Wer sind wir? Worin besteht unsere Identität? Was verbindet uns mit einer Gruppe? Was bindet uns an diese und keine andere Gemeinschaft? Was macht uns zu denen, die wir sind? Die Frage nach der Identität hat sich, angesichts des sich immer weiter verschärfenden neoglobalistischen »Abenteuers« des 21. Jahrhunderts, einmal mehr als die bedeutendste metapolitische Frage unserer Zeit erwiesen.
Im frühen 20. Jahrhundert stellte sich deutschen Photographen dieselbe Frage – und damit auch jenen, an die sich ihre Arbeit richtete: ihre Landsleute. Das Werk, das sie hervorbrachten, war der Ausdruck einer einzigartigen Zeit, in der neue Ideen im Zuge der Katastrophe des Ersten Weltkriegs darum rangen, sich durchzusetzen.
Die drei hier repräsentierten und im ungefähren Sinne »völkischen« Photographen Hans Retzlaff (1902–1965), Erich Retzlaff (1899–1993) und Hans Saebens (1895–1969) sind in zahlreichen deutschen Institutionen vertreten, aber umfangreiche Sammlungen ihrer Werke sind dennoch selten.
Hans Retzlaffs Arbeiten wurden vom Tübinger Institut für Volkskunde (1934–1945) gesammelt, und diese Hinterlassenschaft wurde vom Ludwig-Uhland-Institut für Empirische Kulturwissenschaft übernommen, das ich 2016 aufsuchte.
Am 20. März 2017 zerstörte ein verheerendes, durch Brandstiftung verursachtes Feuer leider einen großen Teil des 85 Jahre alten Institutarchivs. Hans Retzlaffs Sammlung überstand den Brand nur durch Zufall, da ich sie 2016 zum Ausstellungsprojekt gezählt hatte und die Drucke, bevor das Feuer ausbrach, noch nicht ins Archiv zurückgebracht waren.
Sowohl Hans Retzlaff als auch sein mit ihm nicht verwandter Namensvetter Erich Retzlaff haben einen Großteil ihrer Drucke, Negative und Dia-Sammlungen im Feuersturm des Flächenbombardements Berlins durch die Alliierten während des Zweiten Weltkriegs verloren.
Hans Saebens’ Werk befindet sich größtenteils im Hans Saebens Archiv in Worpswede sowie im Focke Museum in Bremen. Ich konnte es erforschen und ergänzen, und es ist insofern einzigartig, als ein besonderes Schwergewicht auf Saebens’ physiognomische Darstellung der Deutschen gelegt wird.
Die Macht der Photographie, die öffentliche Meinung zu prägen und anzuleiten sowie die Interpretation von Informationen und Ideen zu beeinflussen, ist gut dokumentiert. Gleichwohl sind eine reflektierte visuelle Bildung, ein informationsgesättigtes Verständnis und ein Bewußtsein für den Einfluß, den die kontinuierliche Wirkung eines Bildes ausüben kann, immer noch, selbst in unserer zunehmend von Bildern übersättigten Kultur, bemerkenswert unüblich.
Es ist daher erwähnenswerter, daß mittlerweile mehr als achtzig Jahre vergangen sind, seit das nationalsozialistische Regime begann, sich des Potentials der aufstrebenden Massenkommunikationsmedien – des Radios und des Kinos, der Printmedien, der Photographie und sogar des neu aufkommenden Fernsehens – für seine Bemühungen zu bedienen, die herrschenden Narrative zu lenken und der Welt sowie durchaus auch dem eigenen Volk ein anderes Gesicht Deutschlands zu präsentieren.
Das Regime sah das Machtpotential der Photographie, Weltanschauungen zu formen oder – umgekehrt – herrschende Geltungen in Frage zu stellen, voraus. Gemäß dem heutigen Sprachgebrauch formuliert, hatte das Regime schnell die Überzeugungskraft des visuellen Memes erfaßt.
Die Olympischen Spiele von 1936 in Berlin waren dafür ein Paradebeispiel und letztlich ein propagandistischer Triumph, der die internationale Kontroverse über die im September des Vorjahres angekündigten Nürnberger Gesetze zum Teil verdrängte.
Das Radio und neuartige Fernsehberichte, erstmals inszenierte Ereignisse wie der olympische Fackellauf, spektakuläre photographische Beilagen in Zeitschriften, ein international gepriesener Film von Leni Riefenstahl und die vorübergehende Mäßigung offener Repression gegenüber Juden – all das trug zu der Entwicklung eines Bildes von Hitler als beliebtem Staatsmann bei, der Deutschland in die richtige Richtung führe.
Die Ästhetik der nationalsozialistischen Propagandaphotographie war, ebenso wie die Bilderwelt der modernen Werbung, Teil einer überwältigenden, alles durchdringenden Umgangssprache. Alle drei hier vorgestellten Photographen – Hans Retzlaff, Erich Retzlaff und Hans Saebens – brachten Werke hervor, die Teil dieses Vorstoßes wurden, zeitgenössische Medien für den Dienst am Staate nutzbar zu machen.
Ihre Rolle war exemplarisch für eine ästhetische und metaphysische Antwort der Photographie auf ein wahrgenommenes »Rassenschicksal«. Die Arbeiten dieser Photographen wurden zu einer Art machtvoller Übersetzungspropaganda. Die hier behandelten spezifischen Werke waren äußerst kunstfertig angefertigt und kontextualisiert, um »konsumiert« zu werden und dabei der Freude und Identifikation zu dienen.
Ebenso entscheidend ist die Tatsache, daß ihre Arbeiten gewöhnlich nicht explizit ideologisch ausgerichtet waren (also oftmals keine Fahnen, Flaggen, Abzeichen oder Uniformen enthielten), aber implizit eine Ideologie transportierten. Der gewünschte Betrachter konnte diese »lesbaren« Photographien prüfen und seinen persönlichen Ort in der nationalsozialistischen Volksgemeinschaft mit ihrer Sehnsucht nach rassischer Homogenität und einer festgefügten, traditionellen Hierarchie der Befähigungen erkennen.
Diese drei verhältnismäßig wenig bekannten Photographen bevorzugten ähnliche Themen und zeigen in hohem Maße ähnliche Motive und Zugangsweisen, insofern ihre Arbeiten am weitverbreiteten visuellen Narrativ einer nationalsozialistischen Romantisierung des Landbewohners und der Heimat teilhaben.
Im Deutschland der Zwischenkriegszeit praktizierten diese drei Zeitgenossen eine Art von Photographie, die eine Reaktion auf eine Reihe kultureller und politischer Umstände darstellte. Andere Photographinnen und Photographen, die auf diese Weise arbeiteten, waren Erna LendvaiDircksen, Otto Kolar, Hemke-Winterer, Anna Koppitz, Friedrich Franz Bauer sowie viele weitere Berufs- und Amateurphotographen.
Wie die hier untersuchten Photographen sind die meisten von ihnen längst in Vergessenheit geraten, und ihre Sammlungen sind entweder während des Krieges zerstört oder in alle Himmelsrichtungen verstreut worden. Als freischaffende kreative Photographen waren sie von den Strömungen der Moderne und den Moden ihrer Zeit in Kunst und Photographie wie dem sogenannten Neuen Sehen beeinflußt.
Dieser Terminus war in den 1920er Jahren aufgekommen und bezeichnete, neben Begriffen wie »Neue Sachlichkeit«, die neue Photographie, die danach strebte, die Kamera als Erweiterung des Auges zu feiern, und sich oft einer Schärfe des Blicks, ungewöhnlicher Kameraperspektiven und dramatischer Beleuchtungseffekte bediente.
Obwohl diese Begriffe sich nicht unbedingt ausschließen, ist der Terminus »Neues Sehen« geeignet, um den direkteren Ansatz, dem sich diese Photographen angepaßt haben, zu charakterisieren; er stand in deutlichem Gegensatz zu dem bislang modischen und im frühen 20. Jahrhundert so beliebten Piktoralismus mit seinem (häufigen) Mangel an einer fokussierten Linseneinstellung, seinem Verzicht auf Experimente bei der Entwicklung und seinen malerischen Bildmodifikationen.
Anders als viele Künstler, die Deutschland nach 1933 verließen, widmeten diese Photographen ihre Arbeit der Darstellung der Nation, der Suche nach dem Althergebrachten und letztlich einem Streben nach der deutschen »Rassenseele«. Sie schufen Bilder, die stilistische Annäherungen im Sinne des Avantgardismus mit »Blut-und-Boden«-Ideologien sowie einer Sensibilität verbanden, die ihren Gegenstand als gesund und lebenskräftig darstellte; oft von einem romantischen Mystizismus sowie einer Nähe zur Erde, zur Scholle der Ahnen, erfüllt.
Dennoch treten diese Photographen in den verschiedenen Darstellungen der Geschichte der Photographie nicht besonders hervor. Wie so viele Photographen, die dieses Arbeitsgebiet seit der »Erfindung« der Photographie im Jahre 1839 bevölkern, blieben sie allenfalls eine Fußnote.
Dies liegt zum Teil daran, daß die Geschichte dieses Mediums (mit einigen bemerkenswerten Ausnahmen) von einer relativ kleinen Zahl einflußreicher Medienhistoriker, die »den Kanon« definierten, in der angelsächsischen Welt ausgeformt wurde.
Ebenso ergibt es sich aus der Tatsache, daß die Geschichte insbesondere der deutschen Photographie der Vorkriegszeit stark auf jene Photographen verengt wurde, die den Nationalsozialismus ablehnten und eine internationalistische Version der photographischen Moderne favorisierten, was die Annahme implizierte, daß Photographen, die dem Nationalsozialismus anhingen, irgendwie »antimodern«, unbegabt und grundsätzlich zu verabscheuen seien.
Die Grundhaltung der Photographiegeschichtsschreibung bestand also darin, hinsichtlich der Zeit vor und nach 1933 zu untersuchen, was künstlerisch ambitionierte Photographen, die Deutschland verließen, taten oder was sie, falls sie blieben und sich, wie August Sander (1876–1964), der Zensur unterwerfen mußten, nicht mehr tun durften.
Literatur über kreative oder künstlerische Photographie in Deutschland während des Dritten Reiches, insbesondere von Autoren, die das Regime unterstützten oder zumindest tolerierten, bleibt bemerkenswert selten und behandelt, sofern es sie überhaupt gibt, Photographen, die im Nationalsozialismus erfolgreich waren, fast ausschließlich negativ.
Um ein möglichst gründliches Verständnis zu gewinnen, wurde das Werk dieser drei Photographen durch die Linse methodologischer Empathie betrachtet, d. h. im Sinne eines grundlegenden Ansatzes der Feldforschung mit dem Ziel, ein Verhalten so zu verstehen, wie es von den untersuchten Rezipienten wahrgenommen wird.
Das vorliegende Projekt markiert einen Anfang, und es besteht die Hoffnung, daß weitere Arbeiten folgen werden, in denen diese photographischen Bestände objektiv geprüft, entschlüsselt und zugleich als ästhetische Gegenstände innerhalb des Kanons der Photographie des zwanzigsten Jahrhunderts gewürdigt werden können.