Graf Rostows Insel

von Günther Scholdt
PDF der Druckfassung aus Sezession 89/April 2019

2016 erschien Amor Tow­les’ Roman Ein Gen­tle­man in Mos­kau, der sei­nen Ver­fas­ser in den USA zum Shoo­ting­star mach­te. Auch die deut­sche Über­set­zung (2017) fand begeis­ter­te Für­spre­cher im Inter­net, nur merk­wür­di­ger­wei­se fast kei­ne Wür­di­gung kon­ven­tio­nel­ler Medi­en. Die alter­na­ti­ve Rezep­ti­on bele­gen exem­pla­risch posi­ti­ve Kri­ti­ken von Götz Kubit­schek und Micha­el Klo­novs­ky, die zudem Meta­po­li­ti­sches beleuchten.

Ihm gel­ten die fol­gen­den Über­le­gun­gen, nicht als Debat­te um rich­ti­ge oder fal­sche Les­ar­ten. Auch zie­len sie trotz ihres inten­si­ven Text­be­zugs auf kei­ne wei­te­re Buch­be­spre­chung, son­dern erör­tern vor­nehm­lich, was Stil, Hal­tung, Kon­ser­va­ti­vis­mus oder Inne­re Emi­gra­ti­on bedeu­ten oder nicht bedeu­ten. Inso­fern geht es letzt­lich um Klä­rung unse­rer Lage.

Götz Kubit­schek etwa ent­nahm dem Buch als aktu­el­le Pro­blem­stel­lung die Mög­lich­keit, sich durch die erzwun­ge­ne Iso­la­ti­on (erneut) der eige­nen kul­tu­rel­len Sub­stanz zu vergewissern:

Was haben sie zu leh­ren, Ros­tov und die­ser Roman? Auf die Fra­ge, war­um man dar­auf ver­zich­ten soll­te, Dubai zu besu­chen oder auf die Sey­chel­len zu rei­sen, soll­te man eine zugleich melan­cho­li­sche und stol­ze Ant­wort geben: Es gibt in unse­rem eige­nen Land und über­haupt im ›alten Euro­pa‹ noch unend­lich viel, was wir noch nicht besucht, auf­ge­so­gen, gekos­tet und gewür­digt haben. Wir haben dem, was uns umgibt und was durch die Jahr­hun­der­te hin zu einer Hoch­kul­tur in allen Berei­chen ver­fei­nert wur­de, unse­ren Dank noch nicht im gebüh­ren­den Maße abge­stat­tet. Viel­leicht müß­te man uns zu unse­rem Bes­ten unter Haus­ar­rest stel­len. Das Eigent­li­che – es käme zu uns.

Micha­el Klo­novs­ky wie­der­um betont als »ewig­gül­ti­ges The­ma« die unver­wech­sel­ba­re for­men­be­wuß­te Hal­tung des vom Schick­sal zum unzeit­ge­mä­ßen Außen­sei­ter Gestempelten:

Tow­les’ Roman, wenn man ihn in einem Satz zusam­men­fas­sen müss­te, han­delt vom Wil­len zum Stil auch unter miss­li­chen Ver­hält­nis­sen. Stil hängt ja immer untrenn­bar mit Wür­de zusam­men, und was besä­ße der Mensch Grö­ße­res als sei­ne Würde?

Die Hand­lung beginnt 1922, als Graf Alex­an­der Ros­tow zu lebens­lan­gem Haus­ar­rest im Mos­kau­er Hotel »Metro­pol« ver­ur­teilt wird. Soll­te er das Domi­zil ver­las­sen, wer­de er umge­hend erschos­sen. Daß er nicht ohne­hin liqui­diert wur­de, ver­dankt er einem revo­lu­tio­nä­ren Gedicht zur Zaren­zeit sei­nes Freun­des Misch­ka, des­sen Ver­fas­ser­schaft er über­nom­men hat­te, um ihn zu schützen.

In erzwun­ge­ner Iso­la­ti­on ver­bringt Ros­tow 32 Jah­re und ver­tritt im »Metro­pol« eine Art vor­so­wje­ti­scher Gegen­welt als form­voll­ende­ter Reprä­sen­tant aus­ster­ben­der Tra­di­tio­nen und Tugen­den. Er tut dies in enger Ver­bin­dung mit den gleich­ge­sinn­ten Küchen- und Emp­fangs­chefs, einer Nähe­rin und dem betag­ten Hausmeister.

In lie­be­vol­ler Ver­ant­wor­tung nimmt er sich zwei­er Mäd­chen an: Ninas und, als die­se ihrem Mann in die Ver­ban­nung folgt, deren Toch­ter Sofia. Der begna­de­ten Pia­nis­tin ebnet er mit Hil­fe der US-Bot­schaft auf ihrer Pari­ser Kon­zert­rei­se die Flucht.

Bereits der Plot erweist sich als genia­ler epi­scher Ent­wurf, um in Fon­ta­ne­scher Leich­tig­keit über das zu plau­dern, was dem Autor wie dem Hel­den wich­tig ist: Umgangs­for­men, lite­ra­ri­sche wie bel­le­tris­ti­sche Hoch­leis­tun­gen und Bil­dungs­er­leb­nis­se aller Art.

Zudem erhält der Leser eine Ein­füh­rung in Geschich­te, Kul­tur und »See­le« Ruß­lands – das Gan­ze im Rah­men geist­voll spru­deln­der Kon­ver­sa­ti­on. Der Text hält sich glei­cher­ma­ßen frei von Prü­de­rie wie der heu­te gän­gi­gen Vul­gär­spra­che. Über allem steht als Mot­to: »Le style c’est l’homme.« Im übri­gen gilt Klo­novs­kys Urteil:

Tow­les kann schrei­ben, und dar­in besteht der Haupt­ge­nuss des Buches (jedes Buches)

Gibt es auch Schwä­chen? Ja. Bei einer lege ich mich dis­kus­si­ons­los fest: Zum Ende hin ver­dünnt sich die Sto­ry zur Kol­por­ta­ge, die Ros­tow zum pis­to­len­be­wehr­ten Action-Hel­den macht, inter­tex­tu­ell gespeist aus dem Motiv­fonds der welt­weit gefei­er­ten fil­mi­schen Wider­stands­schmon­zet­te Casa­blan­ca.

Wich­ti­ger aber ist die Fra­ge nach Tow­les’ Rea­lis­mus und damit dem ver­tret­ba­ren Maß, von den Scheuß­lich­kei­ten jener Epo­che abzu­se­hen. Bei­de Rezen­sen­ten regis­trier­ten das Pro­blem. So schrieb Kubitschek:

Den Hin­ter­grund des Romans bil­det die Kon­so­li­die­rung der bol­sche­wis­ti­schen Herr­schaft, eine grau­en­haf­te Zeit. Durch die schwe­ren Bro­kat­vor­hän­ge des ›Metro­pol‹ drin­gen die poli­ti­schen Ver­wer­fun­gen nur gedämpft ins Innere

Klo­novs­ky sah sich gar zur Recht­fer­ti­gung genötigt:

Even­tu­ell könn­te man dem Roman vor­wer­fen, dass er zu men­schen­freund­lich ist. Immer­hin spielt er in einer der blu­tigs­ten, grau­sams­ten, am meis­ten von Nie­der­tracht erfüll­ten Epo­chen der Welt­ge­schich­te. Aber nicht nur in der Haupt­fi­gur, auch im Autor lebt der Wil­le zum Stil. Weder der Gen­tle­man im Hotel noch sein Erfin­der haben eine Schwä­che fürs Veristische.

Über­ge­hen wir die kau­sa­le Ver­knüp­fung von Stil­wil­le mit Har­mo­ni­sie­rung, weil dies eine ästhe­ti­sche Son­der­de­bat­te birgt. Kon­ze­die­ren wir immer­hin das bel­le­tris­ti­sche Recht, All­tags­wirk­lich­keit zuwei­len ein wenig zurück­zu­drän­gen – sonst müß­ten wir aus den Kunst­ge­schich­ten welt­weit die Roman­tik ausscheiden.

Und wie­vie­le Roma­ne schöp­fen ihre Kraft aus Gegen­wel­ten, Aus­nah­me­men­schen und ‑hand­lun­gen, aus Schick­sa­len, wonach Bedräng­te auch ein­mal unver­schäm­tes Glück haben oder Tel­ler­wä­scher zu Mil­lio­nä­ren auf­stei­gen, was ja zuwei­len sogar tat­säch­lich vorkommt.

Gan­ze Buch- oder Film­gen­res basie­ren auf der Fik­ti­on, daß sich auch bes­tens nach oben ver­netz­te Gangs­ter­bos­se durch uner­schro­cke­ne ein­sa­me Detek­tiv-Wöl­fe schnap­pen las­sen. Daher begrün­den die fol­gen­den Ein­wän­de nicht auto­ma­tisch einen Kunst­vor­wurf, wo man das Buch doch frag­los mit Genuß als gehalt­vol­le Ver­schrän­kung von Unter­hal­tung und Beleh­rung lesen kann.

Zudem ist es in der Tat eines der men­schen­freund­lichs­ten der Welt­li­te­ra­tur, das uns nei­disch machen könn­te auf eine Zeit und Gesell­schaft, in der sich der­glei­chen voll­zo­gen hät­te. Doch was inner­halb der lite­ra­ri­schen Auto­no­mie gestat­tet ist, gelangt gleich­wohl vor ein kri­ti­sches Tri­bu­nal, sobald ein Text im (meta-) poli­ti­schen Raum wir­ken soll oder ent­spre­chend bean­sprucht wird.

Denn nun zählt, wie wir sei­ne poten­ti­el­le »Bot­schaft« bewer­ten sol­len: als Mär­chen oder Ver­hal­tens­mo­dell. Gemes­sen an All­tags­norm und his­to­ri­scher Wahr­schein­lich­keit, erwei­sen sich die Per­so­nen viel­fach als Kunst­fi­gu­ren, allen vor­an Rostow.

Ist die­ser Ver­tre­ter der zaris­ti­schen Aris­to­kra­tie doch so edel gezeich­net, daß er zur Vor­la­ge für Fürs­ten­spie­gel taug­te. Als Dan­dy ohne Sozi­al­al­lü­ren kell­nert er oder näht sich wie selbst­ver­ständ­lich sei­ne Knöp­fe an. Umstands­los nimmt er Sofia in Pfle­ge, und wo er sich gegen­über der befreun­de­ten Nähe­rin ein­mal über die Belas­tung äußert, läßt er sich flugs beleh­ren: Pre­kär sei weni­ger sei­ne als Sofi­as Lage.

Auch möge er ihr nicht die­se Last auf­bür­den, weil das Kind müt­ter­li­cher Zunei­gung bedür­fe: »Ver­lan­gen Sie das nicht von mir. Ver­lan­gen Sie es von sich selbst« – eine Anwei­sung, die Ros­tow, umge­hend zum »neu­en Mann« mutie­rend, wider­spruchs­los quittiert.

Künst­lich wir­ken auch Bedin­gun­gen, die ihn, allen Schi­ka­nen zum Trotz, fast zum Mit­re­gen­ten des Hotels machen. Geld­sor­gen ent­fal­len ange­sichts einer ver­bor­ge­nen wert­vol­len Münz­samm­lung. So ser­viert man ihm wei­ter­hin Luxusspeisen.

Bes­te Bezie­hun­gen zu einer Staats­di­va vom Film, einem auch geheim­dienst­lich täti­gen US-Diplo­ma­ten und einem hohen Sowjet­ka­der, dem er west­li­che Spra­chen und Lebens­art bei­brin­gen soll, hel­fen ihm ver­schie­dent­lich aus der Pat­sche. Sein Feind, ein sys­tem­treu­er, zum Hotel­di­rek­tor auf­ge­stie­ge­ner Kell­ner, kann ihm nichts anhaben.

Zufäl­le ali­as Erzäh­ler­ein­fäl­le kom­men hin­zu, wie etwa eine per Miß­ver­ständ­nis abge­leg­te Poli­zei­ak­te. Freun­de unter­stüt­zen ihn gar bei der Flucht, obwohl es sie natur­ge­mäß als ers­te ver­däch­tig macht. Das (damals wie heu­te) zusätz­lich Bit­te­re, daß durch Ein­schüch­te­rung Soli­da­ri­tät zer­bricht und Denun­zia­ti­on blüht, bleibt ihm erspart.

Und eine merk­wür­dig zahn­lo­se Roman-GPU nimmt das »Metro­pol« kaum ins Visier, wo man, ohne Wan­zen zu fürch­ten, über­all offe­ne Gesprä­che füh­ren kann. Misch­ka wie­der­um, ein Bil­der­buch-Revo­lu­tio­när, begrüßt die sowje­ti­schen Schrift­stel­ler-Vor­ga­ben wie eine reli­giö­se Offen­ba­rung, wütet jedoch eines zen­sier­ten Absat­zes wegen der­art, daß ihm der Gulag gewiß ist.

Offen­bar lebt die­ser Idea­list vor­nehm­lich in Tow­les’ Erzähl­kos­mos, der die böse Außen­welt des Gro­ßen Ter­rors oder Holo­do­mors weit­hin in Fuß­no­ten ver­bannt. Für Ninas Fall gilt Ana­lo­ges. Mär­chen machen glück­lich, weil sie eben Mär­chen sind: »Ein Traum, was sonst?« Doch das hin­dert uns, aus die­sem Roman ein­fa­che Ver­hal­tens­leh­ren zu ziehen.

Akzep­tiert sei als Grund­bot­schaft das Plä­doy­er für Leit­tu­gen­den wie Stil und Wür­de. Wo immer sie kon­se­quent gelebt wer­den, fes­tigt dies die see­li­schen Fun­da­men­te einer wah­ren Eli­te. Tow­les illus­triert sol­che respekt­hei­schen­de Hal­tung ein­gangs mit Ros­tows Gerichts­ver­hand­lung als Tri­umph natür­li­chen Stil­be­wußt­seins unter Druck.

Nur mischt sich beim Lesen spon­ta­ner Bei­fall für die wahr­lich aris­to­kra­ti­schen Poin­ten mit der kaum zu ver­drän­gen­den his­to­ri­schen Erkennt­nis: So sprach in der Ära des berüch­tig­ten Gene­ral­staats­an­walts Wysch­in­ski vor einem sowje­ti­schen Gericht wohl niemand.

Dort erschie­nen näm­lich in aller Regel Gebro­che­ne und Gefol­ter­te, die wech­sel­wei­se sich und ande­re ver­rie­ten. Die Mos­kau­er Pro­zes­se und unzäh­li­ge klei­ne­re Ver­fah­ren, in deren Fol­ge Mil­lio­nen zu Tode kamen, bele­gen dies schmerzlich.

Unter die­ser Dro­hung Wür­de zu wah­ren, war welt­weit zu allen Zei­ten nahe­zu sin­gu­lär und beschränk­te sich auf Aus­nah­me­hel­den wie Tho­mas Morus, der den Hen­ker bat, bei sei­ner Ent­haup­tung den bei­sei­te­ge­leg­ten Bart zu verschonen.

Der wenigs­tens sei »kein Hoch­ver­rä­ter«. Als Norm regiert der arro­gan­te Ton der Macht wie etwa im Fall des 20. Juli-Ver­schwö­rers Erwin von Witz­le­ben, dem man den Gür­tel genom­men hat­te und der vorm Volks­ge­richts­hof sei­ner rut­schen­den Hose wegen Freis­lers Spott verfiel.

Aber auch wo es nicht gleich ums Leben geht, son­dern man sich gemäß BRD-Pra­xis meist mit Ruf­mord begnügt, soll­te Bewun­de­rung für Stil und Hal­tung zugleich die dafür zu ent­rich­ten­den sozia­len Kos­ten im Auge behal­ten. Hier­von len­ken Ros­tows Son­der­be­din­gun­gen ein wenig ab.

Auch wei­te­re Leh­ren des Buchs tau­gen nur mit Abstri­chen, so etwa jene, die Welt sei durch Höf­lich­keit, Her­zenst­akt und Vor­bild zu ver­bes­sern. Das gilt im Pri­va­ten. Auch in einer halb­wegs intak­ten Gesell­schaft. Doch wie ver­hält man sich ange­sichts epo­cha­ler Umbrü­che mit fol­gen­rei­chen Sozi­al­ex­pe­ri­men­ten, von Lenin – Sta­lin über Hit­ler bis zur schein­bar harm­lo­sen, bloß huma­ni­tä­ren Merkelokratie?

Inwie­weit gibt es ein rich­ti­ges Leben im fal­schen? Stimmt die Emp­feh­lung, daß sich Irr­we­ge unse­rer Freun­de um der mensch­li­chen Har­mo­nie wil­len gänz­lich aus­blen­den las­sen? Daß ein Graf Ros­tow sich freu­en darf, weil nun Misch­kas his­to­ri­sche Stun­de gekom­men sei, wäh­rend gera­de die­ser »Fort­schritt« eine gan­ze Gesell­schaft ins Pro­krus­tes­bett für »Neue Men­schen« quetscht?

Schul­de­te er nicht Nina dies­be­züg­lich eine dras­ti­sche­re Auf­klä­rung, die sie viel­leicht vor dem tota­li­tä­ren Fias­ko ihres Lebens bewahrt hät­te, nicht aber nur jene (aller­dings in ande­rem Zusam­men­hang for­mu­lier­te) Lebens­re­gel, Älte­re hät­ten sich bei Ent­schei­dun­gen der Jugend zurück­zu­hal­ten und Beden­ken nur höchst takt­voll anzu­mel­den? (Oder ähnelt die­ses Erzie­hungs­prin­zip nicht, als Kehr­sei­te der Medail­le, ein wenig auch der Kapi­tu­la­ti­on vie­ler heu­ti­ger Eltern, die Anstoß zu erre­gen fürchten?)

Und bas­telt sich da nicht jemand in sei­nem human figu­rie­ren­den Geschichts­fa­ta­lis­mus des Über­le­bens eine Art »Sanf­tes Evo­lu­ti­ons­ge­setz« zusam­men als Mix­tur aus Dar­win und Stif­ter? Oder schau­en wir auf jenes durch­ge­hen­de Lob eines kul­ti­vier­ten, tra­di­ti­ons­ge­tra­ge­nen Formbewußtseins.

Man mag sein viel­fa­ches Ver­schwin­den bedau­ern, nur führt das nicht zum Kern unse­rer Mise­re. Denn zumin­dest äußer­li­che Ritua­le ler­nen mit der Zeit auch Leu­te wie Mer­kel, Maas oder Nah­les durch diver­se Image­be­ra­ter. Und die arri­vier­ten Damen und Her­ren gewöh­nen sich meist blitz­schnell an Schlös­ser und die in ihnen form­voll­endet genos­se­nen Hum­mer oder Havannas.

Inso­fern könn­te der Roman das Miß­ver­ständ­nis för­dern, solan­ge nur Kell­ner nicht von der fal­schen Sei­te her ser­vie­ren, Cock­tails rich­tig gemischt wer­den oder Rick das Whis­ky­glas gera­de­rückt, sei die Welt wohl nicht gänz­lich in Unord­nung. Das kun­dig gehand­hab­te Fisch­be­steck, poly­glot­te Welt­läu­fig­keit oder distin­gu­ier­ter Dress­code haben hier­zu­lan­de aller­dings all­zu bequem und fol­gen­reich einen kon­se­quenz­lo­sen »Kon­ser­va­ti­vis­mus« her­vor­ge­bracht und drapiert.

Er dien­te als Sur­ro­gat für den 1968 von den dama­li­gen Eli­ten weit­hin ver­wei­ger­ten Kul­tur­kampf. Doch Lebens­kunst und Kuli­na­rik impo­nie­ren nur, wo als essen­ti­el­ler Genuß auf der geis­ti­gen Spei­se­kar­te zugleich die Ver­tei­di­gung der Frei­heit steht.

Dies sei in aller Deut­lich­keit gesagt, wobei die bei­den hier gemus­ter­ten Rezen­sen­ten durch ihre öffent­li­che Posi­tio­nie­rung gewiß nicht im Ver­dacht ste­hen, dies zu igno­rie­ren. Als ich Götz Kubit­schek die­sen Auf­satz vor­schlug, zeig­te er umge­hend Interesse.

Über das, was sol­che Lage erfor­dert, grüb­le er schon seit drei Jahr­zehn­ten: »Aus mei­ner Sicht hat das, was wir tun, sym­bo­li­sche Bedeu­tung, und wir sind wahl­wei­se ›Zei­chen, deu­tungs­los‹ oder ›Zei­ger­pflan­zen‹ oder die­je­ni­gen, mit denen auf eine Wei­se umge­gan­gen wird, die das ›Sys­tem‹ zur Kennt­lich­keit ent­stel­len sollte.

Aber: Ich gewin­ne mehr und mehr den Ein­druck, daß es dem Sys­tem völ­lig egal ist, ob es zur Kennt­lich­keit ent­stellt wird. Denn wer nimmt die­se Ent­stel­lung noch wahr, wer zieht Kon­se­quen­zen dar­aus – wenn nicht wie­der wir selbst? Man ist dabei, uns alle Aus­gän­ge aus der Selbst­re­fe­ren­tia­li­tät zuzu­mau­ern, und viel­leicht hof­fen irgend­wo ein paar Leu­te, daß wir dem­nächst ent­we­der aufs Alten­teil gehen oder durchdrehen.

An wel­chem Punkt muß man auf­hö­ren zu kämp­fen? Gibt Ihr von Tow­les inspi­rier­ter Bei­trag eine Ant­wort dar­auf? Geht es, um einen Hou­el­le­becq-Titel zu zitie­ren, um ›die Mög­lich­keit einer Insel‹? Reicht uns das? Muß uns das rei­chen? Ist das Defätismus?«

Natür­lich nicht. Denn wer eige­ne Hand­lungs­vor­aus­set­zun­gen scho­nungs­los prüft, zeigt mehr Mut als der Zweck­op­ti­mist, der sich an kurz­fris­ti­gen Auf­merk­sam­keits­er­fol­gen berauscht. Es stimmt ja, daß unse­rer auf Alter­na­tiv­lo­sig­keit gepol­ten polit­me­dia­len Klas­se nahe­zu jedes Mit­tel (im dop­pel­ten Wort­sinn) recht ist, ihre Macht und Pfrün­den zu verdauern.

Daß sie neun Zehn­tel ihrer Anstren­gun­gen dar­auf rich­tet, nen­nens­wer­te Oppo­si­ti­on bereits phy­sisch zu ver­hin­dern, Geg­ner zum öffent­li­chen Gespräch wie­der aus- oder gar nicht erst ein­zu­la­den. Bei­spie­le hier­für zu doku­men­tie­ren, hie­ße eine Biblio­thek füllen.

Rich­tig ist auch, daß die­ses (Meinungs-)Imperium durch kei­ner­lei Skru­pel gebremst wird, in sei­nen erbärm­li­chen Tricks öffent­lich durch­schaut zu wer­den, solan­ge sich die Mas­se noch (mora­lisch) ein­schüch­tern läßt. Des­glei­chen, daß die­se ange­maß­te »wehr­haf­te Demo­kra­tie« rechts­staat­lich bereits mit her­un­ter­ge­las­se­ner Hose dasteht und die Pein­lich­keit nicht scheut, Ver­tre­ter eines gesell­schaft­li­chen Gegen­ent­wurfs durch post­de­mo­kra­ti­schen Druck auf ein kom­mu­ni­ka­ti­ves Insel­da­sein zu beschränken.

Der macht­fun­dier­te Zeit­geist­trend läuft somit ähn­lich gegen uns, wie das für Graf Ros­tow galt, unge­ach­tet der Para­do­xie, daß Ros­tow und wir die Rea­li­tät auf unse­rer Sei­te hat­ten und haben. Denn wie die sowje­ti­sche Uto­pie ein­mal an puren Tat­sa­chen schei­ter­te, läuft auch der Gegen­warts­kurs einem Fias­ko ent­ge­gen, das ledig­lich durch unge­deck­te Schecks auf eine glück­li­che Mensch­heits­zu­kunft ver­schlei­ert wird.

Doch im Recht sein allein nützt nichts; es braucht, um Mas­sen zu über­zeu­gen, auch das den Alter­na­ti­ven ver­wei­ger­te gro­ße Forum. Das spricht zumin­dest gegen ein unre­flek­tier­tes »Wei­ter so« zuguns­ten der Bereit­schaft, die Bedin­gun­gen der »Insel« klag­los anzunehmen.

Schon in der Rezen­si­on des Romans begriff Kubit­schek Tow­les’ Aus­gangs­si­tua­ti­on ja als »radi­ka­les Gleich­nis für das beding­te, in einen sehr engen Rah­men gefaß­te Leben an sich«. Man kön­ne in »jeder Grenz­set­zung eine Ver­hin­de­rung der Frei­heit sehen, man kann aber auch akzep­tie­ren, daß dies nun der Lebens­rah­men sei, den man aus­zu­ma­len habe, daß kein Jam­mern etwas dar­an ändern wer­de und man am bes­ten gleich damit begin­nen soll­te, mit kräf­ti­gen Pin­sel­stri­chen eine Spur zu hinterlassen.«

Sich mit der Insel­la­ge abzu­fin­den, heißt kon­kret, sich von Restil­lu­sio­nen zu ver­ab­schie­den, die Regen­ten der »Land­be­woh­ner« gestat­te­ten jemals frei­wil­lig einen kom­mu­ni­ka­ti­ven Lini­en­ver­kehr. Die­ses oder jenes Schiff­chen mag mal lan­den, um dann jedoch meist schnells­tens zurück­be­or­dert zu werden.

Auf sol­che Aus­nah­men zu spe­ku­lie­ren, hält also nur auf. Aus­sichts­rei­cher scheint, ohne kon­zes­sio­nä­re Tak­tik­spiel­chen ein­fach »sein Ding« zu machen und einen »kräf­ti­gen Strich« zu zie­hen. Als Außen­wir­kung bleibt dann zumin­dest der qua­si­my­thi­sche Ein­druck eines zwi­schen Absto­ßung und Sehn­sucht pen­deln­den unbe­setz­ten Orts jen­seits von ver­ord­ne­ter Einheitsgesinnung.

Auch ein polit­stra­te­gi­scher Rück­zug aus der vor­ders­ten Linie, um neue Kräf­te zu sam­meln, muß kein Tabu sein. Kann sogar zu neu­en Hori­zon­ten füh­ren, zur Kon­zen­tra­ti­on auf gesell­schaft­li­che wie kul­tu­rel­le Grund­la­gen eines noch unaus­ge­schöpf­ten Erbes.

Sich ein­mal tem­po­rär aus der geist­feind­li­chen Tages­a­gi­ta­ti­on zu ver­ab­schie­den, der stän­di­gen Kon­fron­ta­ti­on mit Pro­pa­gan­da­phra­sen, Ver­leum­dern, Intri­gan­ten, erin­ne­rungs­scheu­en Hecken­schüt­zen im eige­nen Lager oder Ziel­kom­pro­mis­sen, die oft Kapi­tu­la­tio­nen ähneln, durch­lüf­tet den Kopf.

Könn­te Aus­stieg sein zuguns­ten des Wesent­li­chen. Doch ver­gißt, wer anspruchs­voll leben will, bei die­ser berei­chern­den Beschei­dung nie den Zwang, der zu ihr führ­te. Und wo immer mög­lich, über­schrei­tet er fremd­ge­setz­te Gren­zen und sen­det, um im Bild zu blei­ben, vom Insel­leucht­turm aus erkenn­ba­re Blinkzeichen.

Im heu­ti­gen Poli­tik- und Kul­tur­ma­ra­thon schei­nen mir kurz­fris­ti­ge Erwar­tun­gen auf die Wen­de illu­sio­när, so pro­vo­zie­rend dies sein mag, wo Woche für Woche fata­le zukunfts­ver­stel­len­de Fak­ten geschaf­fen wer­den. Ande­rer­seits gilt bei aller Skep­sis, daß gera­de momen­ta­ne Rück­schlä­ge wesent­lich einem vor­an­ge­gan­ge­nen Rie­sen­er­folg der Alter­na­ti­ve geschul­det sind, der das Sys­tem gewal­tig herausforderte.

Die blei­er­ne Zeit eines Qua­si-Mono­pols von 68er Errun­gen­schaf­ten ist vor­über. Jün­gers »Wald­gän­ger« hört aktu­ell immer häu­fi­ger Klopf­ge­räu­sche poten­ti­ell Gleich­ge­sinn­ter. Mil­lio­nen wis­sen inzwi­schen, über Jahr­zehn­te in einer Medi­en­höh­le für Ahnungs­lo­se gefes­selt gewe­sen zu sein. Men­ta­li­täts­geo­gra­phisch ver­an­schau­licht, braucht man, um ein wirk­lich frei­es Gespräch zu füh­ren, heu­te nicht mehr Hun­der­te von Kilo­me­tern zu rei­sen, son­dern nur noch 50.

Oder anders bebil­dert: Die Insel trennt nicht mehr so her­me­tisch, weil sie zum Archi­pel wur­de, aus etli­chen wei­te­ren publi­zis­ti­schen Wider­spruchs­or­ga­nen und nicht zuletzt Inter­net­platt­for­men. Das Sys­tem kom­pen­siert dies zwar durch »zivil­ge­sell­schaft­li­che« Gene­ral­mo­bil­ma­chung und ver­schärf­te Repression.

Aber das schafft qua Empö­rung viel­leicht neue Rekru­tie­rungs­mög­lich­kei­ten. Das den­noch berech­tig­te Gefühl weit­ge­hen­der Abschnü­rung und Ein­fluß­lo­sig­keit ent­springt vor allem sehr ambi­tio­nier­ten Wün­schen nach Mas­sen­wir­kung und der ent­schei­den­den Wende.

Sie wie­der­um setzt den Kai­ros vor­aus: den güns­ti­gen geschicht­li­chen Moment. Man kann ihn nicht beschwö­ren, son­dern sich nur für ihn bereit­hal­ten. Das erfor­dert See­len­stär­ke und ein wenig von Ros­tows nach­ah­mens­wer­ter Gelas­sen­heit ohne fata­lis­ti­sche Selbstgenügsamkeit.

Der Glau­be an die eine Chan­ce, die viel­leicht doch noch kommt, ist mehr als bil­li­ger Trost und kei­nes­wegs irra­tio­nal. Auch 1989 kipp­te plötz­lich die Lage. Damals brach ein gigan­ti­sches, aber offen­bar mor­sches Impe­ri­um zusam­men – ent­ge­gen den Ana­ly­sen unse­rer links­las­ti­gen Poli­to­lo­gen, die das Knir­schen im Staat, Come­con und War­schau­er Pakt igno­rier­ten und in ihren »Lehr­bü­chern« etwa die DDR noch als eine der füh­ren­den Öko­no­mien der Welt priesen.

Und es kol­la­bier­te erstaun­li­cher­wei­se sogar ohne gewal­ti­ge mili­tä­ri­sche Kol­la­te­ral­schä­den. Graf Ros­tow also, wenn er denn 100 Jah­re alt gewor­den wäre, hät­te noch sei­ne Befrei­ung durch »Glas­nost« erlebt. Und wenn nicht? Dann bleibt unser Kampf eben nur »inne­res Erleb­nis«, was mehr ist als selbst­be­spie­geln­de Eitelkeit.

Zu den schwers­ten Cha­rak­t­er­prü­fun­gen für »Unzeit­ge­mä­ße« zähl­te schließ­lich über Jahr­zehn­te hin­weg die Bewah­rung von Hoff­nung ange­sichts eines auch im Poli­ti­schen »ver­bor­ge­nen Gotts«. Es braucht etwas vom Bewußt­sein des Sisy­phus, der stets wie­der von neu­em den Stein nach oben wälzt.

Oder fol­gen wir Storms lyri­schem Appell, man möge ein­fach han­deln, wie es die inne­re Stim­me gebietet:

Der eine fragt: Was kommt danach? / Der and­re fragt nur: Ist es recht? / Und also unter­schei­det sich / der Freie von dem Knecht.

Nichts schreibt sich
von allein!

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