2016 erschien Amor Towles’ Roman Ein Gentleman in Moskau, der seinen Verfasser in den USA zum Shootingstar machte. Auch die deutsche Übersetzung (2017) fand begeisterte Fürsprecher im Internet, nur merkwürdigerweise fast keine Würdigung konventioneller Medien. Die alternative Rezeption belegen exemplarisch positive Kritiken von Götz Kubitschek und Michael Klonovsky, die zudem Metapolitisches beleuchten.
Ihm gelten die folgenden Überlegungen, nicht als Debatte um richtige oder falsche Lesarten. Auch zielen sie trotz ihres intensiven Textbezugs auf keine weitere Buchbesprechung, sondern erörtern vornehmlich, was Stil, Haltung, Konservativismus oder Innere Emigration bedeuten oder nicht bedeuten. Insofern geht es letztlich um Klärung unserer Lage.
Götz Kubitschek etwa entnahm dem Buch als aktuelle Problemstellung die Möglichkeit, sich durch die erzwungene Isolation (erneut) der eigenen kulturellen Substanz zu vergewissern:
Was haben sie zu lehren, Rostov und dieser Roman? Auf die Frage, warum man darauf verzichten sollte, Dubai zu besuchen oder auf die Seychellen zu reisen, sollte man eine zugleich melancholische und stolze Antwort geben: Es gibt in unserem eigenen Land und überhaupt im ›alten Europa‹ noch unendlich viel, was wir noch nicht besucht, aufgesogen, gekostet und gewürdigt haben. Wir haben dem, was uns umgibt und was durch die Jahrhunderte hin zu einer Hochkultur in allen Bereichen verfeinert wurde, unseren Dank noch nicht im gebührenden Maße abgestattet. Vielleicht müßte man uns zu unserem Besten unter Hausarrest stellen. Das Eigentliche – es käme zu uns.
Michael Klonovsky wiederum betont als »ewiggültiges Thema« die unverwechselbare formenbewußte Haltung des vom Schicksal zum unzeitgemäßen Außenseiter Gestempelten:
Towles’ Roman, wenn man ihn in einem Satz zusammenfassen müsste, handelt vom Willen zum Stil auch unter misslichen Verhältnissen. Stil hängt ja immer untrennbar mit Würde zusammen, und was besäße der Mensch Größeres als seine Würde?
Die Handlung beginnt 1922, als Graf Alexander Rostow zu lebenslangem Hausarrest im Moskauer Hotel »Metropol« verurteilt wird. Sollte er das Domizil verlassen, werde er umgehend erschossen. Daß er nicht ohnehin liquidiert wurde, verdankt er einem revolutionären Gedicht zur Zarenzeit seines Freundes Mischka, dessen Verfasserschaft er übernommen hatte, um ihn zu schützen.
In erzwungener Isolation verbringt Rostow 32 Jahre und vertritt im »Metropol« eine Art vorsowjetischer Gegenwelt als formvollendeter Repräsentant aussterbender Traditionen und Tugenden. Er tut dies in enger Verbindung mit den gleichgesinnten Küchen- und Empfangschefs, einer Näherin und dem betagten Hausmeister.
In liebevoller Verantwortung nimmt er sich zweier Mädchen an: Ninas und, als diese ihrem Mann in die Verbannung folgt, deren Tochter Sofia. Der begnadeten Pianistin ebnet er mit Hilfe der US-Botschaft auf ihrer Pariser Konzertreise die Flucht.
Bereits der Plot erweist sich als genialer epischer Entwurf, um in Fontanescher Leichtigkeit über das zu plaudern, was dem Autor wie dem Helden wichtig ist: Umgangsformen, literarische wie belletristische Hochleistungen und Bildungserlebnisse aller Art.
Zudem erhält der Leser eine Einführung in Geschichte, Kultur und »Seele« Rußlands – das Ganze im Rahmen geistvoll sprudelnder Konversation. Der Text hält sich gleichermaßen frei von Prüderie wie der heute gängigen Vulgärsprache. Über allem steht als Motto: »Le style c’est l’homme.« Im übrigen gilt Klonovskys Urteil:
Towles kann schreiben, und darin besteht der Hauptgenuss des Buches (jedes Buches)
Gibt es auch Schwächen? Ja. Bei einer lege ich mich diskussionslos fest: Zum Ende hin verdünnt sich die Story zur Kolportage, die Rostow zum pistolenbewehrten Action-Helden macht, intertextuell gespeist aus dem Motivfonds der weltweit gefeierten filmischen Widerstandsschmonzette Casablanca.
Wichtiger aber ist die Frage nach Towles’ Realismus und damit dem vertretbaren Maß, von den Scheußlichkeiten jener Epoche abzusehen. Beide Rezensenten registrierten das Problem. So schrieb Kubitschek:
Den Hintergrund des Romans bildet die Konsolidierung der bolschewistischen Herrschaft, eine grauenhafte Zeit. Durch die schweren Brokatvorhänge des ›Metropol‹ dringen die politischen Verwerfungen nur gedämpft ins Innere
Klonovsky sah sich gar zur Rechtfertigung genötigt:
Eventuell könnte man dem Roman vorwerfen, dass er zu menschenfreundlich ist. Immerhin spielt er in einer der blutigsten, grausamsten, am meisten von Niedertracht erfüllten Epochen der Weltgeschichte. Aber nicht nur in der Hauptfigur, auch im Autor lebt der Wille zum Stil. Weder der Gentleman im Hotel noch sein Erfinder haben eine Schwäche fürs Veristische.
Übergehen wir die kausale Verknüpfung von Stilwille mit Harmonisierung, weil dies eine ästhetische Sonderdebatte birgt. Konzedieren wir immerhin das belletristische Recht, Alltagswirklichkeit zuweilen ein wenig zurückzudrängen – sonst müßten wir aus den Kunstgeschichten weltweit die Romantik ausscheiden.
Und wieviele Romane schöpfen ihre Kraft aus Gegenwelten, Ausnahmemenschen und ‑handlungen, aus Schicksalen, wonach Bedrängte auch einmal unverschämtes Glück haben oder Tellerwäscher zu Millionären aufsteigen, was ja zuweilen sogar tatsächlich vorkommt.
Ganze Buch- oder Filmgenres basieren auf der Fiktion, daß sich auch bestens nach oben vernetzte Gangsterbosse durch unerschrockene einsame Detektiv-Wölfe schnappen lassen. Daher begründen die folgenden Einwände nicht automatisch einen Kunstvorwurf, wo man das Buch doch fraglos mit Genuß als gehaltvolle Verschränkung von Unterhaltung und Belehrung lesen kann.
Zudem ist es in der Tat eines der menschenfreundlichsten der Weltliteratur, das uns neidisch machen könnte auf eine Zeit und Gesellschaft, in der sich dergleichen vollzogen hätte. Doch was innerhalb der literarischen Autonomie gestattet ist, gelangt gleichwohl vor ein kritisches Tribunal, sobald ein Text im (meta-) politischen Raum wirken soll oder entsprechend beansprucht wird.
Denn nun zählt, wie wir seine potentielle »Botschaft« bewerten sollen: als Märchen oder Verhaltensmodell. Gemessen an Alltagsnorm und historischer Wahrscheinlichkeit, erweisen sich die Personen vielfach als Kunstfiguren, allen voran Rostow.
Ist dieser Vertreter der zaristischen Aristokratie doch so edel gezeichnet, daß er zur Vorlage für Fürstenspiegel taugte. Als Dandy ohne Sozialallüren kellnert er oder näht sich wie selbstverständlich seine Knöpfe an. Umstandslos nimmt er Sofia in Pflege, und wo er sich gegenüber der befreundeten Näherin einmal über die Belastung äußert, läßt er sich flugs belehren: Prekär sei weniger seine als Sofias Lage.
Auch möge er ihr nicht diese Last aufbürden, weil das Kind mütterlicher Zuneigung bedürfe: »Verlangen Sie das nicht von mir. Verlangen Sie es von sich selbst« – eine Anweisung, die Rostow, umgehend zum »neuen Mann« mutierend, widerspruchslos quittiert.
Künstlich wirken auch Bedingungen, die ihn, allen Schikanen zum Trotz, fast zum Mitregenten des Hotels machen. Geldsorgen entfallen angesichts einer verborgenen wertvollen Münzsammlung. So serviert man ihm weiterhin Luxusspeisen.
Beste Beziehungen zu einer Staatsdiva vom Film, einem auch geheimdienstlich tätigen US-Diplomaten und einem hohen Sowjetkader, dem er westliche Sprachen und Lebensart beibringen soll, helfen ihm verschiedentlich aus der Patsche. Sein Feind, ein systemtreuer, zum Hoteldirektor aufgestiegener Kellner, kann ihm nichts anhaben.
Zufälle alias Erzählereinfälle kommen hinzu, wie etwa eine per Mißverständnis abgelegte Polizeiakte. Freunde unterstützen ihn gar bei der Flucht, obwohl es sie naturgemäß als erste verdächtig macht. Das (damals wie heute) zusätzlich Bittere, daß durch Einschüchterung Solidarität zerbricht und Denunziation blüht, bleibt ihm erspart.
Und eine merkwürdig zahnlose Roman-GPU nimmt das »Metropol« kaum ins Visier, wo man, ohne Wanzen zu fürchten, überall offene Gespräche führen kann. Mischka wiederum, ein Bilderbuch-Revolutionär, begrüßt die sowjetischen Schriftsteller-Vorgaben wie eine religiöse Offenbarung, wütet jedoch eines zensierten Absatzes wegen derart, daß ihm der Gulag gewiß ist.
Offenbar lebt dieser Idealist vornehmlich in Towles’ Erzählkosmos, der die böse Außenwelt des Großen Terrors oder Holodomors weithin in Fußnoten verbannt. Für Ninas Fall gilt Analoges. Märchen machen glücklich, weil sie eben Märchen sind: »Ein Traum, was sonst?« Doch das hindert uns, aus diesem Roman einfache Verhaltenslehren zu ziehen.
Akzeptiert sei als Grundbotschaft das Plädoyer für Leittugenden wie Stil und Würde. Wo immer sie konsequent gelebt werden, festigt dies die seelischen Fundamente einer wahren Elite. Towles illustriert solche respektheischende Haltung eingangs mit Rostows Gerichtsverhandlung als Triumph natürlichen Stilbewußtseins unter Druck.
Nur mischt sich beim Lesen spontaner Beifall für die wahrlich aristokratischen Pointen mit der kaum zu verdrängenden historischen Erkenntnis: So sprach in der Ära des berüchtigten Generalstaatsanwalts Wyschinski vor einem sowjetischen Gericht wohl niemand.
Dort erschienen nämlich in aller Regel Gebrochene und Gefolterte, die wechselweise sich und andere verrieten. Die Moskauer Prozesse und unzählige kleinere Verfahren, in deren Folge Millionen zu Tode kamen, belegen dies schmerzlich.
Unter dieser Drohung Würde zu wahren, war weltweit zu allen Zeiten nahezu singulär und beschränkte sich auf Ausnahmehelden wie Thomas Morus, der den Henker bat, bei seiner Enthauptung den beiseitegelegten Bart zu verschonen.
Der wenigstens sei »kein Hochverräter«. Als Norm regiert der arrogante Ton der Macht wie etwa im Fall des 20. Juli-Verschwörers Erwin von Witzleben, dem man den Gürtel genommen hatte und der vorm Volksgerichtshof seiner rutschenden Hose wegen Freislers Spott verfiel.
Aber auch wo es nicht gleich ums Leben geht, sondern man sich gemäß BRD-Praxis meist mit Rufmord begnügt, sollte Bewunderung für Stil und Haltung zugleich die dafür zu entrichtenden sozialen Kosten im Auge behalten. Hiervon lenken Rostows Sonderbedingungen ein wenig ab.
Auch weitere Lehren des Buchs taugen nur mit Abstrichen, so etwa jene, die Welt sei durch Höflichkeit, Herzenstakt und Vorbild zu verbessern. Das gilt im Privaten. Auch in einer halbwegs intakten Gesellschaft. Doch wie verhält man sich angesichts epochaler Umbrüche mit folgenreichen Sozialexperimenten, von Lenin – Stalin über Hitler bis zur scheinbar harmlosen, bloß humanitären Merkelokratie?
Inwieweit gibt es ein richtiges Leben im falschen? Stimmt die Empfehlung, daß sich Irrwege unserer Freunde um der menschlichen Harmonie willen gänzlich ausblenden lassen? Daß ein Graf Rostow sich freuen darf, weil nun Mischkas historische Stunde gekommen sei, während gerade dieser »Fortschritt« eine ganze Gesellschaft ins Prokrustesbett für »Neue Menschen« quetscht?
Schuldete er nicht Nina diesbezüglich eine drastischere Aufklärung, die sie vielleicht vor dem totalitären Fiasko ihres Lebens bewahrt hätte, nicht aber nur jene (allerdings in anderem Zusammenhang formulierte) Lebensregel, Ältere hätten sich bei Entscheidungen der Jugend zurückzuhalten und Bedenken nur höchst taktvoll anzumelden? (Oder ähnelt dieses Erziehungsprinzip nicht, als Kehrseite der Medaille, ein wenig auch der Kapitulation vieler heutiger Eltern, die Anstoß zu erregen fürchten?)
Und bastelt sich da nicht jemand in seinem human figurierenden Geschichtsfatalismus des Überlebens eine Art »Sanftes Evolutionsgesetz« zusammen als Mixtur aus Darwin und Stifter? Oder schauen wir auf jenes durchgehende Lob eines kultivierten, traditionsgetragenen Formbewußtseins.
Man mag sein vielfaches Verschwinden bedauern, nur führt das nicht zum Kern unserer Misere. Denn zumindest äußerliche Rituale lernen mit der Zeit auch Leute wie Merkel, Maas oder Nahles durch diverse Imageberater. Und die arrivierten Damen und Herren gewöhnen sich meist blitzschnell an Schlösser und die in ihnen formvollendet genossenen Hummer oder Havannas.
Insofern könnte der Roman das Mißverständnis fördern, solange nur Kellner nicht von der falschen Seite her servieren, Cocktails richtig gemischt werden oder Rick das Whiskyglas geraderückt, sei die Welt wohl nicht gänzlich in Unordnung. Das kundig gehandhabte Fischbesteck, polyglotte Weltläufigkeit oder distinguierter Dresscode haben hierzulande allerdings allzu bequem und folgenreich einen konsequenzlosen »Konservativismus« hervorgebracht und drapiert.
Er diente als Surrogat für den 1968 von den damaligen Eliten weithin verweigerten Kulturkampf. Doch Lebenskunst und Kulinarik imponieren nur, wo als essentieller Genuß auf der geistigen Speisekarte zugleich die Verteidigung der Freiheit steht.
Dies sei in aller Deutlichkeit gesagt, wobei die beiden hier gemusterten Rezensenten durch ihre öffentliche Positionierung gewiß nicht im Verdacht stehen, dies zu ignorieren. Als ich Götz Kubitschek diesen Aufsatz vorschlug, zeigte er umgehend Interesse.
Über das, was solche Lage erfordert, grüble er schon seit drei Jahrzehnten: »Aus meiner Sicht hat das, was wir tun, symbolische Bedeutung, und wir sind wahlweise ›Zeichen, deutungslos‹ oder ›Zeigerpflanzen‹ oder diejenigen, mit denen auf eine Weise umgegangen wird, die das ›System‹ zur Kenntlichkeit entstellen sollte.
Aber: Ich gewinne mehr und mehr den Eindruck, daß es dem System völlig egal ist, ob es zur Kenntlichkeit entstellt wird. Denn wer nimmt diese Entstellung noch wahr, wer zieht Konsequenzen daraus – wenn nicht wieder wir selbst? Man ist dabei, uns alle Ausgänge aus der Selbstreferentialität zuzumauern, und vielleicht hoffen irgendwo ein paar Leute, daß wir demnächst entweder aufs Altenteil gehen oder durchdrehen.
An welchem Punkt muß man aufhören zu kämpfen? Gibt Ihr von Towles inspirierter Beitrag eine Antwort darauf? Geht es, um einen Houellebecq-Titel zu zitieren, um ›die Möglichkeit einer Insel‹? Reicht uns das? Muß uns das reichen? Ist das Defätismus?«
Natürlich nicht. Denn wer eigene Handlungsvoraussetzungen schonungslos prüft, zeigt mehr Mut als der Zweckoptimist, der sich an kurzfristigen Aufmerksamkeitserfolgen berauscht. Es stimmt ja, daß unserer auf Alternativlosigkeit gepolten politmedialen Klasse nahezu jedes Mittel (im doppelten Wortsinn) recht ist, ihre Macht und Pfründen zu verdauern.
Daß sie neun Zehntel ihrer Anstrengungen darauf richtet, nennenswerte Opposition bereits physisch zu verhindern, Gegner zum öffentlichen Gespräch wieder aus- oder gar nicht erst einzuladen. Beispiele hierfür zu dokumentieren, hieße eine Bibliothek füllen.
Richtig ist auch, daß dieses (Meinungs-)Imperium durch keinerlei Skrupel gebremst wird, in seinen erbärmlichen Tricks öffentlich durchschaut zu werden, solange sich die Masse noch (moralisch) einschüchtern läßt. Desgleichen, daß diese angemaßte »wehrhafte Demokratie« rechtsstaatlich bereits mit heruntergelassener Hose dasteht und die Peinlichkeit nicht scheut, Vertreter eines gesellschaftlichen Gegenentwurfs durch postdemokratischen Druck auf ein kommunikatives Inseldasein zu beschränken.
Der machtfundierte Zeitgeisttrend läuft somit ähnlich gegen uns, wie das für Graf Rostow galt, ungeachtet der Paradoxie, daß Rostow und wir die Realität auf unserer Seite hatten und haben. Denn wie die sowjetische Utopie einmal an puren Tatsachen scheiterte, läuft auch der Gegenwartskurs einem Fiasko entgegen, das lediglich durch ungedeckte Schecks auf eine glückliche Menschheitszukunft verschleiert wird.
Doch im Recht sein allein nützt nichts; es braucht, um Massen zu überzeugen, auch das den Alternativen verweigerte große Forum. Das spricht zumindest gegen ein unreflektiertes »Weiter so« zugunsten der Bereitschaft, die Bedingungen der »Insel« klaglos anzunehmen.
Schon in der Rezension des Romans begriff Kubitschek Towles’ Ausgangssituation ja als »radikales Gleichnis für das bedingte, in einen sehr engen Rahmen gefaßte Leben an sich«. Man könne in »jeder Grenzsetzung eine Verhinderung der Freiheit sehen, man kann aber auch akzeptieren, daß dies nun der Lebensrahmen sei, den man auszumalen habe, daß kein Jammern etwas daran ändern werde und man am besten gleich damit beginnen sollte, mit kräftigen Pinselstrichen eine Spur zu hinterlassen.«
Sich mit der Insellage abzufinden, heißt konkret, sich von Restillusionen zu verabschieden, die Regenten der »Landbewohner« gestatteten jemals freiwillig einen kommunikativen Linienverkehr. Dieses oder jenes Schiffchen mag mal landen, um dann jedoch meist schnellstens zurückbeordert zu werden.
Auf solche Ausnahmen zu spekulieren, hält also nur auf. Aussichtsreicher scheint, ohne konzessionäre Taktikspielchen einfach »sein Ding« zu machen und einen »kräftigen Strich« zu ziehen. Als Außenwirkung bleibt dann zumindest der quasimythische Eindruck eines zwischen Abstoßung und Sehnsucht pendelnden unbesetzten Orts jenseits von verordneter Einheitsgesinnung.
Auch ein politstrategischer Rückzug aus der vordersten Linie, um neue Kräfte zu sammeln, muß kein Tabu sein. Kann sogar zu neuen Horizonten führen, zur Konzentration auf gesellschaftliche wie kulturelle Grundlagen eines noch unausgeschöpften Erbes.
Sich einmal temporär aus der geistfeindlichen Tagesagitation zu verabschieden, der ständigen Konfrontation mit Propagandaphrasen, Verleumdern, Intriganten, erinnerungsscheuen Heckenschützen im eigenen Lager oder Zielkompromissen, die oft Kapitulationen ähneln, durchlüftet den Kopf.
Könnte Ausstieg sein zugunsten des Wesentlichen. Doch vergißt, wer anspruchsvoll leben will, bei dieser bereichernden Bescheidung nie den Zwang, der zu ihr führte. Und wo immer möglich, überschreitet er fremdgesetzte Grenzen und sendet, um im Bild zu bleiben, vom Inselleuchtturm aus erkennbare Blinkzeichen.
Im heutigen Politik- und Kulturmarathon scheinen mir kurzfristige Erwartungen auf die Wende illusionär, so provozierend dies sein mag, wo Woche für Woche fatale zukunftsverstellende Fakten geschaffen werden. Andererseits gilt bei aller Skepsis, daß gerade momentane Rückschläge wesentlich einem vorangegangenen Riesenerfolg der Alternative geschuldet sind, der das System gewaltig herausforderte.
Die bleierne Zeit eines Quasi-Monopols von 68er Errungenschaften ist vorüber. Jüngers »Waldgänger« hört aktuell immer häufiger Klopfgeräusche potentiell Gleichgesinnter. Millionen wissen inzwischen, über Jahrzehnte in einer Medienhöhle für Ahnungslose gefesselt gewesen zu sein. Mentalitätsgeographisch veranschaulicht, braucht man, um ein wirklich freies Gespräch zu führen, heute nicht mehr Hunderte von Kilometern zu reisen, sondern nur noch 50.
Oder anders bebildert: Die Insel trennt nicht mehr so hermetisch, weil sie zum Archipel wurde, aus etlichen weiteren publizistischen Widerspruchsorganen und nicht zuletzt Internetplattformen. Das System kompensiert dies zwar durch »zivilgesellschaftliche« Generalmobilmachung und verschärfte Repression.
Aber das schafft qua Empörung vielleicht neue Rekrutierungsmöglichkeiten. Das dennoch berechtigte Gefühl weitgehender Abschnürung und Einflußlosigkeit entspringt vor allem sehr ambitionierten Wünschen nach Massenwirkung und der entscheidenden Wende.
Sie wiederum setzt den Kairos voraus: den günstigen geschichtlichen Moment. Man kann ihn nicht beschwören, sondern sich nur für ihn bereithalten. Das erfordert Seelenstärke und ein wenig von Rostows nachahmenswerter Gelassenheit ohne fatalistische Selbstgenügsamkeit.
Der Glaube an die eine Chance, die vielleicht doch noch kommt, ist mehr als billiger Trost und keineswegs irrational. Auch 1989 kippte plötzlich die Lage. Damals brach ein gigantisches, aber offenbar morsches Imperium zusammen – entgegen den Analysen unserer linkslastigen Politologen, die das Knirschen im Staat, Comecon und Warschauer Pakt ignorierten und in ihren »Lehrbüchern« etwa die DDR noch als eine der führenden Ökonomien der Welt priesen.
Und es kollabierte erstaunlicherweise sogar ohne gewaltige militärische Kollateralschäden. Graf Rostow also, wenn er denn 100 Jahre alt geworden wäre, hätte noch seine Befreiung durch »Glasnost« erlebt. Und wenn nicht? Dann bleibt unser Kampf eben nur »inneres Erlebnis«, was mehr ist als selbstbespiegelnde Eitelkeit.
Zu den schwersten Charakterprüfungen für »Unzeitgemäße« zählte schließlich über Jahrzehnte hinweg die Bewahrung von Hoffnung angesichts eines auch im Politischen »verborgenen Gotts«. Es braucht etwas vom Bewußtsein des Sisyphus, der stets wieder von neuem den Stein nach oben wälzt.
Oder folgen wir Storms lyrischem Appell, man möge einfach handeln, wie es die innere Stimme gebietet:
Der eine fragt: Was kommt danach? / Der andre fragt nur: Ist es recht? / Und also unterscheidet sich / der Freie von dem Knecht.