Menschenwürde als Kampfbegriff?

PDF der Druckfassung aus Sezession 89/April 2019

Erik Lehnert

Erik Lehnert ist promovierter Philosoph.

Das Ver­wal­tungs­ge­richt Köln hat am 26. Febru­ar 2019 einem Eil­an­trag der AfD ent­spro­chen und ihre öffent­li­che Ein­stu­fung als »Prüf­fall« für rechts­wid­rig und unver­hält­nis­mä­ßig erklärt. Das Damo­kles­schwert der Beob­ach­tung scheint damit wie­der an einem etwas stär­ke­ren Faden zu hängen.

Wenn man AfD-Par­tei­chef Jörg Meu­then folgt, ist die­ses Schwert gar nicht mehr vor­han­den: Er sieht den Ver­such der »poli­tisch moti­vier­ten Instru­men­ta­li­sie­rung« des Ver­fas­sungs­schut­zes gegen die AfD auf­grund des Urteils als vor­erst geschei­tert an.

Eine sol­che Aus­sa­ge ist zwei­schnei­dig. Natür­lich ist sie für das Wahl­volk gedacht, das jetzt unbe­sorgt die AfD wäh­len kann. Sie ist aber auch Aus­druck des Gefühls, jetzt sei alles wie­der in bes­ter Ord­nung – als ob die poli­tisch moti­vier­te Instru­men­ta­li­sie­rung nur in dem Faux­pas der Ver­öf­fent­li­chung des Prüf­falls bestünde.

Indi­rekt sind damit sämt­li­che sons­ti­gen Abson­der­lich­kei­ten des Bun­des­am­tes für Ver­fas­sungs­schutz (BfV) legi­ti­miert, zumal Meu­then sich vor­sich­tig zuver­sicht­lich zeigt:

Er wird sich zukünf­tig hof­fent­lich nicht mehr poli­tisch instru­men­ta­li­sie­ren lassen.

Der Prä­si­dent des Bun­des­am­tes, Tho­mas Hal­den­wang, schätzt die Sache pro­fes­sio­nell ein:

Das BfV kon­zen­triert sich auf die vor­ran­gi­ge Auf­ga­be, die ich dar­in sehe, die Akti­vi­tä­ten der unter Extre­mis­mus­ver­dacht ste­hen­den Teil­or­ga­ni­sa­tio­nen ›Der Flü­gel‹ und ›Jun­ge Alter­na­ti­ve‹ zu beobachten.

Schon bei der Pres­se­kon­fe­renz im Janu­ar waren er und sei­ne Mit­ar­bei­ter nicht in der Lage, der Pres­se zu erklä­ren, wor­in sich ein öffent­li­cher von einem nicht­öf­fent­li­chen Prüf­fall unter­schei­de, da das BfV sowie­so nichts ande­res tun soll­te als zu prü­fen, ob Ver­dachts­mo­men­te für Extre­mis­mus vorliegen.

Das Ergeb­nis einer ers­ten Prü­fung war eben das fast fünf­hun­dert­sei­ti­ge Gut­ach­ten vom ver­gan­ge­nen Dezem­ber. Die­ses Schrift­stück hat in bes­ter Anti­fa-Manier Aus­sa­gen von Par­tei, Glie­de­run­gen und ein­zel­nen Mit­glie­dern ver­sam­melt und nach ver­wert­ba­ren Zita­ten abgeklopft.

Es war zwar als »VS-NfD« (Ver­schluß­sa­che – Nur für den Dienst­ge­brauch) ein­ge­stuft und wur­de den Betrof­fe­nen zur Ein­sicht­nah­me nicht vor­ge­legt; aber noch am Tag der Prä­sen­ta­ti­on wur­de es eini­gen Zei­tungs­re­dak­tio­nen zuge­spielt, und nach einer Woche war es bereits voll­stän­dig im Netz veröffentlicht.

Die Bun­des­re­gie­rung hat bis­lang davon abge­se­hen, eine Straf­an­zei­ge wegen Ver­let­zung des Dienst­ge­heim­nis­ses zu stel­len. Wer aller­dings die Behör­den für ein­fäl­tig und all die­se Unge­reimt­hei­ten für Zufäl­le oder Unge­schick­lich­kei­ten hält, dürf­te den Macht­wil­len des poli­ti­schen Geg­ners unterschätzen.

Durch die jetzt her­ge­stell­te Situa­ti­on haben alle Betei­lig­ten eine kom­for­ta­ble Aus­gangs­po­si­ti­on bezo­gen: Hal­den­wang hat bewie­sen, daß er in der Lage ist, »die ein­schlä­gi­gen Prio­ri­tä­ten der poli­ti­schen Klas­se rich­tig zu deu­ten« (jun­ge Welt vom 22. Janu­ar 2019), obwohl ihm als Juris­ten klar gewe­sen sein dürf­te, daß er sich mit der Ver­öf­fent­li­chung des Prüf­falls auf dün­nem Eis bewegt.

Die Behör­den haben den Anschein der Rechts­staat­lich­keit gewahrt, die Bun­des­re­gie­rung den Anschein der Gewal­ten­tei­lung, und auch die Bot­schaft an die Wäh­ler ist ein­deu­tig: Unser Staat ist so libe­ral, daß er maxi­ma­le Oppo­si­ti­on zuläßt, und obwohl die Ver­dachts­mo­men­te auf der Hand lie­gen, beugt er sich den Gerich­ten, ist aber gleich­zei­tig in der Lage, uns vor den wirk­li­chen Extre­mis­ten zu beschüt­zen, weil der Ver­fas­sungs­schutz sie im Auge behält.

Ein­deu­tig ist auch das Signal an die AfD: Wir sind kon­zi­li­ant bis zu einem gewis­sen Punkt, um den ihr euch rasch küm­mern soll­tet. Kurz­zei­tig stand inner­halb der Alter­na­ti­ve ja die Fra­ge im Raum, ob nicht der Ver­fas­sungs­schutz als poli­ti­sches Instru­ment der Macht­ha­ber abge­schafft wer­den sollte.

Aus die­ser berech­tig­ten For­de­rung ist nun auf einen Schlag wie­der eine staats­ge­fähr­den­de Son­der­mei­nung gewor­den. Die Gefahr für die AfD, den spal­te­ri­schen Win­ken nach­zu­ge­ben, ist mit dem Köl­ner Urteil grö­ßer gewor­den, da völ­lig aus dem Blick gerät, wel­che Ver­ren­kun­gen das BfV machen muß, um über­haupt Ver­dachts­mo­men­te zu konstruieren.

Von den gesetz­lich recht umfang­reich defi­nier­ten Auf­ga­ben des Ver­fas­sungs­schut­zes kom­men in dem »Gut­ach­ten zu tat­säch­li­chen Anhalts­punk­ten für Bestre­bun­gen gegen die frei­heit­li­che demo­kra­ti­sche Grund­ord­nung in der ›Alter­na­ti­ve für Deutsch­land‹ (AfD) und ihren Teil­or­ga­ni­sa­tio­nen« im Grun­de nur drei vor: Ver­stö­ße gegen die Men­schen­wür­de, das Rechts­staats­prin­zip sowie das Demo­kra­tie­prin­zip, mit­hin gegen die wesent­li­chen Bestand­tei­le der frei­heit­li­chen demo­kra­ti­schen Grundordnung.

Hin­zu kommt noch, was die Autoren als Revi­sio­nis­mus oder »Ver­bin­dun­gen zur Ideo­lo­gie des Natio­nal­so­zia­lis­mus« bezeich­nen – Kate­go­rien, die aller­dings nicht im Ver­fas­sungs­schutz­ge­setz vor­kom­men. Liest man sich aller­dings ent­lang die­ser Punk­te durch das Gut­ach­ten, so fällt der Haupt­teil aller gesam­mel­ten Infor­ma­tio­nen in den Bereich der Men­schen­wür­de und damit auf ein Schutz­gut, das nicht klar defi­niert wer­den kann und über das auch das Grund­ge­setz kaum inhalt­li­che Aus­sa­gen trifft.

Die damit erreich­te Eska­la­ti­ons­stu­fe wird deut­lich, wenn man die VS-Berich­te der letz­ten Jah­re auf die Men­schen­wür­de hin abklopft. Im aktu­el­len VS-Bericht kommt die­se Kate­go­rie ledig­lich am Ran­de vor, etwa wenn es um Sci­en­to­lo­gy oder den Ku-Klux-Klan geht, um Orga­ni­sa­tio­nen also, die ent­we­der ihre Mit­glie­der ent­mün­di­gen oder ihre Geg­ner nicht als gleich­wer­ti­ge Men­schen betrachten.

Im AfD-Gut­ach­ten ist das ganz anders. Dort heißt es zu Äuße­run­gen von Björn Höcke, sie stell­ten die Garan­tie der Men­schen­wür­de in Fra­ge, »weil sie dem Men­schen sei­ne Wür­de nicht um sei­ner selbst wil­len zuschrei­ben, son­dern sie von sei­ner Zuge­hö­rig­keit zum ›Volk‹ abhän­gig machen«.

Prä­gnan­tes Bei­spiel dafür sei eine Rede Höckes aus dem Jahr 2018.

In die­ser Rede for­dert Höcke zwar zunächst nur ›eine Zukunft für uns und unse­re Kin­der‹. Dann stellt er aber klar, dass dies nicht irgend­ei­ne Zukunft sein dür­fe, son­dern ›eine selbst­ver­ständ­lich deut­sche Zukunft‹ sein müs­se. Deut­sche sind für Höcke vor allen Din­gen als ›Trä­ger‹ der deut­schen Kul­tur von Bedeutung.

Wei­ter heißt es in Bezug auf ein im »Flü­gel« weit ver­brei­te­te Ver­ständ­nis deut­scher Iden­ti­tät, daß es »den ein­zel­nen Deut­schen auf sein Deutsch­tum« reduziere:

Allein das Über­le­ben des als his­to­risch gewach­se­ne, orga­ni­sche Ein­heit gedach­ten Vol­kes wird hier für wich­tig gehal­ten. Dahin­ter hat das Wohl­erge­hen des ein­zel­nen Men­schen zurück­zu­tre­ten. Die Wür­de des Men­schen wird ihm nicht um sei­ner selbst wil­len, son­dern auf­grund sei­ner Zuge­hö­rig­keit zum Volk zuge­schrie­ben. Denen, die nicht zu die­sem Volk gehö­ren, wird im Umkehr­schluss die Wür­de abgesprochen.

Daß die Ver­let­zung der Men­schen­wür­de in die­ser Form einen Extre­mis­mus­ver­dacht begrün­den soll, ist eine neue Erschei­nung. Der Jurist Thor v. Wald­stein hat früh und mehr­fach dar­auf hin­ge­wie­sen, daß sich durch das NPD-Nicht­ver­bots­ur­teil des BVerfG vom Janu­ar 2017 die Situa­ti­on grund­sätz­lich geän­dert hat, weil dar­in ein Gegen­satz zwi­schen der Men­schen­wür­de und dem Exis­tenz­recht der Völ­ker kon­stru­iert werde.

Die Men­schen­wür­de des Indi­vi­du­ums blei­be näm­lich fort­an nur dann unan­ge­tas­tet, »wenn der ein­zel­ne als grund­sätz­lich frei, wenn­gleich stets sozi­al gebun­den, und nicht umge­kehrt als grund­sätz­lich unfrei und einer über­ge­ord­ne­ten Instanz unter­wor­fen behan­delt wird.

Die unbe­ding­te Unter­ord­nung einer Per­son unter ein Kol­lek­tiv, eine Ideo­lo­gie oder eine Reli­gi­on stellt eine Miß­ach­tung des Wer­tes dar, der jedem Men­schen um sei­ner selbst wil­len, kraft sei­nes Per­son­seins (BVerfGE, 115, 118, 153) zukommt«. In die­ser Situa­ti­on gibt es für die AfD nun zwei mög­li­che Reaktionen:

  • 1. Man akzep­tiert die Her­an­ge­hens­wei­se des BfV, legt min­des­tens Höcke, wenn nicht allen, die vom Volk als poli­ti­scher Grö­ße mit Anspruch an den Ein­zel­nen nicht las­sen wol­len, den Par­tei­aus­tritt nahe und for­dert gleich­zei­tig Staat und Geg­ner auf, die poli­ti­sche Schlag­sei­te zu beenden.
    2. Man läßt sich nicht erschre­cken und greift die Kon­struk­ti­on dort an, wo sie am brü­chigs­ten ist: am miß­bräuch­li­chen Gebrauch des Begriffs der Men­schen­wür­de selbst. Denn die Kon­se­quenz aus der Her­an­ge­hens­wei­se des VS sind Sprech­ver­bo­te, die im Zwei­fel jede Kol­lek­tiv­zu­schrei­bung unter Stra­fe stel­len oder zumin­dest als ver­fas­sungs­feind­lich mar­kie­ren – und dadurch mit ande­ren Men­schen­rech­ten, etwa dem auf freie Mei­nungs­äu­ße­rung, kollidieren.

Vor­aus­set­zung für die­se Über­le­gung ist die Aner­kennt­nis der Tat­sa­che, daß auch die Recht­spre­chung von Karls­ru­he und die Aus­le­gung des Grund­ge­set­zes Kon­junk­tu­ren unter­wor­fen ist. Denn auch die durch die soge­nann­te Ewig­keits­klau­sel bewehr­ten Schutz­gü­ter sind inter­pre­ta­ti­ons­be­dürf­tig, was ins­be­son­de­re im Fall der Men­schen­wür­de zu einer Debat­te geführt hat, die so alt ist wie das Grund­ge­setz selbst.

Die letz­te Karls­ru­her Äuße­rung dazu steht recht ein­sam da und läßt die Ver­let­zung der Men­schen­wür­de als einen Aus­gangs­punkt für Ver­leum­dun­gen jeder Art erschei­nen. Die­se Belie­big­keit erin­nert an eine For­mu­lie­rung aus dem Jahr 1935, nach der eine Tat nicht nur dann zu betra­fen ist, wenn sie gegen ein Gesetz ver­stößt, son­dern auch dann, wenn sie »nach dem Grund­ge­dan­ken eines Straf­ge­set­zes und nach gesun­dem Volks­emp­fin­den Bestra­fung verdient«.

In bei­den Fäl­len liegt das Pri­mat auf der Poli­tik, nicht auf dem Recht. Der Wür­de­be­griff ist denk­bar unklar. Sei­ne Quel­le ist eine phi­lo­so­phi­sche, die seit der Eta­blie­rung des Chris­ten­tums von einer reli­giö­sen Annah­me über­deckt wird. Schon seit der Anti­ke wird der Begriff der Men­schen­wür­de in zwei­er­lei Sinn gebraucht.

Zum einen bezeich­net er den beson­de­ren Rang einer Per­son in der Gesell­schaft, wonach jemand eine Wür­de hat.  Zum ande­ren bezeich­net er das beson­de­re Merk­mal des Men­schen, das ihn vor ande­ren Lebe­we­sen aus­zeich­net. Der zwei­te Strang reicht über das christ­li­che Mit­tel­al­ter bis in die Gegen­wart: Danach machen die Got­tes­eben­bild­lich­keit und die Unsterb­lich­keit der See­le die beson­de­re Wür­de des Men­schen aus.

Erst die Renais­sance bestimm­te die Frei­heit als die Vor­aus­set­zung der Wür­de, aller­dings mit der auf die Got­tes­eben­bild­lich­keit bezug­neh­men­den Begrün­dung, daß bei­de, Mensch und Gott, einen Mikro­kos­mos dar­stell­ten, in dem alle Mög­lich­kei­ten ange­legt seien.

Zur Frei­heit tra­ten im Lau­fe der Zeit das Den­ken, die Ver­nunft, die Ein­sicht in das Wah­re, die Auto­no­mie des Gewis­sens und die Mög­lich­keit mora­lisch zu han­deln. Poli­tisch und damit kon­kret wur­den die­se Über­zeu­gun­gen in der Erklä­rung der Men­schen­rech­te im Anschluß an den ame­ri­ka­ni­schen Unabhängigkeitskrieg.

Mit dem Auf­kom­men des Sozia­lis­mus wur­de die Men­schen­wür­de ein poli­ti­scher Begriff, der sich vor allem gegen die sozia­len Miß­stän­de rich­te­te und die For­de­rung nach einem men­schen­wür­di­gen Dasein erhob. In einer Ver­fas­sung taucht die Men­schen­wür­de zum ers­ten Mal 1937 in Irland auf.

Ange­sichts der Dik­ta­tu­ren des 20. Jahr­hun­derts und deren Unmensch­lich­kei­ten erhielt die Wür­de des Men­schen eine ganz neue Bedeu­tung und fand ihren Ein­gang in das Grund­ge­setz (1949) und die Ver­fas­sung der DDR (1968). Seit­her stellt sich die Fra­ge, war­um man ein so unkla­res Prin­zip zu einem Grund­recht erho­ben hat, zumal die Aus­le­gung je nach Bedarf ange­paßt wer­den kann.

Als man bei­spiels­wei­se 1970 Abhör­maß­nah­men recht­fer­ti­gen woll­te, sah sich das BVerfG zu einer sehr zurück­hal­ten­den Defi­ni­ti­on der Men­schen­wür­de ver­an­laßt, die in einem kla­ren Span­nungs­ver­hält­nis zur Ent­schei­dung von 2017 steht:

All­ge­mei­ne For­meln wie die, der Mensch dür­fe nicht zum blo­ßen Objekt der Staats­ge­walt her­ab­ge­wür­digt wer­den, kön­nen ledig­lich die Rich­tung andeu­ten, in der Fäl­le der Ver­let­zung der Men­schen­wür­de gefun­den wer­den kön­nen. Der Mensch ist nicht sel­ten blo­ßes Objekt nicht nur der Ver­hält­nis­se und der gesell­schaft­li­chen Ent­wick­lung, son­dern auch des Rechts, inso­fern er ohne Rück­sicht auf sei­ne Inter­es­sen sich fügen muss.

Has­so Hof­mann, der als Ver­fas­sungs­ju­rist mit star­ker phi­lo­so­phi­scher Ader in den 90er Jah­ren in Ber­lin lehr­te, hat eben die­ses Dilem­ma, vor das uns die Men­schen­wür­de­ga­ran­tie stellt, in sei­ner Antritts­vor­le­sung behan­delt. Er zeigt auf meh­re­ren Fel­dern die Para­do­xien auf, in die uns die Men­schen­wür­de führt.

Zunächst sei Men­schen­wür­de im Rechts­sin­ne »kein Substanz‑, Qua­li­täts- oder Leistungs‑, son­dern ein Rela­ti­ons- oder Kom­mu­ni­ka­ti­ons­be­griff«, der »nicht los­ge­löst von einer kon­kre­ten Aner­ken­nungs­ge­mein­schaft gedacht wer­den« kön­ne. Hof­mann nennt die­sen Sach­ver­halt die »Dia­lek­tik der recht­li­chen Fest­le­gung eines uni­ver­sa­len Prin­zips durch einen bestimm­ten Staat«.

Solan­ge es kei­nen Welt­staat gebe, blei­be auch ein uni­ver­sa­les Prin­zip dar­auf ange­wie­sen, daß sich ein Staat, der klas­si­scher­wei­se aus Staats­volk, Staats­ge­biet und Staats­macht besteht, sei­ner annimmt und es auf sei­nem Boden verwirklicht.

Wir sind also nicht dazu ver­pflich­tet, das Men­schen­wür­de­prin­zip so aus­zu­le­gen, daß unse­re eige­ne Staat­lich­keit in Fra­ge gestellt wird. Ganz ähn­lich wie beim Sozi­al­staat, der nur auf einem abge­grenz­ten Ter­ri­to­ri­um für die dort leben­den Men­schen funk­tio­nie­ren kann, ist die Unan­tast­bar­keit der Men­schen­wür­de nur in eben die­sem Rah­men möglich.

Hin­zu kommt bei den gegen die AfD erho­be­nen Vor­wür­fen die ähn­lich grund­sätz­li­che Fra­ge, wer über­haupt in der Lage ist, die Men­schen­wür­de zu ver­let­zen. Nicht jede Belei­di­gung oder Miß­ach­tung wird als Ver­let­zung der Men­schen­wür­de gewer­tet, weil es zur Ent­wer­tung des Prin­zips führt, wenn dar­un­ter Fol­ter und schlech­te Umgangs­for­men glei­cher­ma­ßen fallen.

Laut Niklas Luh­mann, auf den sich auch Has­so Hof­mann in die­ser Fra­ge bezieht, ist Wür­de »das Ergeb­nis schwie­ri­ger, auf gene­rel­le Sys­tem­in­ter­es­sen der Per­sön­lich­keit bezo­ge­ner, teils bewuß­ter, teils unbe­wuß­ter Dar­stel­lungs­leis­tun­gen und in glei­chem Maße Ergeb­nis stän­di­ger sozia­ler Kooperation«.

Mit ande­ren Wor­ten: Es geht bei der Men­schen­wür­de um Aner­ken­nungs­ver­hält­nis­se und nicht um Seins­tat­sa­chen, wes­halb die Wür­de über­haupt so ver­letz­lich sei. Wür­de­ver­lust bedeu­te – so Luh­mann – Rück­zug aus der Öffent­lich­keit und hän­ge vom eige­nen Ver­hal­ten ab: »Sei­ne Wür­de hat der Mensch also in ers­ter Linie selbst zu verantworten.«

Als Resul­tat die­ser Ver­ant­wor­tung ver­steht Luh­mann die Wür­de als etwas, das durch direk­te Angrif­fe gar nicht zu ver­let­zen sei. Eine Ver­let­zung »liegt nur vor, wenn der respekt­los Behan­del­te dadurch in Kor­re­spon­denz­rol­len gezwun­gen wird, die er mit einer ach­tungs­wür­di­gen Selbst­dar­stel­lung nicht ver­ein­ba­ren kann; fer­ner natür­lich bei allen Ein­grif­fen in die pri­va­te Regie der Selbstdarstellung«.

Ganz ähn­lich wie Geh­len in Bezug auf den Huma­ni­ta­ris­mus for­mu­liert Luh­mann scharf:

Frei­heit unter Fremd­re­gie ist das Ende der Wür­de, jeden­falls der öffent­li­chen Wür­de des Men­schen, weil sie ihn zu per­sön­li­chen Dar­stel­lun­gen ver­an­laßt, die ihn in die Alter­na­ti­ve zwin­gen, ent­we­der inkon­sis­tent zu sein und in ein öffent­li­ches und ein pri­va­tes Selbst zu zer­fal­len oder sei­ne Eigen­heit ganz zuguns­ten der gefor­der­ten Linie aufzugeben.

Die­se Betrach­tun­gen stam­men aus dem Jahr 1965 und fin­den heu­te inso­fern eine ande­re Wirk­lich­keit vor, als daß durch die Zivil­ge­sell­schaft ein Fak­tor ent­stan­den ist, der auch ohne staat­li­che Hil­fe in der Lage ist, die Wür­de zu ver­letz­ten. Sie hat Eigen­schaf­ten ent­wi­ckelt, die zu Luh­manns Zei­ten nur mit Dik­ta­tu­ren in Ver­bin­dung gebracht wurden.

Der Zivil­ge­sell­schaft gelingt es mitt­ler­wei­le »hin­ter­lis­tig in die Regie der Wür­de« ein­zu­drin­gen, indem sie »frei­wil­li­ges Han­deln« ver­an­stal­tet und den­je­ni­gen, der sich dem nicht beugt, in den sozia­len Tod füh­ren kann – ein Merk­mal, das bis­lang tota­li­tä­ren Staa­ten vor­be­hal­ten war, und das sich durch die von jeder­mann ein­setz­ba­ren sozia­len Medi­en auf eine ver­häng­nis­vol­le Wei­se ver­stärkt hat.

In der Zivil­ge­sell­schaft tobt seit Auf­tre­ten der AfD ein spür­ba­rer Kampf um die Deu­tungs­ho­heit, in dem der Geg­ner den ein­deu­ti­gen Vor­teil hat, daß er sich den Staat ins­be­son­de­re an den poli­tisch rele­van­ten Stel­len zur Beu­te gemacht hat. Die Instru­men­ta­li­sie­rung der Men­schen­wür­de zum Kampf­be­griff ist ein Mit­tel, mit dem der unglei­che Kampf um die Zukunft Deutsch­lands geführt wird.

Der Par­ti­ku­la­ris­mus soll als Ideo­lo­gie der Men­schen­wür­de­ver­let­zung aus dem Kanon der ver­tret­ba­ren Mei­nun­gen gestri­chen wer­den. Neben die­ser Aus­sicht nimmt sich jede Debat­te um öffent­li­che und gehei­me Prüf­fäl­le als Ablen­kungs­ma­nö­ver aus, mit der die eigent­li­che Stoß­rich­tung ver­schlei­ert wer­den soll.

Erik Lehnert

Erik Lehnert ist promovierter Philosoph.

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