Jeglicher Rückblick auf die Pariser Vorortverträge ist mit der Versuchung verbunden, »political correctness« zur Abwechslung einmal mit umgekehrten Vorzeichen zu praktizieren und sich nach Herzenslust über die »Siegermächte« herzumachen, die für Versailles verantwortlich zeichneten.
Der Zeitgeist des 21. Jahrhunderts wartet da noch mit einer Reihe weiterer Anklagepunkte auf: Wilson wird an seiner alma mater Princeton gerade als Rassist dekonstruiert; Lloyd George hatte immer schon ein gewisses me-too-Problem; und auch von Clemenceau finden sich genügend Zitate, die »aus heutiger Sicht« garantiert Anlaß zu empörtem Geschnatter geben könnten.
Freilich: Wem derlei Etüden einer ahistorischen »Vergangenheitsbewältigung« immer schon zuwider waren, sollte dieser lobenswerten Devise nicht bei erstbester Gelegenheit untreu werden, nur weil es sich um Leute handelt, mit denen unsere Urgroßväter vor hundert Jahren einmal Krieg geführt haben.
Zweifelsohne, es wäre für Europa mit ziemlicher Sicherheit besser gewesen, wenn »wir« diesen Krieg gewonnen hätten. Oder, wie es ein Kollege – kein Deutscher, sondern ein russischer Fürst, der in England lehrt – bei einer der vielen Tagungen zum Jahre 1914 einmal ausdrückt hat: Wenn es ein Verbrechen der Mittelmächte war, diesen Krieg zu beginnen, dann war es ein mindestens ebenso großes, ihn nicht zu gewinnen – weil Europa sonst viel erspart geblieben wäre, Hitler und Stalin inklusive.
Doch wir haben leider nicht gewonnen, oder eben: leider nur zum Teil: Der deutsche Sieg im Osten wurde durch die Niederlage im Westen nämlich nicht wirklich rückgängig gemacht. Rußland verlor im Ersten Weltkrieg noch viel mehr als Deutschland, vor allem aber: Mit der Machtübernahme Lenins verlor Frankreich seinen großen Verbündeten, der es ihm bisher ermöglicht hatte, Deutschland in Schach zu halten.
Seine neuen Verbündeten in Mittel- und Osteuropa boten keinen vollwertigen Ersatz dafür. Das wiederum unabhängige Polen aber isolierte Deutschland effektiv vor allfälligem russischem Druck. Tatsächlich verloren hatte auch Österreich-Ungarn den Krieg, ohne Wenn und Aber.
Es zerfiel 1918 in seine Bestandteile. Nicht weil man sich das in London, Paris oder Washington in den Kopf gesetzt hatte, sondern weil die Nationalitäten der Habsburgermonarchie sich die Chance nicht entgehen lassen wollten, auch einmal – nach westlichem Muster – Nationalstaat zu spielen (auch wenn dabei erst recht wieder kleine Vielvölkerstaaten herauskamen).
Diese Weichenstellung ließ sich in St. Germain und Trianon 1919 / 20 nicht mehr rückgängig machen, selbst wenn man es gewollt hätte. Der britische Außenminister Arthur Balfour bezeichnete Wilson, Lloyd George und Clemenceau einmal als »three allpowerful, all-ignorant men«.
Wie unwissend sie waren, darüber ließe sich lange streiten. Wichtig ist: sie waren keineswegs so allmächtig. Alles, was die »Großen Drei« im konkreten Fall tun konnten, war die Grenzen zen der neuen Staaten ein wenig in der einen oder anderen Richtung zu verschieben.
An diesen Grenzen war vor allem Frankreich interessiert. Die USA zogen sich in die Isolation zurück und wollten verständlicherweise in erster Linie das Geld zurück, das sie ihren Alliierten in den letzten beiden Jahren geborgt hatten. Das Interesse des weltumspannenden britischen Empire am Kontinent war endenwollend.
Die deutsche Flotte hatte sich selbst versenkt; die Luftwaffe stellte noch keine nennenswerte Gefahr dar. Lloyd George trat mehrfach polnischen Ansprüchen entgegen: Er setzte in Oberschlesien und in den Masuren Plebiszite durch. Den polnischen Korridor hielten die Briten für keine gute Idee: er sei nicht die Knochen eines britischen Grenadiers wert, formulierte es Chamberlain 1925 (wohlgemerkt Austen, nicht sein Halbbruder Neville).
Aber einen Streit mit Frankreich wollte man über derlei entlegene Fragen auch wieder nicht riskieren. Frankreich hatte der Tschechoslowakei die Sudetengebiete versprochen, den Rumänen das halbe Banat und ganz Siebenbürgen. Mit dem Selbstbestimmungsrecht, das 1918 von allen Seiten im Munde geführt und höchst selektiv gehandhabt wurde, hatte diese Grenzziehung nicht besonders viel zu tun.
Aber dieses – immer noch verklausulierte – Selbstbestimmungsrecht war ja auch keine französische Idee gewesen, sondern ein amerikanischer Schachzug, um den Friedensverhandlungen von Brest-Litowsk im Januar 1918 propagandistisch irgend etwas entgegen zu setzen.
Als England dann nachzog und – aus Gründen, die mehr mit den Aktionen der Tschechoslowakischen Legion in Sibirien zu tun hatten als mit dem Sudetenland – das tschechoslowakische Nationalkomitee unter Masaryk und Beneš als unabhängigen Staat anerkannte, spottete selbst der amerikanische Staatssekretär Lansing: Wenn er Österreicher wäre, würde er jetzt mit der Anerkennung von Indien, Ägypten und Irland kontern (was man in Wien übrigens sehr wohl erwog, dann aber doch bleiben ließ).
Natürlich: Die Sieger hätten sich ein wenig großzügiger benehmen und den Besiegten ein wenig mehr entgegenkommen können, den Ungarn etwa Großwardein und Kaschau lassend, oder Eger den Bayern und nicht den Böhmen gebend. (Letzteres wurde kurz angesprochen und dann wieder fallengelassen.)
An den Kräfteverhältnissen und Antagonismen in Europa hätte sich dadurch nicht viel geändert. Die Ordnung von 1919 ging nicht an ihrer »Ungerechtigkeit« zugrunde. (Notabene: Die Ordnung von 1945, mit Vertreibung, KP-Herrschaft und »Eisernem Vorhang«, war nach allen gängigen Kriterien noch viel ungerechter – und doch stabiler, weil zwei Nuklearmächte für ihren Bestand sorgten.)
Die »neue Weltordnung« von 1918 scheiterte daran, daß keine der Weltmächte wirklich hinter ihr stand – die USA und Japan nicht, Deutschland und Rußland sowieso nicht, das Britische Empire bestenfalls halbherzig. Einziger Wächter der Nachkriegsordnung blieb Frankreich, von dem Balfour abschätzig sagte: Was immer es auch am Rhein fordere, es bleibe eben doch nicht mehr als eine zweitklassige Macht.
In Südosteuropa hieß der Sieger Serbien: Seine Armee war stolz darauf, sechs Jahre lang Krieg geführt zu haben (die Hälfte davon im Exil). Sie hatten mitgeholfen, die zwei alten Großreiche der Osmanen und Habsburger zu zerstören. Aus Serbien wurde 1918 das »Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen«, ab 1929 dann Jugoslawien genannt.
Das Schicksal Kroatiens hing lange in der Schwebe. Wie ein kroatischer Premier der Jahrtausendwende so treffend sagte: Der Erste Weltkrieg ist einer jener Konflikte, von dem wir immer noch nicht wissen, ob wir ihn eigentlich gewonnen oder verloren haben.
Letztlich war es vermutlich der Druck Italiens, der Kroatien in die Arme Serbiens trieb. Daß die »Viribus Unitis«, das Flaggschiff der k.u.k. Kriegsmarine, die Kaiser Karl den Südslawen vermacht hatte, noch in derselben Nacht von den Italienern versenkt wurde, mochte da ein symbolträchtiges Indiz sein. Serbien wollte endlich einen Zugang zum Meer, aber es verstand sich in erster Linie als Balkanstaat.
Am Balkan blieb im wesentlichen alles beim alten. Der Friede von Neuilly 1918 / 20 zementierte nur die Regelung, wie sie seit der bulgarischen Niederlage im zweiten Balkankrieg 1913 bestand. Mazedonien – das teils bulgarisch, teils albanisch war – blieb bei Serbien, also Jugoslawien.
Wie beliebt diese Lösung vor Ort war, geht schon aus den Wahlergebnissen der zwanziger Jahre hervor: Weil keine irredentistische Partei antreten durfte, wählten die mazedonischen (und montenegrinischen) Dissidenten, allesamt keine klassenbewußten Proletarier, einfach kommunistisch.
Die mazedonische Untergrundbewegung IMRO schrieb sich in die Annalen ein, als sie 1934 den König Alexander ermordete. Freilich: Zum Unterschied von Sarajewo löste das Attentat keinen Krieg aus. Wenn ein paar größenwahnsinnige Offiziere da im Frühjahr 1941 nicht auf die Idee verfallen wären, zum falschen Zeitpunkt zu putschen, hätte Jugoslawien – das mit Hitler (oder zumindest mit Göring) ja lange Zeit beste Beziehungen unterhielt – den Zweiten Weltkrieg wohl relativ unbeschadet überstanden.
Probleme mit der Nachhaltigkeit der Ordnung von 1919 finden sich vor allem dort, wo die Großen Drei glaubten, tatsächlich nach Belieben schalten und walten zu können: im Umfeld des Osmanischen Reiches. Verträge gab es da zwar auch. Einen ganz wichtigen sogar.
Denn einer der Gründe, warum Rußland 1914 den großen Krieg in Kauf nahm, wurde gern mit der Formel umschrieben: Der Weg nach Konstantinopel führt über Berlin. Im März 1915 versprachen die Engländer – ganz gegen ihre außenpolitischen Traditionen – dem Zaren die Meerengen.
Doch kurz danach scheiterte das Gallipoli-Unternehmen. Churchill war bereit, einen Großteil der alten britischen Schlachtschiffe zu opfern, um die Dardanellen zu durchbrechen. Doch seine Admirale bekamen nach den ersten Verlusten kalte Füße, Churchill wurde als Sündenbock in die Wüste geschickt.
Der abgebrochene Durchbruch war ein unterschätzter Wendepunkt des Ersten Weltkriegs. Eine seiner Folgen war: Das Zarenreich kollabierte schon lange vor dem Sultan. Die Franzosen hatten Griechenland 1915 / 17 in den Krieg getrieben – und in den Bürgerkrieg, zwischen König Konstantin, dem Schwager Wilhelms II., und seinem Premier Venizelos, der für die Entente optierte.
Auch Lloyd George hatte an den Griechen offensichtlich einen Narren gefressen. So belohnte man Venizelos mit Konstantinopel und einem Brückenkopf in Kleinasien. Als die Türken sich dann zu wehren begannen, hatten die Franzosen bereits die Seiten gewechselt und ein Arrangement mit Kemal Atatürk getroffen – und Lloyd George war nicht mehr Premier.
Sein Nachfolger Andrew Bonar Law – ein gebürtiger Kanadier – aber ließ als Devise Londons »urbi et orbi« verkünden: »We are not the policemen of the world.« Das Ergebnis war die Vertreibung nicht bloß der griechischen Armee, sondern der griechischen Zivilbevölkerung aus Asien (und der Türken aus Saloniki und Umgebung) – ein Beispiel für ethnische Säuberungen, wie es ab 1939 dann mit Hitler und Stalin eifrige Nachahmer fand.
Eine viel längere Inkubationszeit hatte der Übermut der Westmächte im Nahen Osten, wo die Konstruktionsfehler erst jetzt so richtig deutlich werden. Die oft zitierte Balfour Declaration von 1917 war dabei nur die Spitze des Eisbergs. Sie versprach, für die Juden eine »Heimstatt« in Palästina zu schaffen.
Die Idee hatten auch die Deutschen schon gehabt, wollten aber während des Krieges ihre türkischen Verbündeten nicht allzu sehr damit reizen. Im Foreign Office nützte man dieses »window of opportunity«: Die Juden galten weltweit als pro-deutsch (zumindest solange die Mittelmächte gegen das Zarenreich kämpften).
Vielleicht konnte man ihnen so einen Anreiz bieten, doch auch der Entente ein wenig von ihrer Gunst zu schenken. Freilich, wie hieß es so schön: »Wenn uns die Engländer schon ein Land schenken, das ihnen nicht gehört, warum nicht die Schweiz?«
Staatsrechtlich war der Begriff »Heimstatt« schließlich ziemlich unverbindlich. Peinlicher schon war, daß die Engländer den Rest des fruchtbaren Halbmonds gleich mehreren Interessenten versprochen hatten. Ihr Prokonsul in Ägypten machte – mit Hilfe von »Lawrence von Arabien« – der Scherifen-Dynastie der Haschemiten in Mekka und Medina schöne Augen; ihr Vizekönig in Indien den Saudis – die sich in beiden Weltkriegen einer erfolgreichen Neutralität befleißigten.
Schon wenige Jahre nach 1918 vertrieben die Saudis dann die Haschemiten aus den heiligen Stätten; die Franzosen warfen sie aus Damaskus hinaus. Der Nahe Osten war mit Frankreich in Einflußsphären geteilt worden: Das Resultat waren zwei »Kunstschöpfungen der Alliierten« (Helmut Schmidt), die sich auf der Landkarte recht kompakt ausnehmen, aber vor inneren Gegensätzen überquollen: Syrien und der Irak (den als Trostpreis dann doch ein Haschemitenprinz erhielt, unter britischer Kuratel wohlgemerkt).
Auch den Amerikanern wurde ein Mandat des Völkerbundes über Armenien offeriert, auf das sie dankend verzichteten. Der Nahe Osten hatte immer schon als die Region gegolten, wo sich alle Kriegsteilnehmer für anderweitige Verluste und Enttäuschungen schadlos halten könnten.
Schon die Orientkrise 1878 war auf diese Weise bereinigt worden. Paradoxerweise handelte es sich 1919 um Gebiete, die keiner so wirklich haben wollte. Allenfalls wollte man verhindern, daß sich jemand anderer dort festsetzte. Clemenceau hatte für Kolonialpolitik nicht viel übrig – sie galt ihm als eine Beschäftigung für katholische Missionare und monarchistische Offiziere, die ihm beide suspekt waren.
Die britischen Militärs waren über den Irak keineswegs begeistert: Der Hafen Basra allein hätte es ihrer Meinung nach auch getan. Ein Glück nur, daß man die aufsässigen Kurden notfalls aus der Luft zur Räson bringen konnte. Die Royal Air Force, die sich erst kürzlich vom Heer emanzipiert hatte, konnte daraus eine Existenzberechtigung ableiten.
Interessant war am Kurdengebiet nur das Öl von Mossul: Das teilte man sich brüderlich – aber dazu hätte es der lästigen Territorialverwaltung gar nicht bedurft. Berühmt wurde der Vermittler, »Mr. 5 Percent«, der Armenier Calouste Gulbenkian, der sich mit seinem Anteil dann im Zweiten Weltkrieg nach Lissabon zurückzog.
Der arabische Nationalismus, den man gegen die Osmanen mobilisiert hatte, wandte sich nach 1918 gegen die Sieger. Aber er war lange Zeit vor allem in Ägypten beheimatet (das England schon eine Generation früher besetzt hatte). Allzu große Dynamik entwickelte er anderswo erst nach dem Zweiten Weltkrieg (der sich für so ziemlich alle Kolonialvölker als Katalysator am Wege zur Unabhängigkeit erwies).
Der eigentliche Haken war, daß sich hinter der Fassade pan-arabischer Solidarität ein konfessionelles Mosaik verbarg. Die Kolonialherren stützten sich gerne auf Minderheiten, die sich schwerlich auf die Volkssouveränität berufen konnten, wie die Alawiten in Syrien oder die sunnitischen Araber im Irak.
Aber es hat immerhin fast hundert Jahre gedauert, bevor ihren Erben diese Konstruktionsfehler um die Ohren flogen. Ganz abgesehen davon, daß der Nahe Osten wohl die meistüberschätzte Region dieser Erde ist: Der zeitliche Abstand läßt die Fahrlässigkeit von 1919 beinahe schon als läßliche Sünde erscheinen.
Fazit: Eine besonders glückliche Hand haben die Sieger bei der Verteilung der Erbmasse der beiden alten Großreiche nicht bewiesen. Während viele der Schöpfungen von Brest-Litowsk 1989 wiederauflebten, zerfiel so manche Kreation von Versailles und St. Germain.
Die Auflösung der Habsburgermonarchie kommentierte jemand einmal boshaft: Der Balkan reiche jetzt eben bis Tetschen (heute: Deˇcˇín), der böhmischen Grenzstation zu Sachsen. Aber die Polemik gegen Saint Germain war überzogen. Zu dem Zeitpunkt war die Kuh bereits aus dem Stall.
Die Auflösung der Habsburgermonarchie wurde dort nicht beschlossen, sondern nur mehr ratifiziert. Um die »Ur-Katastrophe« des 20. Jahrhunderts einzudämmen, hätte man den Krieg spätestens 1916/17 beenden müssen. Damals fiel die Entscheidung. Auch da lassen sich nachvollziehbare Gründe finden, warum die einen gar nicht und die anderen nur halbherzig darauf eingegangen sind.
Auf alle Fälle: 1919 war es zu spät.