Der »reale Liberalismus« erscheint 28 Jahre nach dem Zerfall der Sowjetunion immer noch als alternativloser Sieger über die Geschichte. Das Amalgam aus marktwirtschaftlichem Kapitalismus und parlamentarischer Demokratie reüssiert als globale Blaupause einer für endgültig erklärten Gesellschaftsform.
In den letzten Jahrzehnten legte die aggressive US-amerikanische Außenpolitik der »Demokratisierung« davon Zeugnis ab: Sie »hat einem großen und anleitenden Ziel zu dienen: die aktuelle Zeit des amerikanischen Einflusses in Generationen demokratischen Friedens zu verwandeln«, so George W. Bush jr. 1999 bei einer Rede in der Ronald-Reagan-Präsidentenbibliothek in Kalifornien kurz vor seiner ersten Amtszeit.
In derselben Rede hob er außerdem die Verbindung aus liberalem Wirtschaften und demokratischer Praxis hervor: »Das Argument für den Handel ist nicht nur ein monetäres, sondern auch ein moralisches. Wirtschaftliche Freiheiten erzeugen Gewohnheiten der Freiheit.
Und Gewohnheiten der Freiheit erzeugen Demokratieerwartungen.« Jedoch wird beim Perpetuieren derlei liberalistischer und neokonservativer Glaubenssätze gern übersehen, daß die Existenz moderner Gesellschaften auf einer Voraussetzung beruht, die spätestens seit der Ölkrise 1973 als fragil gelten kann: (fossile) Energie.
Beide Sphären, sowohl die ökonomische als auch die soziale, sind in höchstem Maße von dauerhaften Energieflüssen und energetischen Ressourcen abhängig. Für den marktwirtschaftlichen Kapitalismus westlicher Provenienz war und ist der durch die fossile Energie produzierte Mehrwehrt unerläßlich und konstituierend.
Der Gang von der Agrargesellschaft über die Industrialisierung in die post-modernen Dienstleistungsgesellschaften finanzkapitalistischer Prägung wäre ohne die Nutzbarmachung von Kohle, Öl und Gas undenkbar gewesen. Zur Veranschaulichung: Ein Barrel Öl liefert eine Energiemenge, die dem Äquivalent von 25 000 Stunden menschlicher Arbeitskraft entspricht.
Addiert man zum bisher verbrauchten Öl noch die in den wirtschaftlichen Prozeß eingebrachten Mengen an Kohle und Gas hinzu, schlagen etwa 750 Milliarden menschliche Arbeitsleben zu Buche, die durch fossile Energieträger in die wirtschaftliche Produktion der modernen Gesellschaften flossen.
In diesem Zusammenhang zeigte Max Weber 1923 am Beispiel Englands auf, daß ohne eine Verkokung der Kohle der industrielle Aufschwung Anfang des 18. Jahrhunderts zum Erliegen gekommen wäre: »Überall brachte die Waldverwüstung die industrielle Entwicklung an einem bestimmten Punkt zum Stillstand. Von der Bindung an die organisch gegebenen Stoffe des Pflanzenreiches emanzipierte sich die Eisenverhüttung erst durch Verwendung der Steinkohle« – der »unterirdische Wald« rettete den oberirdischen und garantierte das ökonomische Wachstum.
Seit der Industrialisierung stieg die Verwendung fossiler Brennstoffe unentwegt, während zeitgleich der Anteil menschlicher Arbeit in der Landwirtschaft und in der primären Energieproduktion in Korrelation zum realen Preis von Lebensmitteln und Treibstoff sank.
Dieser Preisverfall schlug sich kombiniert mit dem durch die Energieaufwendung erzeugten Mehrwert in allgemeinem Wohlstand nieder; freiwerdende Arbeitskraft wurde in höher qualifizierte Bereiche und Dienstleistungssektoren umgelenkt, um die wachsenden Bedürfnisse der neuen Konsumgesellschaft zu befriedigen, deren erhöhte Nachfrage wiederum erst aus dem Einsatz fossiler Brennstoffe und Innovationen rührte.
Ein sich selbstverstärkender Prozeß der Vernutzung war in Gang gekommen, der (um Ernst-Wolfgang Böckenfördes Diktum auf dieses Feld zu übertragen) von einer gesamtgesellschaftlichen Substanz lebt, die er selbst nicht (wieder-)herstellen kann.
Indessen zehrt die liberale, »offene« Gesellschaft von den technischen und wirtschaftlichen Produkten des ökonomischen Sektors. Die kapitalistische Trinität aus Industrialisierung (Energienutzung), Wohlstand und Mobilität entzog das gemeine Individuum seiner angestammten Bindungen an Boden und (familiärer) Gemeinschaft, was Entgrenzung, sozialem Laissez-faire und individualistischem Selbstentfaltungsstreben die Tore öffnete.
Hierbei nahm die Erfindung der Eisenbahn (Mobilität) eine Schlüsselrolle ein: Mit ihrem Erscheinen explodierte der Bedarf und die Produktion sowohl im Konsumgütersektor als auch im Maschinenbau und der Schwerindustrie. Die Stadtagglomeration etwa des Ruhrgebiets, und die damit verbundene Ballung von Bevölkerung und Industrie, konnte überhaupt erst durch das Transportmittel Eisenbahn entstehen.
Im Windschatten der Dampflok transformierte sich die Gesellschaft von einer agrarisch geprägten zu einer industriellen, in der Unternehmer, Industriearbeiter und später auch Angestellte das Bevölkerungsbild bestimmten. Märkte und Warentausch, Arbeitsmarkt und Lohnarbeit verdrängten die traditionelle Verbindung zwischen Produktionseinheit und Solidargemeinschaft des Mittelalters – Zusammenschlüsse von Produzenten waren simultan genossenschaftsartige Versorgungseinrichtungen und kapitalistische Betriebe gewesen.
Der »alte« Kapitalismus verkörperte eine gemischtwirtschaftliche Ordnung, insofern als die ökonomisch-technische Entwicklung der industriellen Produktion an ethische Werte des Wirtschaftens gebunden war (siehe Zinsverbot der Zünfte) und damit die Aktivitäten eines Betriebs direkt mit seiner Verantwortung für das gesamte soziale Leben verband.
Wenn man also dem liberalen Wirtschaften eine konservative Alternative gegenüberstellen möchte, so stünde mit der korporativen Wirtschaftsordnung des Mittelalters ein Orientierungspunkt zur Verfügung, welcher der Entfesselung, die Bezugnahme auf Ordnung, gesellschaftliche Verantwortung und einen Ausgleich der Gesamtheit der Interessen entgegensetzte.
Allerdings war das neue, mit energetischen Hilfsmitteln am Laufen gehaltene Produktionsregime mit seiner exorbitanten Mehrwertallokation dazu in der Lage, durch eine Umverteilung in Form des Sozialstaates fürs Erste seine atomisierende Wirkung abzufedern und die soziale Fürsorge vom Solidarverband der Familie auf den Staat umzulegen.
Das sorgte aber zeitgleich für eine Auflösung familiärer Bindungen, als von nun an zum Beispiel die Pflege der älteren Familienmitglieder an Heime, finanziert durch staatliche Altersvorsorge und Krankenkassen, übertragen werden konnte. Im 20. Jahrhundert unterspülten Wohlstand und Sozialstaat die Institution »Familie« und beraubten sie ihres gemeinschaftlichen Gewichts.
Die fortschreitende Arbeitsteilung einer ausufernden sozialen Differenzierung ließ die traditionellen Geschlechterrollen als überkommene Relikte dunkler, »repressiver« Vergangenheiten erscheinen. Die Frau wurde vom Arbeitsmarkt »entdeckt«, die Kinderbetreuung organisiert, die Rollenverteilung aufgehoben.
Speziell im Dienstleistungssektor sind viele Tätigkeiten androgyner Natur, und das Geschlecht ist damit kein limitierender Faktor der Ausübung mehr. Hohe Scheidungsraten, Beschränkung auf die Kernfamilie, sinkende Geburtenraten und die »Ehe für alle« sind Folgen des Bedeutungsverlusts eines einstmals konstituierenden Elements europäischer Gesellschaften.
Auch in diesem Kontext kommt der Faktor »Mobilität« zum Tragen: War der »Heiratsmarkt« bis Mitte des 20. Jahrhunderts aufgrund des regionalen Horizonts für die meisten Deutschen überschaubar gewesen, so ergibt sich in den Zeiten von Automobil, Partnerbörsen, ständigem Wohnrt- und Arbeitgeberwechsel, eine gefühlt unerschöpfliche Opportunitätsstruktur der Partnerwahl, die eine ständige, »bessere« Alternative zum Status quo suggeriert.
Man ist nicht mehr mit dem Gegebenen zufrieden, sondern sucht das Optimierte – wie das Wort »Heiratsmarkt« impliziert, ist auch die engste der menschlichen Bindungen nicht von der Feilbietung auf vermeintlich »unverbindlichen« Märkten verschont geblieben: Im »realen Liberalismus« wird alles zur Ware, wird alles zum Marktprojekt.
Ähnliches gilt für die Migration. Man kann die Entgrenzung als das Ergebnis von Energieaufwendung und technologischem Fortschritt betrachten – Flugzeug, Auto und Bahn als Vehikel des Kosmopoliten. Zeitgleich wird Migration als funktionaler Prozeß der Arbeitskraftbeschaffung verstanden, der die Vernutzungsmaschine am Laufen halten soll.
Wie bereits erwähnt, sinkt als Folge der Überflußgesellschaft die Fertilitätsrate der Autochthonen; es mangelt, wenn man so möchte, am menschlichen Treibstoff für das Produktionsregime. Sofern sich die Migranten in das bestehende System einpassen und nicht in Parallelgesellschaften abkapseln, sind sie alsbald denselben (wirtschaftlichen) Zwängen unterworfen wie die einheimische Urbevölkerung. Ihre Geburtenrate gleicht sich an die der Deutschen an und das Spiel der ausländischen Arbeitskraftbeschaffung muß von neuem beginnen.
An diesem Teufelskreis wird deutlich, warum im Eingang des Aufsatzes vom Aufbrauchen der gesamtgesellschaftlichen Substanz die Rede war, die das systemische Geflecht aus Energieversorgung, Industrie- und Konsumstrukturen nicht regenerieren kann.
Zwar konnte der allgemeine Überfluß, der sich ab dem »Wirtschaftswunder« der 1950er Jahre über das Land gelegt hatte, die Risse in der Fassade des »realen Liberalismus« kaschieren und übertünchen, jedoch koppelt die Prosperitätstrunkenheit negativ zurück und erzeugt selbst mehr Probleme als sie zu lösen vermag.
Trotz der nachteiligen sozialen (Neben)-Effekte und ihrer destabilisierenden Wirkung für das Gemeinwesen, ist die Geschichte des »realen Liberalismus« eine Geschichte des materiell verstandenen Erfolges. Wie auch immer sich seine Zukunft gestalten wird, man kann ihm seine derzeitige Dominanz über den europäischen Kontinent und seine weltweite Strahlkraft kaum absprechen.
Gleichwohl ist das letzte Wort keineswegs gesprochen, das Ende der Geschichte noch nicht erreicht. Denn unabhängig von seinen sozialen Unzulänglichkeiten setzte aufgrund des ungezügelten Energieverbrauchs des liberalen Wirtschaftssystems zudem eine Problematik ein, die Rolf Peter Sieferle im Epochenwechsel als »Umweltkrise« beschreibt: Die Natur sei von einer »Krise« erfaßt, »sie steht an der Schwelle zu einer Transformation in einen anderen, neuartigen Zustand, der sich von den überkommenen Naturzuständen in wesentlichen Zügen unterscheiden wird«.
Sieferle sieht die »Umweltkrise« als »Resultat der Unterkomplexität des Steuerungsvermögens kulturell-industrieller Strukturen in Relation zur höheren Komplexität von Naturzusammenhängen, die ihrerseits Randbedingungen dieser kulturell-industriellen Strukturen bilden, von diesen jedoch in einer Weise gestört werden, daß die Erfüllung dieser Randbedingungen nicht mehr gewährleistet ist«.
Anders ausgedrückt stehen die modernen Gesellschaften mit ihren natürlichen Rahmenbedingungen in einer Dissonanz, die letztlich in der substantiellen Störung oder sogar im völligen Kollaps des Gesamtsystems resultieren muß. Damit nicht genug, sind die Ressourcen, von denen die »kulturell-industriellen Strukturen« zehren, endlich.
Weber erkannte, daß »der Raubbau an den Bodenschätzen seine zeitlichen Grenzen haben« wird, das »eiserne Zeitalter« höchstens ein Jahrtausend andauern könne. Der Eintritt bevölkerungsreicher Schwellenländer wie China oder Indien in die Phase wirtschaftlichen und industriellen Wachstums spitzt die Lage sowohl in Bezug auf die »Umweltkrise« als auch die Ressourcenknappheit weiter zu.
Die deutsche Energiewende kann in diesem Zusammenhang als der Versuch gelten, über alternative (erneuerbare) Rohstoffquellen »Fortschritt« und Wachstum zu sichern, indem sie die negativen Effekte des industriellen Komplexes verringern und die Abhängigkeit von limitierten Ressourcen beenden soll.
Derweil steht dieses Unterfangen vor dem Paradoxon, daß es in seiner absoluten Konsequenz einen Schritt zurück in die Fläche bedeutet, der ohne eine einschneidende Verringerung des Energieverbrauchs keine Sicherung der Elektrizitätsnachfrage garantieren kann.
Unter den aktuellen technischen Voraussetzungen bedeutet Energiewende Schrumpfung statt Wachstum, weswegen sie als energetischer Heilsbringer der Überflußgesellschaft ins Leere läuft. Letzten Endes scheint die Begrenzung der Entfesselung der Moderne unausweichlich, sei es nun in Bezug auf gesellschaftliche Institutionen oder den Energieverbrauch.
Der Blick auf diese Prozesse ist für die »Neue Rechte« von großem Interesse, und zwar in mehrfacher Hinsicht:
1. Die energetische Perspektive durchleuchtet die Mechanismen moderner Gesellschaften und ihre Schwachpunkte und Defizite. Sie befähigt uns zu einer genaueren Beschreibung des liberalen Systems und bewahrt uns davor, Politiken implementieren zu wollen, die bereits am bestehenden Energieregime und seinen sozialen Anreizstrukturen scheitern müssen.
2. Sie ruft uns die Relevanz der Ökologie und unsere eigene Position zur selben zurück ins Gedächtnis. Wie soll aus rechter Perspektive Energienutzung erfolgen? Wie gestaltet sich rechter Naturschutz? Unser ureigenes Thema liegt schon viel zu lange brach und wurde in Gestalt der Grünen an eine Partei veräußert, die selbst Teil des Problems ist und nicht seine Lösung.
3. Sie zeigt uns, daß eine stabile Industriegesellschaft eine Illusion bleibt, insofern als sie materiell, symbolisch und normativ »auf dem Verzehr von Beständen« beruht.
4. Sie stellt die Frage nach der nationalen Souveränität, denn nur wer selbstbestimmt über seine Energieressourcen verfügt, ist souverän.
Erste Schritte zur Fokussierung der energetischen Perspektive in unserem Milieu sind bereits getan: Thomas Hoofs Artikel »Das Ende der Reichlichkeit« in der Sommerausgabe der Vierteljahresschrift Tumult von 2018 elaboriert den hochdynamischen Prozeß der Modernisierung entlang seiner Energiezufuhr, während das Internetmagazin anbruch-magazin.de danach strebt, die Ökologie für die Rechte zurückzuerobern.
Jetzt geht es darum, die Thematik der Energienutzung und ihrer gesellschaftlichen Auswirkungen weiter zu verfolgen sowie die damit verbundene Positionierung zur ökologischen Frage den ihr in der Neuen Rechten zustehenden Raum zu verschaffen.
Wir stehen am Anfang eines Epochenwechsels, der maßgeblich durch energetische Variablen ausgelöst wurde und auch von ihnen geprägt sein wird. Wenn die kommende Epoche eine Epoche der Rechten werden soll, dann brauchen wir Antworten auf die systemimmanente Instabilität des Liberalismus, die über den Themenkomplex der Nation und Migration hinausgehen.