fes­ten Boden gestützt, und so hilft er den ande­ren, die in das Moor hin­ein­ge­zo­gen wer­den, selbst auf fes­ten Boden zu kom­men, indem er danach strebt, sie zu schüt­zen und zu ret­ten, und er ver­steht, dass er selbst aus dem Moor nicht mehr tro­cken hin­aus­kom­men kann.

Sün­den­sou­ve­rä­ni­tät wäre der Flucht­punkt die­ses Gedan­kens, den vor dem Zynis­mus zu bewah­ren eine exis­ten­zi­ell kaum zu bewäl­ti­gen­de Auf­ga­be ist.


Ebe­ne 3: Volks­see­len­deut­scher sein.

In einem Vor­trag in Düs­sel­dorf äußer­te Rudolf Stei­ner im April 1909 Gedan­ken über das Pro­blem der Wahr­neh­mungs­un­fä­hig­keit in Bezug auf die geis­ti­ge Sub­stanz eines Volkes:

Auf irgend­ei­nem Ter­ri­to­ri­um, mei­net­wil­len in Deutsch­land oder Frank­reich oder Ita­li­en, leben so und so vie­le Men­schen, und weil die sinn­li­chen Augen nur so und so vie­le Men­schen als äuße­re Gestal­ten sehen, so kön­nen sich sol­che Abs­trakt­lin­ge das, was man Volks­geist oder Volks­see­le nennt, nur wie eine bloß begriff­li­che Zusam­men­fas­sung des Vol­kes vor­stel­len. Wirk­lich real ist für sie nur der ein­zel­ne Mensch, nicht die Volks­see­le, nicht der Volksgeist.

Die meis­ten Deut­schen sind heu­te sol­che »Abs­trakt­lin­ge«, sie zäh­len die Köp­fe der Bevöl­ke­rung zum Zwe­cke demo­gra­phi­scher Addi­ti­ons- und Sub­trak­ti­ons­expe­ri­men­te. Des­we­gen ent­geht ihrer Wahr­neh­mung auch Deutsch­lands geis­ti­ge Zukunftsperspektive.

»Die Deutsch­heit liegt nicht hin­ter uns, son­dern vor uns«, schrieb Fried­rich Schle­gel. Die Zukunft, die wir anstre­ben, bedarf einer anknüp­fungs­fä­hi­gen Her­kunft. Eine Ansamm­lung von allen­falls ver­fas­sungs­pa­trio­ti­schen »Werte«-Paßdeutschen zehr­te nur gerau­me Zeit – in Abwand­lung von Böcken­för­des Dik­tum über den säku­la­ren Staat – von der eth­ni­schen Substanz.

Wenn wir auf die­se Art und Wei­se auf Deutsch­land schau­en, wird aller­dings eines klar: Eine Men­ge Abstam­mungs­deut­scher und ihnen zuge­zähl­ter Paß­deut­scher haben kei­nen Anteil an irgend­ei­ner Form geis­ti­gen oder auch nur see­li­schen Deutschseins.

Wer nach Deutsch­land ein­wan­dert, um Paß­deut­scher zu wer­den, jedoch nur die Vor­tei­le die­ses Sta­tus abgrei­fen will, ohne für die Volks­see­le auch nur ein Fünk­chen Gespür zu haben, ist folg­lich genau­so wie Inlän­der mit ver­gleich­ba­rer Geis­tes­ver­fas­sung ein Fremdkörperdeutscher:

Das posi­ti­ve Ein­tre­ten für das, was das Wesen eines Vol­kes ist, bedeu­tet im Grun­de nichts ande­res als das, was sich ver­glei­chen läßt in dem indi­vi­du­el­len Bewußt­sein mit der Tat­sa­che, daß man ja nur für sei­nen eige­nen Kör­per sor­gen kann, daß er mög­lichst in Ord­nung ist, und nicht in der­sel­ben Wei­se für einen ande­ren Körper.

(Rudolf Stei­ner, Vor­trag im Dezem­ber 1914)

Die­ses Feh­len geis­ti­ger Iden­ti­tät ist am Ende die größ­te Schwä­che, unter der wir momen­tan lei­den, und es wirkt über­dies auf die phy­si­sche Sub­stanz zurück. Die »Selb­st­ab­dan­kung ihres eins­ti­gen geis­ti­gen Prin­zips« (Oswald Speng­ler) wirkt auch auf Frucht­bar­keit und Wehrkraft.

Für sei­nen eige­nen Kör­per sor­gen zu kön­nen, ist eine kom­ple­xe Fähig­keit: In die­sem Sin­ne »Volks­deut­scher« zu sein, der wahr­haf­tig Teil sei­nes Vol­kes ist, impli­ziert dann auch die Not­wen­dig­keit ästhe­ti­scher und mora­li­scher Selbst­er­zie­hung, eines Sich-Aus­rich­tens, Sich-Aufrichtens.

Denn von der Volks­see­le ist man als Ein­zel­ner nicht nur über­wölbt und durch­zo­gen. Was ist der Unter­schied zwi­schen Volks­see­len­deut­schen und Abstam­mungs­deut­schen, die ihr Volk igno­rie­ren oder ver­ach­ten? Ers­te­re haben die See­le noch­mal eigens ergriffen.

Genau­so wie man sagen kann: die Kul­tur ist tot, es lebe die Kul­tur, weil sie in jedem Moment neu ergrif­fen und wie­der­auf­ge­rich­tet wer­den muß, kann man auch sagen: die Volks­see­le erstirbt in jedem Moment, es sei denn, sie wird stets von neu­em wiederbelebt.

Inso­fern stellt Jost Bauch in der speng­le­ria­ni­schen Schluß­pas­sa­ge sei­nes Abschieds von Deutsch­land (2018) eine wah­re Dia­gno­se, die aber nicht die gan­ze Wahr­heit ist. Völ­ker gehen unter, gei­ßeln sich zu Tode, das kam schon öfters vor – die his­to­ri­sche (demo­gra­phi­sche, poli­ti­sche, sozio­lo­gi­sche) Per­spek­ti­ve legt dies auch für Deutsch­land drin­gend nahe.

Es gibt, wie es im zehn­ten Band des Gro­ßen Her­der (= 5. Auf­la­ge von Her­ders Kon­ver­sa­ti­ons­le­xi­kon) aus dem Jahr 1953 heißt, »jenen Zustand in der Geschich­te, wo sich so viel sitt­li­ches und poli­tisch-geis­ti­ges Ver­sa­gen seit Gene­ra­tio­nen ange­häuft hat, daß die Kul­tur gleich­sam selbst erkrankt und der Unter­gang nicht mehr auf­zu­hal­ten ist.«

Womög­lich müs­sen wir uns genau des­halb der oben beschrie­be­nen ret­ten­den Sün­de ent­schla­gen. In eben­die­sem Band, der als Son­der­aus­ga­be par­al­lel auch unter dem Titel Her­ders Bil­dungs­buch – Der Mensch in sei­ner Welt erschie­nen ist, geht es an der Stel­le weiter:

Doch nie hat der Mensch ein Recht, dies von sei­ner Gegen­wart zu behaup­ten. Immer muß er, auch wenn ihm der Unter­gang unauf­halt­sam scheint, aus der Über­zeu­gung han­deln, daß Gott sei­nen auf­hal­ten­den Wider­stand erwar­tet. Wer ihn ver­wei­gert, will anma­ßend über den Ver­lauf der Geschich­te ver­fü­gen. In einer sol­chen Unter­gangs­zeit aber erweist sich der tie­fe Unter­schied zwi­schen dem Men­schen als einem per­sön­li­chen geschicht­li­chen Wesen und dem geschicht­li­chen Zusam­men­hang einer Kultur.

Eine Kul­tur mag letzt­lich unrett­bar sein, aber nie ist der Ein­zel­ne unrett­bar. Ihm kann gera­de aus dem geschicht­li­chen Unter­gang der Anspruch sei­nes per­sön­lich-geschicht­li­chen Augen­blicks erwach­sen, die Mög­lich­keit, nun ganz er selbst zu sein, sich nicht trei­ben zu las­sen von den raum­zeit­lich beding­ten Gege­ben­hei­ten, son­dern sie in sei­ne Ver­fü­gung zu neh­men und dadurch dem ihm gera­de so gestell­ten Anspruch Got­tes in der Zeit gerecht zu wer­den. Sol­che Men­schen sind es dann auch, die über einen Unter­gang hin­weg in ein neu­es Zeit­al­ter hinüberwirken.

Sol­che Men­schen gehö­ren zu uns, unter ihnen fin­den sich gewiß auch deutsch­land­ver­eh­ren­de Abstam­mungsara­ber oder jun­ge chi­ne­si­sche, mit der Ein­ver­lei­bung der von ihnen ver­ehr­ten frem­den See­le befaß­te Pia­nis­tin­nen. Es han­delt sich – allein dem Anspruch nach – um eine kal­ten­brun­ner­sche Eli­te, nicht um ein Mas­sen­phä­no­men, geschwei­ge denn ein per Agen­da her­bei­führ­ba­res, geschicht­lich ver­füg­ba­res Phä­no­men, und auch nicht um einen abprüf­ba­ren »Wer­te­ka­non«.

Die unte­re Ebe­ne, die Abstam­mung, bil­det das Sub­strat, in dem die obe­ren Ebe­nen wur­zeln kön­nen. Das Sub­strat muß satt blei­ben und darf nicht aus­ge­zehrt wer­den. Wir müs­sen daher acht­ge­ben, daß nichts, auch nichts Phy­si­sches, davon ver­lo­ren geht, des­sen das zukünf­ti­ge Deutsch­tum bedarf, um sich hier­aus kon­ti­nu­ier­lich wei­ter ent­fal­ten zu können.

Abstam­mungs­deut­sche wer­den dazu drin­gend benö­tigt. In ihnen ist auf­ge­ho­ben, wor­aus sich das Deut­sche über­haupt spei­sen kann, weil am Lei­be die See­le fest­hängt. Die mitt­le­re, »poli­tisch-kon­struk­ti­vis­ti­sche« (J. Bauch) Ebe­ne ist die fra­gils­te, eben wegen ihrer Ideologieanfälligkeit.

Auf sie kann man nicht bau­en, doch auf ihr fin­den die sicht­ba­ren Sor­tie­rungs­leis­tun­gen statt. Die ein­gangs unter­stell­te Fra­ge, was denn mit den Nicht­zu­ge­hö­ri­gen pas­sie­ren sol­le, wird auf die­ser Ebe­ne poli­tisch ent­schie­den. Meta­po­li­tisch lie­gen ihr stets die unte­re Ebe­ne und die ihr über­ge­ord­ne­te zugrun­de und wir­ken auf sie ein.

Wer ent­schei­det, muß folg­lich wis­sen, wel­chen Eigen­wert die Exis­tenz Abstam­mungs­deut­scher hat, und wor­auf Deutsch­lands geis­ti­ge Zukunft weist: es als Ein­zel­ner in sei­ne Ver­fü­gung zu nehmen.

Wer es dabei ver­sucht, Deutsch­land als Orga­nis­mus zu den­ken, wird beob­ach­ten, daß die­ser sowohl selbst­ge­bil­de­te geis­ti­ge als auch ein­ge­pflanz­te leib­li­che Fremd­kör­per ver­kraf­ten kann, aber nicht die Auf­lö­sung der Sys­tem­gren­ze Organismus/Welt.

Caroline Sommerfeld

Caroline Sommerfeld ist promovierte Philosophin und dreifache Mutter.

Nichts schreibt sich
von allein!

Das Blog der Zeitschrift Sezession ist die wichtigste rechtsintellektuelle Stimme im Netz. Es lebt vom Fleiß, von der Lesewut und von der Sprachkraft seiner Autoren. Wenn Sie diesen Federn Zeit und Ruhe verschaffen möchten, können Sie das mit einem Betrag Ihrer Wahl tun.

Sezession
DE58 8005 3762 1894 1405 98
NOLADE21HAL

Kommentare (0)