Grenzen der Macht: die Entente und die »Nachfolgestaaten«

von Lothar Höbelt
PDF der Druckfassung aus Sezession 89/April 2019

Jeg­li­cher Rück­blick auf die Pari­ser Vor­ort­ver­trä­ge ist mit der Ver­su­chung ver­bun­den, »poli­ti­cal cor­rect­ness« zur Abwechs­lung ein­mal mit umge­kehr­ten Vor­zei­chen zu prak­ti­zie­ren und sich nach Her­zens­lust über die »Sie­ger­mäch­te« her­zu­ma­chen, die für Ver­sailles ver­ant­wort­lich zeichneten.

Der Zeit­geist des 21. Jahr­hun­derts war­tet da noch mit einer Rei­he wei­te­rer Ankla­ge­punk­te auf: Wil­son wird an sei­ner alma mater Prince­ton gera­de als Ras­sist dekon­stru­iert; Lloyd Geor­ge hat­te immer schon ein gewis­ses me-too-Pro­blem; und auch von Cle­men­ceau fin­den sich genü­gend Zita­te, die »aus heu­ti­ger Sicht« garan­tiert Anlaß zu empör­tem Geschnat­ter geben könnten.

Frei­lich: Wem der­lei Etü­den einer ahis­to­ri­schen »Ver­gan­gen­heits­be­wäl­ti­gung« immer schon zuwi­der waren, soll­te die­ser lobens­wer­ten Devi­se nicht bei erst­bes­ter Gele­gen­heit untreu wer­den, nur weil es sich um Leu­te han­delt, mit denen unse­re Urgroß­vä­ter vor hun­dert Jah­ren ein­mal Krieg geführt haben.

Zwei­fels­oh­ne, es wäre für Euro­pa mit ziem­li­cher Sicher­heit bes­ser gewe­sen, wenn »wir« die­sen Krieg gewon­nen hät­ten. Oder, wie es ein Kol­le­ge – kein Deut­scher, son­dern ein rus­si­scher Fürst, der in Eng­land lehrt – bei einer der vie­len Tagun­gen zum Jah­re 1914 ein­mal aus­drückt hat: Wenn es ein Ver­bre­chen der Mit­tel­mäch­te war, die­sen Krieg zu begin­nen, dann war es ein min­des­tens eben­so gro­ßes, ihn nicht zu gewin­nen – weil Euro­pa sonst viel erspart geblie­ben wäre, Hit­ler und Sta­lin inklusive.

Doch wir haben lei­der nicht gewon­nen, oder eben: lei­der nur zum Teil: Der deut­sche Sieg im Osten wur­de durch die Nie­der­la­ge im Wes­ten näm­lich nicht wirk­lich rück­gän­gig gemacht. Ruß­land ver­lor im Ers­ten Welt­krieg noch viel mehr als Deutsch­land, vor allem aber: Mit der Macht­über­nah­me Lenins ver­lor Frank­reich sei­nen gro­ßen Ver­bün­de­ten, der es ihm bis­her ermög­licht hat­te, Deutsch­land in Schach zu halten.

Sei­ne neu­en Ver­bün­de­ten in Mit­tel- und Ost­eu­ro­pa boten kei­nen voll­wer­ti­gen Ersatz dafür. Das wie­der­um unab­hän­gi­ge Polen aber iso­lier­te Deutsch­land effek­tiv vor all­fäl­li­gem rus­si­schem Druck. Tat­säch­lich ver­lo­ren hat­te auch Öster­reich-Ungarn den Krieg, ohne Wenn und Aber.

Es zer­fiel 1918 in sei­ne Bestand­tei­le. Nicht weil man sich das in Lon­don, Paris oder Washing­ton in den Kopf gesetzt hat­te, son­dern weil die Natio­na­li­tä­ten der Habs­bur­ger­mon­ar­chie sich die Chan­ce nicht ent­ge­hen las­sen woll­ten, auch ein­mal – nach west­li­chem Mus­ter – Natio­nal­staat zu spie­len (auch wenn dabei erst recht wie­der klei­ne Viel­völ­ker­staa­ten herauskamen).

Die­se Wei­chen­stel­lung ließ sich in St. Ger­main und Tria­non 1919 / 20 nicht mehr rück­gän­gig machen, selbst wenn man es gewollt hät­te. Der bri­ti­sche Außen­mi­nis­ter Arthur Bal­four bezeich­ne­te Wil­son, Lloyd Geor­ge und Cle­men­ceau ein­mal als »three all­powerful, all-igno­rant men«.

Wie unwis­send sie waren, dar­über lie­ße sich lan­ge strei­ten. Wich­tig ist: sie waren kei­nes­wegs so all­mäch­tig. Alles, was die »Gro­ßen Drei« im kon­kre­ten Fall tun konn­ten, war die Gren­zen zen der neu­en Staa­ten ein wenig in der einen oder ande­ren Rich­tung zu verschieben.

An die­sen Gren­zen war vor allem Frank­reich inter­es­siert. Die USA zogen sich in die Iso­la­ti­on zurück und woll­ten ver­ständ­li­cher­wei­se in ers­ter Linie das Geld zurück, das sie ihren Alli­ier­ten in den letz­ten bei­den Jah­ren geborgt hat­ten. Das Inter­es­se des welt­um­span­nen­den bri­ti­schen Empire am Kon­ti­nent war endenwollend.

Die deut­sche Flot­te hat­te sich selbst ver­senkt; die Luft­waf­fe stell­te noch kei­ne nen­nens­wer­te Gefahr dar. Lloyd Geor­ge trat mehr­fach pol­ni­schen Ansprü­chen ent­ge­gen: Er setz­te in Ober­schle­si­en und in den Masu­ren Ple­bis­zi­te durch. Den pol­ni­schen Kor­ri­dor hiel­ten die Bri­ten für kei­ne gute Idee: er sei nicht die Kno­chen eines bri­ti­schen Gre­na­di­ers wert, for­mu­lier­te es Cham­ber­lain 1925 (wohl­ge­merkt Aus­ten, nicht sein Halb­bru­der Neville).

Aber einen Streit mit Frank­reich woll­te man über der­lei ent­le­ge­ne Fra­gen auch wie­der nicht ris­kie­ren. Frank­reich hat­te der Tsche­cho­slo­wa­kei die Sude­ten­ge­bie­te ver­spro­chen, den Rumä­nen das hal­be Banat und ganz Sie­ben­bür­gen. Mit dem Selbst­be­stim­mungs­recht, das 1918 von allen Sei­ten im Mun­de geführt und höchst selek­tiv gehand­habt wur­de, hat­te die­se Grenz­zie­hung nicht beson­ders viel zu tun.

Aber die­ses – immer noch ver­klau­su­lier­te – Selbst­be­stim­mungs­recht war ja auch kei­ne fran­zö­si­sche Idee gewe­sen, son­dern ein ame­ri­ka­ni­scher Schach­zug, um den Frie­dens­ver­hand­lun­gen von Brest-Litowsk im Janu­ar 1918 pro­pa­gan­dis­tisch irgend etwas ent­ge­gen zu setzen.

Als Eng­land dann nach­zog und – aus Grün­den, die mehr mit den Aktio­nen der Tsche­cho­slo­wa­ki­schen Legi­on in Sibi­ri­en zu tun hat­ten als mit dem Sude­ten­land – das tsche­cho­slo­wa­ki­sche Natio­nal­ko­mi­tee unter Masa­ryk und Beneš als unab­hän­gi­gen Staat aner­kann­te, spot­te­te selbst der ame­ri­ka­ni­sche Staats­se­kre­tär Lan­sing: Wenn er Öster­rei­cher wäre, wür­de er jetzt mit der Aner­ken­nung von Indi­en, Ägyp­ten und Irland kon­tern (was man in Wien übri­gens sehr wohl erwog, dann aber doch blei­ben ließ).

Natür­lich: Die Sie­ger hät­ten sich ein wenig groß­zü­gi­ger beneh­men und den Besieg­ten ein wenig mehr ent­ge­gen­kom­men kön­nen, den Ungarn etwa Groß­wardein und Kaschau las­send, oder Eger den Bay­ern und nicht den Böh­men gebend. (Letz­te­res wur­de kurz ange­spro­chen und dann wie­der fallengelassen.)

An den Kräf­te­ver­hält­nis­sen und Ant­ago­nis­men in Euro­pa hät­te sich dadurch nicht viel geän­dert. Die Ord­nung von 1919 ging nicht an ihrer »Unge­rech­tig­keit« zugrun­de. (Nota­be­ne: Die Ord­nung von 1945, mit Ver­trei­bung, KP-Herr­schaft und »Eiser­nem Vor­hang«, war nach allen gän­gi­gen Kri­te­ri­en noch viel unge­rech­ter – und doch sta­bi­ler, weil zwei Nukle­ar­mäch­te für ihren Bestand sorgten.)

Die »neue Welt­ord­nung« von 1918 schei­ter­te dar­an, daß kei­ne der Welt­mäch­te wirk­lich hin­ter ihr stand – die USA und Japan nicht, Deutsch­land und Ruß­land sowie­so nicht, das Bri­ti­sche Empire bes­ten­falls halb­her­zig. Ein­zi­ger Wäch­ter der Nach­kriegs­ord­nung blieb Frank­reich, von dem Bal­four abschät­zig sag­te: Was immer es auch am Rhein for­de­re, es blei­be eben doch nicht mehr als eine zweit­klas­si­ge Macht.

In Süd­ost­eu­ro­pa hieß der Sie­ger Ser­bi­en: Sei­ne Armee war stolz dar­auf, sechs Jah­re lang Krieg geführt zu haben (die Hälf­te davon im Exil). Sie hat­ten mit­ge­hol­fen, die zwei alten Groß­rei­che der Osma­nen und Habs­bur­ger zu zer­stö­ren. Aus Ser­bi­en wur­de 1918 das »König­reich der Ser­ben, Kroa­ten und Slo­we­nen«, ab 1929 dann Jugo­sla­wi­en genannt.

Das Schick­sal Kroa­ti­ens hing lan­ge in der Schwe­be. Wie ein kroa­ti­scher Pre­mier der Jahr­tau­send­wen­de so tref­fend sag­te: Der Ers­te Welt­krieg ist einer jener Kon­flik­te, von dem wir immer noch nicht wis­sen, ob wir ihn eigent­lich gewon­nen oder ver­lo­ren haben.

Letzt­lich war es ver­mut­lich der Druck Ita­li­ens, der Kroa­ti­en in die Arme Ser­bi­ens trieb. Daß die »Viri­bus Unitis«, das Flagg­schiff der k.u.k. Kriegs­ma­ri­ne, die Kai­ser Karl den Süd­sla­wen ver­macht hat­te, noch in der­sel­ben Nacht von den Ita­lie­nern ver­senkt wur­de, moch­te da ein sym­bol­träch­ti­ges Indiz sein. Ser­bi­en woll­te end­lich einen Zugang zum Meer, aber es ver­stand sich in ers­ter Linie als Balkanstaat.

Am Bal­kan blieb im wesent­li­chen alles beim alten. Der Frie­de von Neuil­ly 1918 / 20 zemen­tier­te nur die Rege­lung, wie sie seit der bul­ga­ri­schen Nie­der­la­ge im zwei­ten Bal­kan­krieg 1913 bestand. Maze­do­ni­en – das teils bul­ga­risch, teils alba­nisch war – blieb bei Ser­bi­en, also Jugoslawien.

Wie beliebt die­se Lösung vor Ort war, geht schon aus den Wahl­er­geb­nis­sen der zwan­zi­ger Jah­re her­vor: Weil kei­ne irre­den­tis­ti­sche Par­tei antre­ten durf­te, wähl­ten die maze­do­ni­schen (und mon­te­ne­gri­ni­schen) Dis­si­den­ten, alle­samt kei­ne klas­sen­be­wuß­ten Pro­le­ta­ri­er, ein­fach kommunistisch.

Die maze­do­ni­sche Unter­grund­be­we­gung IMRO schrieb sich in die Anna­len ein, als sie 1934 den König Alex­an­der ermor­de­te. Frei­lich: Zum Unter­schied von Sara­je­wo lös­te das Atten­tat kei­nen Krieg aus. Wenn ein paar grö­ßen­wahn­sin­ni­ge Offi­zie­re da im Früh­jahr 1941 nicht auf die Idee ver­fal­len wären, zum fal­schen Zeit­punkt zu put­schen, hät­te Jugo­sla­wi­en – das mit Hit­ler (oder zumin­dest mit Göring) ja lan­ge Zeit bes­te Bezie­hun­gen unter­hielt – den Zwei­ten Welt­krieg wohl rela­tiv unbe­scha­det überstanden.

Pro­ble­me mit der Nach­hal­tig­keit der Ord­nung von 1919 fin­den sich vor allem dort, wo die Gro­ßen Drei glaub­ten, tat­säch­lich nach Belie­ben schal­ten und wal­ten zu kön­nen: im Umfeld des Osma­ni­schen Rei­ches. Ver­trä­ge gab es da zwar auch. Einen ganz wich­ti­gen sogar.

Denn einer der Grün­de, war­um Ruß­land 1914 den gro­ßen Krieg in Kauf nahm, wur­de gern mit der For­mel umschrie­ben: Der Weg nach Kon­stan­ti­no­pel führt über Ber­lin. Im März 1915 ver­spra­chen die Eng­län­der – ganz gegen ihre außen­po­li­ti­schen Tra­di­tio­nen – dem Zaren die Meerengen.

Doch kurz danach schei­ter­te das Gal­li­po­li-Unter­neh­men. Chur­chill war bereit, einen Groß­teil der alten bri­ti­schen Schlacht­schif­fe zu opfern, um die Dar­da­nel­len zu durch­bre­chen. Doch sei­ne Admi­ra­le beka­men nach den ers­ten Ver­lus­ten kal­te Füße, Chur­chill wur­de als Sün­den­bock in die Wüs­te geschickt.

Der abge­bro­che­ne Durch­bruch war ein unter­schätz­ter Wen­de­punkt des Ers­ten Welt­kriegs. Eine sei­ner Fol­gen war: Das Zaren­reich kol­la­bier­te schon lan­ge vor dem Sul­tan. Die Fran­zo­sen hat­ten Grie­chen­land 1915 / 17 in den Krieg getrie­ben – und in den Bür­ger­krieg, zwi­schen König Kon­stan­tin, dem Schwa­ger Wil­helms II., und sei­nem Pre­mier Veni­zelos, der für die Entente optierte.

Auch Lloyd Geor­ge hat­te an den Grie­chen offen­sicht­lich einen Nar­ren gefres­sen. So belohn­te man Veni­zelos mit Kon­stan­ti­no­pel und einem Brü­cken­kopf in Klein­asi­en. Als die Tür­ken sich dann zu weh­ren began­nen, hat­ten die Fran­zo­sen bereits die Sei­ten gewech­selt und ein Arran­ge­ment mit Kemal Ata­türk getrof­fen – und Lloyd Geor­ge war nicht mehr Premier.

Sein Nach­fol­ger Andrew Bonar Law – ein gebür­ti­ger Kana­di­er – aber ließ als Devi­se Lon­dons »urbi et orbi« ver­kün­den: »We are not the poli­ce­men of the world.« Das Ergeb­nis war die Ver­trei­bung nicht bloß der grie­chi­schen Armee, son­dern der grie­chi­schen Zivil­be­völ­ke­rung aus Asi­en (und der Tür­ken aus Salo­ni­ki und Umge­bung) – ein Bei­spiel für eth­ni­sche Säu­be­run­gen, wie es ab 1939 dann mit Hit­ler und Sta­lin eif­ri­ge Nach­ah­mer fand.

Eine viel län­ge­re Inku­ba­ti­ons­zeit hat­te der Über­mut der West­mäch­te im Nahen Osten, wo die Kon­struk­ti­ons­feh­ler erst jetzt so rich­tig deut­lich wer­den. Die oft zitier­te Bal­four Decla­ra­ti­on von 1917 war dabei nur die Spit­ze des Eis­bergs. Sie ver­sprach, für die Juden eine »Heim­statt« in Paläs­ti­na zu schaffen.

Die Idee hat­ten auch die Deut­schen schon gehabt, woll­ten aber wäh­rend des Krie­ges ihre tür­ki­schen Ver­bün­de­ten nicht all­zu sehr damit rei­zen. Im For­eign Office nütz­te man die­ses »win­dow of oppor­tu­ni­ty«: Die Juden gal­ten welt­weit als pro-deutsch (zumin­dest solan­ge die Mit­tel­mäch­te gegen das Zaren­reich kämpften).

Viel­leicht konn­te man ihnen so einen Anreiz bie­ten, doch auch der Entente ein wenig von ihrer Gunst zu schen­ken. Frei­lich, wie hieß es so schön: »Wenn uns die Eng­län­der schon ein Land schen­ken, das ihnen nicht gehört, war­um nicht die Schweiz?«

Staats­recht­lich war der Begriff »Heim­statt« schließ­lich ziem­lich unver­bind­lich. Pein­li­cher schon war, daß die Eng­län­der den Rest des frucht­ba­ren Halb­monds gleich meh­re­ren Inter­es­sen­ten ver­spro­chen hat­ten. Ihr Pro­kon­sul in Ägyp­ten mach­te – mit Hil­fe von »Law­rence von Ara­bi­en« – der Sche­ri­fen-Dynas­tie der Hasche­mi­ten in Mek­ka und Medi­na schö­ne Augen; ihr Vize­kö­nig in Indi­en den Sau­dis – die sich in bei­den Welt­krie­gen einer erfolg­rei­chen Neu­tra­li­tät befleißigten.

Schon weni­ge Jah­re nach 1918 ver­trie­ben die Sau­dis dann die Hasche­mi­ten aus den hei­li­gen Stät­ten; die Fran­zo­sen war­fen sie aus Damas­kus hin­aus. Der Nahe Osten war mit Frank­reich in Ein­fluß­sphä­ren geteilt wor­den: Das Resul­tat waren zwei »Kunst­schöp­fun­gen der Alli­ier­ten« (Hel­mut Schmidt), die sich auf der Land­kar­te recht kom­pakt aus­neh­men, aber vor inne­ren Gegen­sät­zen über­quol­len: Syri­en und der Irak (den als Trost­preis dann doch ein Hasche­mi­ten­prinz erhielt, unter bri­ti­scher Kura­tel wohlgemerkt).

Auch den Ame­ri­ka­nern wur­de ein Man­dat des Völ­ker­bun­des über Arme­ni­en offe­riert, auf das sie dan­kend ver­zich­te­ten. Der Nahe Osten hat­te immer schon als die Regi­on gegol­ten, wo sich alle Kriegs­teil­neh­mer für ander­wei­ti­ge Ver­lus­te und Ent­täu­schun­gen schad­los hal­ten könnten.

Schon die Ori­ent­kri­se 1878 war auf die­se Wei­se berei­nigt wor­den. Para­do­xer­wei­se han­del­te es sich 1919 um Gebie­te, die kei­ner so wirk­lich haben woll­te. Allen­falls woll­te man ver­hin­dern, daß sich jemand ande­rer dort fest­setz­te. Cle­men­ceau hat­te für Kolo­ni­al­po­li­tik nicht viel übrig – sie galt ihm als eine Beschäf­ti­gung für katho­li­sche Mis­sio­na­re und mon­ar­chis­ti­sche Offi­zie­re, die ihm bei­de suspekt waren.

Die bri­ti­schen Mili­tärs waren über den Irak kei­nes­wegs begeis­tert: Der Hafen Bas­ra allein hät­te es ihrer Mei­nung nach auch getan. Ein Glück nur, daß man die auf­säs­si­gen Kur­den not­falls aus der Luft zur Räson brin­gen konn­te. Die Roy­al Air Force, die sich erst kürz­lich vom Heer eman­zi­piert hat­te, konn­te dar­aus eine Exis­tenz­be­rech­ti­gung ableiten.

Inter­es­sant war am Kur­den­ge­biet nur das Öl von Mos­sul: Das teil­te man sich brü­der­lich – aber dazu hät­te es der läs­ti­gen Ter­ri­to­ri­al­ver­wal­tung gar nicht bedurft. Berühmt wur­de der Ver­mitt­ler, »Mr. 5 Per­cent«, der Arme­ni­er Calous­te Gul­ben­ki­an, der sich mit sei­nem Anteil dann im Zwei­ten Welt­krieg nach Lis­sa­bon zurückzog.

Der ara­bi­sche Natio­na­lis­mus, den man gegen die Osma­nen mobi­li­siert hat­te, wand­te sich nach 1918 gegen die Sie­ger. Aber er war lan­ge Zeit vor allem in Ägyp­ten behei­ma­tet (das Eng­land schon eine Gene­ra­ti­on frü­her besetzt hat­te). All­zu gro­ße Dyna­mik ent­wi­ckel­te er anders­wo erst nach dem Zwei­ten Welt­krieg (der sich für so ziem­lich alle Kolo­ni­al­völ­ker als Kata­ly­sa­tor am Wege zur Unab­hän­gig­keit erwies).

Der eigent­li­che Haken war, daß sich hin­ter der Fas­sa­de pan-ara­bi­scher Soli­da­ri­tät ein kon­fes­sio­nel­les Mosa­ik ver­barg. Die Kolo­ni­al­her­ren stütz­ten sich ger­ne auf Min­der­hei­ten, die sich schwer­lich auf die Volks­sou­ve­rä­ni­tät beru­fen konn­ten, wie die Ala­wi­ten in Syri­en oder die sun­ni­ti­schen Ara­ber im Irak.

Aber es hat immer­hin fast hun­dert Jah­re gedau­ert, bevor ihren Erben die­se Kon­struk­ti­ons­feh­ler um die Ohren flo­gen. Ganz abge­se­hen davon, daß der Nahe Osten wohl die mei­st­über­schätz­te Regi­on die­ser Erde ist: Der zeit­li­che Abstand läßt die Fahr­läs­sig­keit von 1919 bei­na­he schon als läß­li­che Sün­de erscheinen.

Fazit: Eine beson­ders glück­li­che Hand haben die Sie­ger bei der Ver­tei­lung der Erb­mas­se der bei­den alten Groß­rei­che nicht bewie­sen. Wäh­rend vie­le der Schöp­fun­gen von Brest-Litowsk 1989 wie­der­auf­leb­ten, zer­fiel so man­che Krea­ti­on von Ver­sailles und St. Germain.

Die Auf­lö­sung der Habs­bur­ger­mon­ar­chie kom­men­tier­te jemand ein­mal bos­haft: Der Bal­kan rei­che jetzt eben bis Tet­schen (heu­te: Deˇcˇín), der böh­mi­schen Grenz­sta­ti­on zu Sach­sen. Aber die Pole­mik gegen Saint Ger­main war über­zo­gen. Zu dem Zeit­punkt war die Kuh bereits aus dem Stall.

Die Auf­lö­sung der Habs­bur­ger­mon­ar­chie wur­de dort nicht beschlos­sen, son­dern nur mehr rati­fi­ziert. Um die »Ur-Kata­stro­phe« des 20. Jahr­hun­derts ein­zu­däm­men, hät­te man den Krieg spä­tes­tens 1916/17 been­den müs­sen. Damals fiel die Ent­schei­dung. Auch da las­sen sich nach­voll­zieh­ba­re Grün­de fin­den, war­um die einen gar nicht und die ande­ren nur halb­her­zig dar­auf ein­ge­gan­gen sind.

Auf alle Fäl­le: 1919 war es zu spät.

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