Kein rechter Publizist hat die fadenscheinigen, lücken- oder lügenhaften Begrifflichkeiten der Zivilgesellschaft genauer und luzider definiert als der Publizist und Politikwissenschaftler Manfred Kleine-Hartlage. Nachfolgend zwei Einträge aus seinem Standardwerk “Die Sprache der BRD”, an dessen erweiterter Neuauflage er derzeit arbeitet.
VOLKSVERHETZUNG – Der Tatbestand der Volksverhetzung (§ 130 StGB) erfaßt bestimmte Äußerungen mit politischem Bezug. Für einen demokratischen Rechtsstaat sollte es sich von selbst verstehen, sich bei der Bestrafung politischer Äußerungen Zurückhaltung aufzuerlegen, zum einen wegen der erheblichen Abgrenzungsprobleme – wo hört die Kritik auf, wo beginnt die »Verhetzung«? –, zum anderen, weil jeder Meinungsparagraph potentielle Handhaben liefert, völlig legitime, der Regierung aber mißliebige Opposition mundtot zu machen.
Das deutsche Kaiserreich, das wir uns als den Inbegriff eines undemokratischen Obrigkeitsstaates vorstellen sollen, führte den § 130 1872 ein. Bestraft wurde die Aufreizung zu Gewalttätigkeiten (und nur dies!) gegen eine Klasse. Die Regelung bestand damals aus 33 Worten.
Dabei blieb es 88 Jahre lang. Die Adenauer-Republik, die uns als miefiges, reaktionäres Restaurationsregime verkauft wird, unter dem man kaum atmen konnte, änderte den Paragraphen 1960, kam aber immer noch mit 60 Worten aus. Bestraft wurde nunmehr allerdings auch, wer »zum Haß gegen Teile der Bevölkerung aufstachelt, zu Gewalt- oder Willkürmaßnahmen gegen sie auffordert oder sie beschimpft, böswillig verächtlich macht oder verleumdet«.
Diese Regelung hielt nur noch 34 Jahre. Unberücksichtigt ist dabei jene winzige Änderung, die die sozialliberale Koalition, jene legendäre Bannerträgerin einer liberalen, nichtobrigkeitsstaatlichen Strafrechtsreform, 1975 einführte: Damals wurde die Möglichkeit abgeschafft, auf Geldstrafe zu erkennen, Freiheitsstrafe mithin zwingend vorgeschrieben.
Die wiedervereinigte BRD, in die sich 17 Millionen Deutsche mitsamt ihrer DDR geflüchtet hatten in der Hoffnung, von staatlicher Meinungsgängelei frei zu werden, verschärfte den Volksverhetzungsparagraphen erneut, und zwar 1994. Mit der Neuregelung wurde das Verbot der sogenannten Holocaustleugnung eingeführt und zum ersten Mal in der Geschichte der modernen Demokratie ein bestimmtes Geschichtsbild unter Strafe gestellt.
Außerdem wurde der Straftatbestand insofern ausgeweitet, als jeder, der nur irgendwie an der Verbreitung entsprechender Schriften beteiligt war, nunmehr ebenfalls belangt werden konnte. Folglich umfaßte die neue Regelung 290 Worte und war damit fast fünfmal länger als die von 1960.
Nach nur elf Jahren fand man auch diese Regelung nicht mehr scharf genug: Ab 2005 wurde »bestraft, wer öffentlich oder in einer Versammlung den öffentlichen Frieden in einer die Würde der Opfer verletzenden Weise dadurch stört, daß er die nationalsozialistische Gewalt- und Willkürherrschaft billigt, verherrlicht oder rechtfertigt« (§ 130 Abs. 4 StGB), und bereits auf den ersten Blick ist erkennbar, daß die mit jeder Neuregelung zunehmende Tendenz zum Gummiparagraphen auch hier fortgesetzt wurde: Was genau verletzt zum Beispiel »die Würde der Opfer«? Welche Aspekte des nationalsozialistischen Regimes unterliegen einer Verurteilungspflicht? Nur die mehr oder minder diktatorischen oder auch die Autobahn? Nur die Autobahn oder auch die Müllabfuhr? Wo verläuft die Grenze zwischen historischer »Erklärung«, die notwendigerweise auch die Handlungsmotive der Akteure beleuchten muß, und »Rechtfertigung«?
Die BRD war in der Zwischenzeit unbestritten zum toleranzphrasenreichsten Staat avanciert, der jemals auf deutschem Boden existiert hat, dafür war sein Oppositionstotschlaggummiparagraph 130 mittlerweile bei einem Umfang von 342 Worten angekommen.
Diesmal ließ die nächste Verschärfung nur noch sechs Jahre auf sich warten. 2011 trat, und zwar zum Zwecke der »strafrechtlichen Bekämpfung bestimmter Formen und Ausdrucksweisen von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit« bzw. zur »Kriminalisierung mittels Computersystemen begangener Handlungen rassistischer und fremdenfeindlicher Art« eine Neuregelung in Kraft, die bereits keine nationale Regelung mehr war, sondern auf der Basis von EU-Beschlüssen und Europaratsabkommen erfolgte.
Von nun an war der Tatbestand der Volksverhetzung nicht mehr, wie bisher, erst dann erfüllt, wenn eine ganze Gruppe »beschimpft, böswillig verächtlich gemacht oder verleumdet« oder zum Gegenstand von Haß- und Gewaltaufrufen wurde; es genügte bereits, wenn ein Einzelner wegen seiner Zugehörigkeit zu einer solchen Gruppe davon betroffen war.
Der Rechtsschutz für den Betroffenen wurde dadurch nicht verbessert, denn selbstredend war es schon zuvor als Beleidigung strafbar, jemanden zum Beispiel »Scheißtürke« zu nennen. Volksverhetzung ist aber im Unterschied zu Beleidigung ein Offizialdelikt, d. h. der konkret Betroffene muß sich selbst gar nicht beleidigt fühlen, und er muß auch kein eigenes Interesse an der Strafverfolgung haben.
Es genügt, daß irgendwer die Beleidigung hört und daraufhin Anzeige erstattet. Die Staatsanwaltschaft muß dann ermitteln und gegebenenfalls anklagen. Beleidigung wird mit bis zu einem Jahr Haft geahndet, Volksverhetzung dagegen mit bis zu fünf Jahren.
Es geht schlicht um Meinungszensur, verbunden mit einer Aufforderung an Denunzianten. Man wundert sich geradezu, daß nicht noch Belohnungen für »sachdienliche Hinweise« ausgesetzt werden. Es erübrigt sich beinahe schon, darauf hinzuweisen, daß »Scheißtürke« als Volksverhetzung strafbar ist, »Scheißdeutscher« aber nur als Beleidigung.
Ganz nebenbei sei noch erwähnt, daß das Bundesjustizministerium (damals unter Führung einer Ministerin aus der liberalsten Partei, die je auf deutschem Boden existierte) dem Verfasser gegenüber noch wenige Monate vor der Gesetzesänderung leugnete, eine solche Änderung zu planen (obwohl die Bundesregierung sich längst dazu verpflichtet hatte) und die Vorlage ohne große öffentliche Aufmerksamkeit durch das Parlament peitschte.
In seiner aktuellen Fassung ist der § 130 StGB nunmehr bei der stolzen Anzahl von 388 Worten angekommen. Die Textlänge des Volksverhetzungsparagraphen korreliert direkt mit dem mutwillig politisch herbeigeführten Wachstum nichtdeutscher Bevölkerungsgruppen.
Angesichts dieses Sachverhalts und der folglich immer schneller aufeinander folgenden Verschärfungen fragt man sich nur noch, wann die nächste fällig ist.
BEVÖLKERUNG – Dem Wortsinne nach ist eine Bevölkerung keine Personengesamtheit, sondern ein Vorgang, nämlich der des Bevölkerns, und es liegt eine gewisse subtile Logik darin, daß der altehrwürdige Begriff »Volk« gerade in dem Moment aus der politischen Sprache der BRD verschwindet, in dem Deutschland, wie alle anderen Länder des Westens, von Menschen bevölkert wird, die bzw. deren Vorfahren aus ganz anderen Weltgegenden stammen.
Daß der Begriff des Volkes eine besondere Sprengkraft hat, mußten zuletzt die Machthaber der DDR erfahren, die unter der Parole »Wir sind das Volk!« gestürzt wurden. Offenbar haben ihre Nachfolger in der BRD kein Interesse daran, diese Erfahrung zu teilen, und offenbar haben sie ein feines Gespür für das, was sie ideologisch stets abstreiten, nämlich daß ein Volk eine Solidargemeinschaft ist, die nur deswegen, weil das so ist, kollektiv handeln und gegebenenfalls auch Machthaber stürzen kann. Kein Volk – keine Solidarität. Keine Solidarität – keine Gefahr.
Als der nordrhein-westfälische Landtag 2010 in einer Resolution befürwortete, Ministern in Zukunft keinen Eid auf »das Wohl des deutschen Volkes« mehr abzunehmen, und dies ausdrücklich damit begründete, andernfalls würden Migranten ausgegrenzt, gaben die Abgeordneten damit zu, daß Migranten nach ihrer Auffassung per definitionem nicht zum deutschen Volk gehören und daß sie, die Politiker, das Ziel, Einwanderer ins deutsche Volk zu integrieren, aufgegeben hatten, sofern es überhaupt je verfolgt worden war.
Was die politische Klasse der BRD freilich keineswegs daran hindert, immer mehr dieser Einwanderer, von denen sie zugibt, daß sie nicht integriert werden können oder sollen, ins Land zu holen. »Integration«: Das bedeutet entweder die Aufnahme der Einwanderer in ein integres Ganzes, nämlich das deutsche Volk, oder es bedeutet überhaupt nichts.
Integration soll nicht stattfinden, und einem Volk will die politische Klasse der BRD sich nicht mehr gegenübersehen, mit ihm will sie nichts mehr zu tun haben. Da die BRD aber den Anspruch erhebt, ein demokratisches Staatswesen (von demos = Volk) zu sein, gerät besagte politische Klasse in eine gewisse Verlegenheit: Sie kann zwar im Sinne eines kalten Staatsstreichs Fakten schaffen, indem sie den Rat umsetzt, den Bertolt Brecht nach dem Aufstand vom 17. Juni 1953 der SED-Regierung gab, nämlich das Volk aufzulösen und sich ein neues zu wählen.
Sie kann aber nicht zugeben, daß sie das tut. Sie ist darauf angewiesen, die Demokratie wenigstens als Fiktion aufrechtzuerhalten. Sie braucht das Wort »Volk«, aber weil dieses Wort so gefährlich ist wie das, wofür es steht, läßt sie es von einem Wachkommando aus einer Vor- und zwei Nachsilben eskortieren: Fertig ist die »Bevölkerung«.
Daß sie mit einem derart plumpen Manöver allerdings durchkommt, wäre kaum zu erklären, wenn die BRD nicht schon seit 1949 eine Art Demokratiesimulation wäre: eine »Demokratie«, deren Repräsentanten finden, das Volk habe sich ihres Vertrauens als würdig zu erweisen, welches Volk sich aber gleichwohl als »Souverän« umschmeichelt sieht, und die sich in den gut sechzig Jahren ihres Bestehens den ihr gemäßen Bürgertyp herangezogen hat, nämlich den Demokratiesimulanten.
Wer dies nicht glauben möchte, stelle sich einen Moment lang den Galgen vor, an dem amerikanische Politiker hängen würden, wenn sie es wagten, die amerikanische Verfassung nicht mehr mit »We the People«, sondern mit »We the Population« einzuleiten.
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