Volksgesichter

von Christopher Webster
PDF der Druckfassung aus Sezession 88/Februar 2019

Wer sind wir? Wor­in besteht unse­re Iden­ti­tät? Was ver­bin­det uns mit einer Grup­pe? Was bin­det uns an die­se und kei­ne ande­re Gemein­schaft? Was macht uns zu denen, die wir sind? Die Fra­ge nach der Iden­ti­tät hat sich, ange­sichts des sich immer wei­ter ver­schär­fen­den neo­glo­ba­lis­ti­schen »Aben­teu­ers« des 21. Jahr­hun­derts, ein­mal mehr als die bedeu­tends­te meta­po­li­ti­sche Fra­ge unse­rer Zeit erwiesen.

Im frü­hen 20. Jahr­hun­dert stell­te sich deut­schen Pho­to­gra­phen die­sel­be Fra­ge – und damit auch jenen, an die sich ihre Arbeit rich­te­te: ihre Lands­leu­te. Das Werk, das sie her­vor­brach­ten, war der Aus­druck einer ein­zig­ar­ti­gen Zeit, in der neue Ideen im Zuge der Kata­stro­phe des Ers­ten Welt­kriegs dar­um ran­gen, sich durchzusetzen.

Die drei hier reprä­sen­tier­ten und im unge­fäh­ren Sin­ne »völ­ki­schen« Pho­to­gra­phen Hans Retzlaff (1902–1965), Erich Retzlaff (1899–1993) und Hans Sae­bens (1895–1969) sind in zahl­rei­chen deut­schen Insti­tu­tio­nen ver­tre­ten, aber umfang­rei­che Samm­lun­gen ihrer Wer­ke sind den­noch selten.

Hans Retzlaffs Arbei­ten wur­den vom Tübin­ger Insti­tut für Volks­kun­de (1934–1945) gesam­melt, und die­se Hin­ter­las­sen­schaft wur­de vom Lud­wig-Uhland-Insti­tut für Empi­ri­sche Kul­tur­wis­sen­schaft über­nom­men, das ich 2016 aufsuchte.

Am 20. März 2017 zer­stör­te ein ver­hee­ren­des, durch Brand­stif­tung ver­ur­sach­tes Feu­er lei­der einen gro­ßen Teil des 85 Jah­re alten Insti­tutar­chivs. Hans Retzlaffs Samm­lung über­stand den Brand nur durch Zufall, da ich sie 2016 zum Aus­stel­lungs­pro­jekt gezählt hat­te und die Dru­cke, bevor das Feu­er aus­brach, noch nicht ins Archiv zurück­ge­bracht waren.

Sowohl Hans Retzlaff als auch sein mit ihm nicht ver­wand­ter Namens­vet­ter Erich Retzlaff haben einen Groß­teil ihrer Dru­cke, Nega­ti­ve und Dia-Samm­lun­gen im Feu­er­sturm des Flä­chen­bom­bar­de­ments Ber­lins durch die Alli­ier­ten wäh­rend des Zwei­ten Welt­kriegs verloren.

Hans Sae­bens’ Werk befin­det sich größ­ten­teils im Hans Sae­bens Archiv in Worps­we­de sowie im Focke Muse­um in Bre­men. Ich konn­te es erfor­schen und ergän­zen, und es ist inso­fern ein­zig­ar­tig, als ein beson­de­res Schwer­ge­wicht auf Sae­bens’ phy­sio­gno­mi­sche Dar­stel­lung der Deut­schen gelegt wird.

Die Macht der Pho­to­gra­phie, die öffent­li­che Mei­nung zu prä­gen und anzu­lei­ten sowie die Inter­pre­ta­ti­on von Infor­ma­tio­nen und Ideen zu beein­flus­sen, ist gut doku­men­tiert. Gleich­wohl sind eine reflek­tier­te visu­el­le Bil­dung, ein infor­ma­ti­ons­ge­sät­tig­tes Ver­ständ­nis und ein Bewußt­sein für den Ein­fluß, den die kon­ti­nu­ier­li­che Wir­kung eines Bil­des aus­üben kann, immer noch, selbst in unse­rer zuneh­mend von Bil­dern über­sät­tig­ten Kul­tur, bemer­kens­wert unüblich.

Es ist daher erwäh­nens­wer­ter, daß mitt­ler­wei­le mehr als acht­zig Jah­re ver­gan­gen sind, seit das natio­nal­so­zia­lis­ti­sche Regime begann, sich des Poten­ti­als der auf­stre­ben­den Mas­sen­kom­mu­ni­ka­ti­ons­me­di­en – des Radi­os und des Kinos, der Print­me­di­en, der Pho­to­gra­phie und sogar des neu auf­kom­men­den Fern­se­hens – für sei­ne Bemü­hun­gen zu bedie­nen, die herr­schen­den Nar­ra­ti­ve zu len­ken und der Welt sowie durch­aus auch dem eige­nen Volk ein ande­res Gesicht Deutsch­lands zu präsentieren.

Das Regime sah das Macht­po­ten­ti­al der Pho­to­gra­phie, Welt­an­schau­un­gen zu for­men oder – umge­kehrt – herr­schen­de Gel­tun­gen in Fra­ge zu stel­len, vor­aus. Gemäß dem heu­ti­gen Sprach­ge­brauch for­mu­liert, hat­te das Regime schnell die Über­zeu­gungs­kraft des visu­el­len Memes erfaßt.

Die Olym­pi­schen Spie­le von 1936 in Ber­lin waren dafür ein Para­de­bei­spiel und letzt­lich ein pro­pa­gan­dis­ti­scher Tri­umph, der die inter­na­tio­na­le Kon­tro­ver­se über die im Sep­tem­ber des Vor­jah­res ange­kün­dig­ten Nürn­ber­ger Geset­ze zum Teil verdrängte.

Das Radio und neu­ar­ti­ge Fern­seh­be­rich­te, erst­mals insze­nier­te Ereig­nis­se wie der olym­pi­sche Fackel­lauf, spek­ta­ku­lä­re pho­to­gra­phi­sche Bei­la­gen in Zeit­schrif­ten, ein inter­na­tio­nal geprie­se­ner Film von Leni Rie­fen­stahl und die vor­über­ge­hen­de Mäßi­gung offe­ner Repres­si­on gegen­über Juden – all das trug zu der Ent­wick­lung eines Bil­des von Hit­ler als belieb­tem Staats­mann bei, der Deutsch­land in die rich­ti­ge Rich­tung führe.

Die Ästhe­tik der natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Pro­pa­gan­da­pho­to­gra­phie war, eben­so wie die Bil­der­welt der moder­nen Wer­bung, Teil einer über­wäl­ti­gen­den, alles durch­drin­gen­den Umgangs­spra­che. Alle drei hier vor­ge­stell­ten Pho­to­gra­phen – Hans Retzlaff, Erich Retzlaff und Hans Sae­bens – brach­ten Wer­ke her­vor, die Teil die­ses Vor­sto­ßes wur­den, zeit­ge­nös­si­sche Medi­en für den Dienst am Staa­te nutz­bar zu machen.

Ihre Rol­le war exem­pla­risch für eine ästhe­ti­sche und meta­phy­si­sche Ant­wort der Pho­to­gra­phie auf ein wahr­ge­nom­me­nes »Ras­sen­schick­sal«. Die Arbei­ten die­ser Pho­to­gra­phen wur­den zu einer Art macht­vol­ler Über­set­zungs­pro­pa­gan­da. Die hier behan­del­ten spe­zi­fi­schen Wer­ke waren äußerst kunst­fer­tig ange­fer­tigt und kon­tex­tua­li­siert, um »kon­su­miert« zu wer­den und dabei der Freu­de und Iden­ti­fi­ka­ti­on zu dienen.

Eben­so ent­schei­dend ist die Tat­sa­che, daß ihre Arbei­ten gewöhn­lich nicht expli­zit ideo­lo­gisch aus­ge­rich­tet waren (also oft­mals kei­ne Fah­nen, Flag­gen, Abzei­chen oder Uni­for­men ent­hiel­ten), aber impli­zit eine Ideo­lo­gie trans­por­tier­ten. Der gewünsch­te Betrach­ter konn­te die­se »les­ba­ren« Pho­to­gra­phien prü­fen und sei­nen per­sön­li­chen Ort in der natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Volks­ge­mein­schaft mit ihrer Sehn­sucht nach ras­si­scher Homo­ge­ni­tät und einer fest­ge­füg­ten, tra­di­tio­nel­len Hier­ar­chie der Befä­hi­gun­gen erkennen.

Die­se drei ver­hält­nis­mä­ßig wenig bekann­ten Pho­to­gra­phen bevor­zug­ten ähn­li­che The­men und zei­gen in hohem Maße ähn­li­che Moti­ve und Zugangs­wei­sen, inso­fern ihre Arbei­ten am weit­ver­brei­te­ten visu­el­len Nar­ra­tiv einer natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Roman­ti­sie­rung des Land­be­woh­ners und der Hei­mat teilhaben.

Im Deutsch­land der Zwi­schen­kriegs­zeit prak­ti­zier­ten die­se drei Zeit­ge­nos­sen eine Art von Pho­to­gra­phie, die eine Reak­ti­on auf eine Rei­he kul­tu­rel­ler und poli­ti­scher Umstän­de dar­stell­te. Ande­re Pho­to­gra­phin­nen und Pho­to­gra­phen, die auf die­se Wei­se arbei­te­ten, waren Erna Lend­vai­Dirck­sen, Otto Kolar, Hem­ke-Win­terer, Anna Koppitz, Fried­rich Franz Bau­er sowie vie­le wei­te­re Berufs- und Amateurphotographen.

Wie die hier unter­such­ten Pho­to­gra­phen sind die meis­ten von ihnen längst in Ver­ges­sen­heit gera­ten, und ihre Samm­lun­gen sind ent­we­der wäh­rend des Krie­ges zer­stört oder in alle Him­mels­rich­tun­gen ver­streut wor­den. Als frei­schaf­fen­de krea­ti­ve Pho­to­gra­phen waren sie von den Strö­mun­gen der Moder­ne und den Moden ihrer Zeit in Kunst und Pho­to­gra­phie wie dem soge­nann­ten Neu­en Sehen beeinflußt.

Die­ser Ter­mi­nus war in den 1920er Jah­ren auf­ge­kom­men und bezeich­ne­te, neben Begrif­fen wie »Neue Sach­lich­keit«, die neue Pho­to­gra­phie, die danach streb­te, die Kame­ra als Erwei­te­rung des Auges zu fei­ern, und sich oft einer Schär­fe des Blicks, unge­wöhn­li­cher Kame­ra­per­spek­ti­ven und dra­ma­ti­scher Beleuch­tungs­ef­fek­te bediente.

Obwohl die­se Begrif­fe sich nicht unbe­dingt aus­schlie­ßen, ist der Ter­mi­nus »Neu­es Sehen« geeig­net, um den direk­te­ren Ansatz, dem sich die­se Pho­to­gra­phen ange­paßt haben, zu cha­rak­te­ri­sie­ren; er stand in deut­li­chem Gegen­satz zu dem bis­lang modi­schen und im frü­hen 20. Jahr­hun­dert so belieb­ten Pik­to­ra­lis­mus mit sei­nem (häu­fi­gen) Man­gel an einer fokus­sier­ten Lin­sen­ein­stel­lung, sei­nem Ver­zicht auf Expe­ri­men­te bei der Ent­wick­lung und sei­nen male­ri­schen Bildmodifikationen.

Anders als vie­le Künst­ler, die Deutsch­land nach 1933 ver­lie­ßen, wid­me­ten die­se Pho­to­gra­phen ihre Arbeit der Dar­stel­lung der Nati­on, der Suche nach dem Alt­her­ge­brach­ten und letzt­lich einem Stre­ben nach der deut­schen »Ras­sen­see­le«. Sie schu­fen Bil­der, die sti­lis­ti­sche Annä­he­run­gen im Sin­ne des Avant­gar­dis­mus mit »Blut-und-Boden«-Ideologien sowie einer Sen­si­bi­li­tät ver­ban­den, die ihren Gegen­stand als gesund und lebens­kräf­tig dar­stell­te; oft von einem roman­ti­schen Mys­ti­zis­mus sowie einer Nähe zur Erde, zur Schol­le der Ahnen, erfüllt.

Den­noch tre­ten die­se Pho­to­gra­phen in den ver­schie­de­nen Dar­stel­lun­gen der Geschich­te der Pho­to­gra­phie nicht beson­ders her­vor. Wie so vie­le Pho­to­gra­phen, die die­ses Arbeits­ge­biet seit der »Erfin­dung« der Pho­to­gra­phie im Jah­re 1839 bevöl­kern, blie­ben sie allen­falls eine Fußnote.

Dies liegt zum Teil dar­an, daß die Geschich­te die­ses Medi­ums (mit eini­gen bemer­kens­wer­ten Aus­nah­men) von einer rela­tiv klei­nen Zahl ein­fluß­rei­cher Medi­en­his­to­ri­ker, die »den Kanon« defi­nier­ten, in der angel­säch­si­schen Welt aus­ge­formt wurde.

Eben­so ergibt es sich aus der Tat­sa­che, daß die Geschich­te ins­be­son­de­re der deut­schen Pho­to­gra­phie der Vor­kriegs­zeit stark auf jene Pho­to­gra­phen ver­engt wur­de, die den Natio­nal­so­zia­lis­mus ablehn­ten und eine inter­na­tio­na­lis­ti­sche Ver­si­on der pho­to­gra­phi­schen Moder­ne favo­ri­sier­ten, was die Annah­me impli­zier­te, daß Pho­to­gra­phen, die dem Natio­nal­so­zia­lis­mus anhin­gen, irgend­wie »anti­mo­dern«, unbe­gabt und grund­sätz­lich zu ver­ab­scheu­en seien.

Die Grund­hal­tung der Pho­to­gra­phie­ge­schichts­schrei­bung bestand also dar­in, hin­sicht­lich der Zeit vor und nach 1933 zu unter­su­chen, was künst­le­risch ambi­tio­nier­te Pho­to­gra­phen, die Deutsch­land ver­lie­ßen, taten oder was sie, falls sie blie­ben und sich, wie August San­der (1876–1964), der Zen­sur unter­wer­fen muß­ten, nicht mehr tun durften.

Lite­ra­tur über krea­ti­ve oder künst­le­ri­sche Pho­to­gra­phie in Deutsch­land wäh­rend des Drit­ten Rei­ches, ins­be­son­de­re von Autoren, die das Regime unter­stütz­ten oder zumin­dest tole­rier­ten, bleibt bemer­kens­wert sel­ten und behan­delt, sofern es sie über­haupt gibt, Pho­to­gra­phen, die im Natio­nal­so­zia­lis­mus erfolg­reich waren, fast aus­schließ­lich negativ.

Um ein mög­lichst gründ­li­ches Ver­ständ­nis zu gewin­nen, wur­de das Werk die­ser drei Pho­to­gra­phen durch die Lin­se metho­do­lo­gi­scher Empa­thie betrach­tet, d. h. im Sin­ne eines grund­le­gen­den Ansat­zes der Feld­for­schung mit dem Ziel, ein Ver­hal­ten so zu ver­ste­hen, wie es von den unter­such­ten Rezi­pi­en­ten wahr­ge­nom­men wird.

Das vor­lie­gen­de Pro­jekt mar­kiert einen Anfang, und es besteht die Hoff­nung, daß wei­te­re Arbei­ten fol­gen wer­den, in denen die­se pho­to­gra­phi­schen Bestän­de objek­tiv geprüft, ent­schlüs­selt und zugleich als ästhe­ti­sche Gegen­stän­de inner­halb des Kanons der Pho­to­gra­phie des zwan­zigs­ten Jahr­hun­derts gewür­digt wer­den können.

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