WEISS: Antaios hatte großen Erfolg mit einer Neuübersetzung des Romans Das Heerlager der Heiligen von Jean Raspail. Es gibt einige Abschnitte in Guerilla, die an Raspail erinnern. Ist dieser Klassiker unumgänglich, wenn man eine in Frankreich spielende Geschichte dieser Art schreibt?
OBERTONE: Zwangsläufig haben wir es alle im Kopf, weil wir es alle gelesen haben, unabhängig vom jeweiligen politischen Zugang. Raspails Buch erschien 1973 und galt seinerzeit als übertrieben, als alarmistisch. Wenn man aber heute die Schiffe mit den Migranten sieht, die nach Europa kommen, ja, zwischen Afrika und Europa pendeln, wenn man sieht, wie Europa gespalten ist und daß es jedenfalls keine Entschlossenheit gegen die Ankunft dieser Migranten gibt, dann hat man wirklich das Gefühl, das Heerlager zu durchleben.
Alle meine Leser sprechen mich darauf an, es gibt Bezugnahmen, auch wenn nicht alles gleich abläuft: Raspail war wirklich prophetisch, weil er alles Heutige schon vor vierzig Jahren beschrieben hat; ich hingegen beschreibe etwas, das quasi aktuell ist.
Ich suche die Reaktionen der Protagonisten nicht in der Zukunft, sie existieren bereits. Das ist vielleicht der große Unterschied zwischen den beiden Büchern.
WEISS: Sie stellen jedem der 53 Kapitel Ihres Romans ein kurzes Zitat voran, von ganz verschiedenen Autoren. Sind das Ihre prägenden Lektüren? Welche waren entscheidend, sowohl im Bereich der Literatur als auch im Politischen?
OBERTONE: Diese Autoren sind nicht zwangsläufig direkte Beeinflusser, aber sie ergeben ein Gesamtbild der abendländischen Kultur, die ich im Buch auch zu Ihrem Recht kommen lassen wollte, mit dem Hintergedanken, daß diese Kultur durch die gegenwärtigen Ereignisse insgesamt bedroht ist.
Heute haben wir die Tendenz zu glauben, daß alle, die vor uns gewesen sind, deutlich weniger gescheit waren als wir, jedenfalls nicht wußten, wo es lang geht, während wir das sehr wohl wüßten. Ich wollte zeigen, daß es einen kulturellen Bestand gibt, einen starken, sehr hellsichtigen, der eine scharfe Auffassung der Dinge vermittelt.
Meine literarischen Einflüsse sind eher klassisch: Paul Valéry, Saint-Exupery, Cioran, Saint-John Perse – also keine wirklich politisch engagierten Autoren, aber solche, die viel darüber nachgedacht haben, wie man Botschaften auf dem Wege der Literatur übermitteln kann.
WEISS: In Ihrem Bestseller zu Gewalt und Kriminalität im heutigen Frankreich, La France Orange Mécanique, sprechen Sie viel von »infractions«, was an den Begriff »nuisance« denken läßt, den Renaud Camus geschaffen hat – ein prägender Autor?
OBERTONE: Camus ist jemand, der sehr gut schreibt, vielleicht sogar ein bißchen zu gut, um von einem breiten Publikum gelesen zu werden. Einige Schlagworte werden bleiben, »Großer Austausch« etwa, alles sehr eingängig; aber nur sehr wenige werden sich die Mühe machen, Camus wirklich zu lesen.
Natürlich gehört er zu jenen, die sehr früh erkannt haben, was passieren wird (wie Jean Raspail) und daß das entscheidende Thema des Jahrzehnts, womöglich sogar des Jahrhunderts der Vorgang ist, der gerade abläuft: die Migration. Unumgängliche Referenzen also.
WEISS: Ich bin zufällig auf Guerilla gestoßen, in einer ganz und gar »gewöhnlichen« Buchhandlung – hat der Erfolg von Orange mécanique auch Sie unumgänglich gemacht, sogar für den kommerziellen Hauptstrom im Buchhandel, der ein solches Buch ansonsten kaum auch nur im Sortiment hätte?
OBERTONE: Ab dem Zeitpunkt, wo Orange mécanique diesen Erfolg hatte, hat sich die Maschinerie, haben sich die Buchhandlungen, ein wenig angepaßt. Natürlich haben einige von ihnen das Buch trotzdem nicht angeboten. Aber der Großteil sind ja schlicht Händler, und letzten Endes wurde Orange mécanique recht breit präsentiert.
Das ermöglichte anderen, dahinterstehenden Büchern – sowohl meinen eigenen als auch jenen meines Verlags RING insgesamt – eine gewisse Aufmerksamkeit von Seiten jener, die in dieser Branche Entscheidungen treffen.
WEISS: Guerilla ist jenen gewidmet, »die nicht verstanden haben« – und zu diesen muß man wohl insbesondere viele Medien oder das Antifa-Milieu zählen. Sie verwenden ein Pseudonym – waren Sie dazu gezwungen, aufgrund von Drohungen dieser Kreise?
OBERTONE: Ich habe dieses Pseudonym gewählt, um weiterhin »unpolitisch« arbeiten und dennoch politische Gedanken darlegen zu können, die ich im Rahmen der Arbeit als Zeitungsjournalist nicht haben durfte. Nach Orange mécanique hat mir das Pseudonym geholfen, weil mir dieser nüchterne Bericht über die Explosion der Gewalt in Frankreich tatsächlich Drohungen eingebracht hat; und so war es gut, meine öffentliche Person von der privaten zu trennen.
WEISS: In Guerilla schreiben Sie auch über eine Bloggerin, die sich verzweifelt um eine Reinterpretation der eigentlich erdrückenden Fakten und Realitäten bemüht, deren Opfer sie später selbst wird …
OBERTONE: Diese Kreise, die ich in meinem Buch in gewisser Weise karikiere, repräsentieren die politische Korrektheit, das »Wohldenkenken«. Sie leben von der Behauptung, eine höherwertige Interpretation der Dinge zu besitzen, die dem gesunden Menschenverstand weit überlegen sei, der eher dem niedrigen Volk zugerechnet wird; sie konstatieren die Fakten zwar, aber sie leugnen und umschiffen sie und tun so, als ob man zu einem völlig anderen Schluß kommen müsse.
Diese Menschen schweben in gewisser Weise über den Realitäten, weil sie die finanziellen Mittel haben, den unangenehmen Konsequenzen der Realität zu entgehen. Sie lehnen es ab, egal wie deren Taten auch sein mögen, »Individuen zu stigmatisieren«; im Gegenteil, man ist außerordentlich großzügig, sehr offen, man zeigt es auch und zieht daraus seinen Stolz, sein Überlegenheitsgefühl.
Diese Spezies ist in Frankreich sehr verbreitet – früher oder später wird aber auch diese Utopie auf die Realität stoßen und dieser Schock wird, wie im Buch beschrieben, sehr heftig werden.
WEISS: Ein sehr wichtiger Begriff in ihrem Buch und in Frankreich insgesamt ist das vivre ensemble, aus dem bei Ihnen später das bien vivre ensemble und dann das tres bien vivre ensemble wird. Bitte erklären Sie diesen Begriff.
OBERTONE: Zusammenleben, gutes Zusammenleben, vorzügliches Zusammenleben – das sind Begriffe, die es früher nicht gab, weil man sie nicht brauchte. Denn wenn das Zusammenleben funktioniert, braucht man es nicht zu postulieren und zu beschwören: Die Leute leben zusammen, weil sie dasselbe Leben teilen und solidarisch sind, das ist dann ganz normal.
All diese Begriffe, auch der Citoyen, der jetzt ständig beschworen wird: Das waren Selbstverständlichkeiten, und erst später mußte man unter dem Druck der sich verschlechternden Realitäten gewisse beschwichtigende Termini einführen. Wenn man festsetzt, daß vivre ensemble etwas Großartiges ist, gibt es da eben auch den Subtext, der besagt, daß es da ein Problem gegeben haben muß, dem man durch diese Beschwörungsformeln begegnen wollte.
WEISS: Vivre ensemble ist also ein Begriff, der in den Medien, in der Politik, wirklich benutzt wird?
OBERTONE: Er ist sogar einer der fundamentalen Begriffe des politischen Diskurses: Da gibt es die »valeurs de la République« und eben das vivre ensemble, das sind echte Mantras. Sie werden massiv eingesetzt und haben vielleicht tatsächlich eine beruhigende oder sogar hypnotische Wirkung auf das Auditorium.
Es wird uns ja immer gesagt, daß die Einwanderung quasi unvermeidlich sei, ein natürliches Phänomen, daß es dergleichen schon immer gab und man es daher akzeptieren müsse, und außerdem sei sie ja auch noch eine Chance für alle. Gleich zwei gute Gründe also, sich zu öffnen und zusammenzuleben.
In vivre ensemble schwingt aber eben auch mit, daß es kein wirkliches vivre ensemble gibt, daß jeder in seiner Gemeinschaft bleibt und jene vielbeschworenen Brücken, die alle bereichern sollen, gar nicht existieren.
WEISS: Sie selbst haben sich jedenfalls schon in die »Realpolitik« gestürzt und einen Aufruf an die damalige Justizministerin Taubira gerichtet, bezüglich nicht verhängter oder verbüßter gerichtlicher Strafen. Worum ging es dabei?
OBERTONE: Man muß wissen, daß in Frankreich das Strafrecht, sprich das Gesetz, nicht mehr wie vorgesehen angewendet wird. Wenn sie irgendeinem Verfahren beiwohnen, werden Sie feststellen, daß Vergewaltigung zwar mit 15 Jahren Gefängnis und 75.000 EUR Geldstrafe zu bestrafen ist, der Strafantrag des Staatsanwaltes diese Höchstgrenze allerdings nie erreicht.
Es wird sich immer um zehn Jahre handeln, ohne Geldstrafe, und der Richter wird dann häufig auf ein Strafausmaß befinden, das wiederum unterhalb des Strafantrags liegt, auf sieben Jahre im Allgemeinen. Die Person, die ins Gefängnis soll, hat anschließend mit einem »Strafvollzugsrichter« zu tun, der darüber entscheidet, in welcher Weise die Gefängnisstrafe absolviert wird.
Meist wird dieser einen Teil der Strafe auf das Tragen einer Fußfessel beschränken. Und geradezu automatisch wird der Häftling schließlich von einem Straferlaß profitieren. Aus vier werden zwei oder drei Jahre. Auf diese Weise werden alljährlich unzählige Gefängnisstrafen nicht exekutiert – sonst wären die Gefängnisse völlig überfüllt.
Aber man lehnt es ab, Gefängnisse zu bauen und die Strafen zu vollziehen, denn die darüberliegende Ideologie sagt, daß man den Tätern eine zweite, dritte oder vierte Chancen geben müsse. Die Bevölkerung verlangt sicher sehr nach harten Strafen, aber das Milieu der Entscheidungsträger, die Gesetzgeber also, die Medien, sind ein progressistisches Milieu, das in die umgekehrte Richtung strebt.
Die Idee einer Bestrafung existiert im Grunde überhaupt nicht mehr, man spricht nicht mehr davon, den Täter von der Gesellschaft zu trennen, um diese zu schützen, sondern darüber, ihm zu helfen, ihn zu verstehen und ihn zu begleiten. Ich wollte, indem ich die Justizministerin zur Rede gestellt habe, den Bürgern ermöglichen, die Realität wahrzunehmen.
WEISS: Gab es eine Reaktion?
OBERTONE: Nein, natürlich nicht, weil das ja wirklich zwei verschiedene Welten sind – Welten, die einander ignorieren. Man kann bei der politisch korrekten Welt nachfragen, so viel man möchte, sie ist von ihrem reinen Gewissen überzeugt und betrachtet uns als die Inkarnation des Bösen, daher gibt es keinen Dialog.
Das ist es aber, was ich mit meinen Büchern versuche: einen Bindestrich zwischen diese beiden Welten zu setzen und davor zu warnen, daß die Bevölkerung ihre Ansichten immer mehr radikalisieren wird, gegenüber den Migranten, den Kriminellen und sogar gegenüber dieser Oberschicht.
Und diese Oberschicht wird ihrerseits ebenfalls ihre Ansichten radikalisieren und darauf beharren, die Migranten seien Heilige, und sie seien – wie die Kriminellen – Opfer der Gesellschaft, die unteren autochthonen Bevölkerungsschichten jedoch glühende, kulturlose Rassisten.
WEISS: Sie erwähnen in Guerilla auch einen Arzt, der verstanden hat, wie die Dinge laufen – und trotzdem gezwungen ist, ständig die Wunden zu heilen, die das vivre ensemble geschlagen hat. Haben Sie die Hoffnung, daß jene, die beruflich mit den heutigen Realitäten konfrontiert sind, irgendwann aus der Schweigespirale ausbrechen werden?
OBERTONE: Diese Leute gehören eben trotz ihres Wissens um die Realitäten einem Milieu an, das ihre Worte sehr genau beobachtet und eine Anpassung an den herrschenden Diskurs von ihnen verlangt. Diese Leute denken sich: Ich habe vierzig Jahre damit zugebracht, die Karriereleiter hinaufzusteigen, ich werde nicht von heute auf morgen das aussprechen, was mich sofort abstürzen lassen wird.
Demselben Phänomen begegnet man bei den Medien. Ich bin sogar bekannten Journalisten großer Medien begegnet, die im Grunde mit allem übereinstimmten, was ich sage – aber aussprechen können sie es nicht. Es ist ein bißchen wie bei einem Sardinenschwarm – eine könnte kehrtmachen, und vielleicht folgen die anderen – aber wer wird diese eine sein?
WEISS: Die Geschichte von Guerilla beginnt in Courneuve – ein realer oder imaginärer Ort?
OBERTONE: Ein realer Ort, im Departement 93, jenem mit der höchsten Kriminalität und den krassesten Sozialproblemen. Die Banlieue-Siedlung Cité Taubira selbst ist fiktiv, aber in Courneuve gibt es die »Cité der 4000«, die sehr bekannt ist, als Hort überbordender Kriminalität.
Für die Polizei ist es sehr gefährlich, diese Siedlung auch nur zu betreten; wenn sie es tut, dann früh am Morgen, mit einer beeindruckenden Zahl von Fahrzeugen, um nicht die Art Schwierigkeiten zu bekommen, die im Buch die Kette der Ereignisse in Gang setzt.
WEISS: In den deutschsprachigen Ländern ist Banlieue mehr oder weniger zu einem Synonym für Paris geworden – wie ist die Situation anderswo in Frankreich?
OBERTONE: In Lyon gab es in den 80er Jahren die allerersten Aufstände, brannten die ersten Autos, gab es die ersten Zusammenstöße zwischen der Polizei und Jugendlichen mit Migrationshintergrund – man verstand damals gar nicht, was eigentlich passierte.
Dann wurde neben Marseille vor allem Paris zum Epizentrum. Der gesamte Pariser Banlieue-Gürtel ist ein Pulverfaß, wie man 2005 gesehen hat: Diese Aufstände verbreiten sich rasch, sie werden von anderen Quartieren aufgenommen, es gibt eine Art Wettlauf.
Ich sage nicht, daß sie monolithisch sind, es gibt Rivalitäten von einem Viertel zum anderen, von einem Hochhaus zum anderen. Man kann nicht von »der Banlieue« gegen die Polizei sprechen. Aber es gibt jeweils Stützpunkte, gehalten im Wesentlichen vom Drogenhandel, die sich gegen jede Form von Autorität erheben und gegen jeden Rivalen.
Und sie finden inzwischen auch in allen mittleren und sogar kleinen Städten das Phänomen des Drogenhandels; nachdem die Zuwanderer von den Behörden nach und nach auf Mittel- und Kleinstädte verteilt wurden, dürfte es auch einen direkten Zusammenhang mit der Verschlechterung der Sicherheitslage in vielen Kleinstädten geben, die bisher von diesen Phänomenen verschont geblieben waren.
WEISS: Bitte erklären Sie diese Zusammenhänge für den deutschsprachigen Leser – Religion, Familie, Clans, aber auch die berüchtigten sogenannten »caïds«.
OBERTONE: In einer solchen Banlieue-Siedlung, »Cité« genannt, versuchen die Bewohner nicht wirklich, sich sozial zu integrieren. Sie beziehen Sozialhilfe und leben nur innerhalb ihrer eigenen Gruppe, in der sie sich einen Ruf zu erarbeiten versuchen, und das erfolgt dort nun einmal vorwiegend über kriminelle Akte wie Drogenhandel. Mit wachsendem Erfolg nimmt auch der Respekt zu, im Gefängnis ebenso, das letztlich nur eine Art Erweiterung der Banlieue darstellt, weil sich dort fast alle wiederbegegnen und dieselben Bandenphänomene ausbilden wie draußen.
Diejenigen nun, die in diesem Milieu besonderen Respekt genießen, nennt man caïds. Das sind also diejenigen, die einen höheren Profit aus Drogenhandel, Prostitution undsoweiter einstreichen und die Netzwerke leiten, eine Art rudimentäres Mafia-System.
Manche von ihnen haben sogar kleine »Armeen«, die bereit sind, ihnen zu Hilfe zu kommen, wenn sie im Gefängnis sind. Einem caïd, der wegen Mordes an einer Polizistin vor Gericht stand, haben seine Komplizen mit Hilfe von Sprengstoff zur Flucht verholfen.
Kurz gesagt: In allen größeren französischen Städten etabliert sich inzwischen eine Art Gegenherrschaft.
WEISS: In Guerilla sprechen Sie von zehn Milliarden Euro »Reparationszahlungen«, die einer der islamischen Anführer fordert, der »von der Drohung mit dem Chaos lebt«; in dem Moment, wo tatsächlich Chaos ausbricht, ist sein Geschäftsmodell beendet.
Dem Phänomen begegnet man auch in Houellebecqs Unterwerfung, wo dieser ebenfalls von einer Art Erpressung des Staates spricht, der gezwungen ist, alle einschlägigen muslimischen Vereinigungen immer stärker zu alimentieren – dort gelangt sogar eine muslimische Partei an die Macht.
Steht eine Muslimpartei in Frankreich bevor, oder bleibt es bei dem System der Alimentierung zwecks Ruhigstellung?
OBERTONE: Man spricht schon seit einigen Jahren darüber, es gab Versuche, aber bis heute haben muslimische Parteien, wenn überhaupt, nur lokal funktioniert, und selbst dort nicht wirklich gut. Vielleicht gibt es unter den Imamen auch die Überlegung, daß es besser sei, keine direkte politische Konfrontation zu schaffen, sondern weiterhin Kräfte zu sammeln, indem man durch mehr oder weniger offene Erpressung von Subventionen immer stärker wird.
Vielleicht hält man das für sinnvoller als eine Partei, deren Anführer Erklärungen abgeben würden, die für die Öffentlichkeit viel zu radikal wären.
WEISS: In Ihrem Buch gibt es viele gewalttätige Szenen, eine der brutalsten ist jene, wo die identitären Aktivisten von der Polizei eingekesselt und zusammengeschlagen werden. Sie sprechen recht ausgiebig von dieser Bewegung – sind Sie ein Unterstützer oder Fürsprecher?
OBERTONE: Ich gehöre keiner politischen Bewegung an und glaube, daß es entscheidend ist, eine sehr unabhängige Sicht der Dinge zu haben. Ab dem Zeitpunkt, wo man ein Naheverhältnis hat, wird man nicht mehr als Berichterstatter über Fakten betrachtet, sondern als Parteigänger.
Deswegen informiere ich mich über alle politischen Bewegungen, werde mich ihnen aber niemals anschließen. Ich kenne also dieses Milieu, sehe wie es sich entwickelt, sich an neue Situationen anpaßt und es wird häufig, trotz manchmal recht banaler Aktionen, von den Medien benutzt, um zu propagieren »seht her, die rechtsextreme Bedrohung ist immer noch da!«.
So ist es für die Identitären sehr schwer zu bestehen: Sie provozieren, wissen aber, daß die Provokation gegen sie benutzt werden wird – was sie in ihren Aktionen recht einschränkt.
WEISS: Sprechen wir über Deutschland. In Guerilla gibt es einen »Merkel-Platz«, später beklagt sich jemand, daß es ein weiter Weg gewesen sei von »Heil Hitler« zu »Refugees Welcome«, aber die Ergebnisse sich in einem gleichen würden: einer von Deutschland ausgehenden Besetzung des französischen Territoriums. Beobachten Sie die Situation in der BRD?
OBERTONE: Da Deutschland für die restliche Welt das Böse schlechthin inkarniert hat, kann die BRD heute nicht anders, als in Sachen Willkommenskultur viel mehr als alle anderen zu tun. Dort ist das Gewissen am Werk, womöglich fühlt sich jeder Deutsche historisch schuldig und muß daher der Erste sein, der diese Menschen aufnimmt.
Man hat aber doch den Eindruck, daß die öffentliche Meinung nicht völlig betäubt ist, sondern daß es Reaktionen gibt: eine neue Partei etwa, eine politische Reaktion also, die vor ein paar Jahren noch unvorstellbar gewesen wäre. Das Buch von Thilo Sarrazin und dessen erstaunlicher Erfolg ist auch ein Zeichen.
Es gibt also doch ein Bedürfnis in der Bevölkerung, sich anderweitig zu informieren und darüber nachzudenken, ob das eigene Verschwinden wirklich die einzige Option ist.
WEISS: Reduziert es Ihre Hoffnung nicht, wenn Sie sehen, daß trotz allem, was 2015 und seitdem geschehen ist, noch immer 87 Prozent der deutschen Wähler für den einwanderungsfreundlichen Parteienblock stimmen?
OBERTONE: Tatsächlich gibt es eine sehr starke Konditionierung der europäischen Völker, ein sehr starkes Schuldbewußtsein, so daß »falsch« zu wählen schon ein sehr schwieriger Akt geworden ist, fast sogar physisch. Wenn man darüber mit Franzosen spricht, bedeutet eine andere Wahl für sie eine echte Wende, sie stehen innerlich dann quasi schon mit einem Bein in der Unterwelt, so stark sind sie von den Medien eingeschüchtert und konditioniert.
Erst recht ist das in Deutschland so, mit seiner Vergangenheit, von der man sich um jeden Preis reinwaschen muß. Was Sarrazin getan hat, war außergewöhnlich, denn er hatte ja etwas zu verlieren. Üblicherweise können nur jene sprechen, die nichts zu verlieren haben.
WEISS: Gegen Ende beschreiben Sie die weitere Entwicklung in sehr dystopischer Weise, diese Passage erinnert unter anderem stark an The Road von Cormac McCarthy, wo ein schlichter Stromgenerator, Lebensmittelvorräte etc. auf einmal größte Bedeutung gewinnen – und das ist es ja auch, was immer mehr Menschen heute vorsehen, die sogenannten »Prepper«. Kennen Sie diese Bewegung oder rüsten Sie sich vielleicht sogar selbst auf diese Weise?
OBERTONE: Ich selbst bin nicht so, aber diese bei uns »survivalistes« genannte Bewegung hat eine erhebliche Bedeutung gewonnen. Bis jetzt ist es für den Bürger der zivilisierten Gesellschaft eine Selbstverständlichkeit: nach Hause kommen, Fernseher an, Kühlschrank auf.
Nun nehmen aber Befürchtungen zu, wonach ein allgemeiner Zusammenbruch sehr schnell eintreten könnte, etwa dann, wenn kein Strom mehr da ist: Kommunikation, Heizung, Hilfs- und Sicherheitsorganisationen, und plötzlich ist jeder auf sich selbst und seine Familie zurückverwiesen.
Ich habe das in Guerilla ja beschrieben. Es gibt nun tatsächlich Leuten, die meinen, sich für solche Fälle besser rüsten zu müssen, was wiederum ein Zeichen dafür ist, daß etwas ins Rutschen geraten ist. Für mich sind solche Befürchtungen Vorzeichen großer Probleme.
WEISS: Soweit sind Sie aber nun auch nicht von einer der Zukunftsprognosen überzeugt, daß Sie womöglich für sich selbst schon eine Wahl getroffen hätten?
OBERTONE: Das Szenario von Houellebecq hat eine gewisse Wahrscheinlichkeit; die Leute von den Nachrichtendiensten werden Ihnen sagen, dergleichen könne ohne Weiteres in zwei Jahren passieren, oder in 15 oder in 40 oder aber überhaupt nicht; und andere Faktoren könnten auftreten, an die man heute noch gar nicht denkt.
In meinem Buch ist es ein sozialer, es könnte aber auch ein wirtschaftlicher Auslöser sein, denken Sie nur an die Benzinsteuer und die Gelbwesten! Uns allen bleibt nicht viel anderes übrig, als bezüglich der Zukunft Wetten abzugeben, ohne unsere Erfolgsaussichten zu kennen.
WEISS: Also teilen Sie nicht die Ansicht einer Ihrer Figuren, die sagt: »Sie brauchen gar nicht zu gewinnen, weil wir schon verloren haben«?
OBERTONE: Unter den Fortschrittsgläubigen gibt es eine gewisse Aufopferungsbereitschaft. Ich denke, daß viele von ihnen die Problemlage begriffen haben und nicht mehr davon ausgehen, daß die Dinge so verlaufen, wie man es sich vorgestellt hat – aber ihre Selbstachtung, ihre Identität, all das hängt von ihrer unbedingten Gesinnungstreue ab; selbst wenn sie also sehen, daß es nicht funktionieren kann, wollen sie die Idee nicht aufgeben.
Mehr Staat, mehr Sozialhilfe, mehr Umverteilung, mehr Einwanderung – irgendwann klappt es. Es ist wie mit der kommunistischen Doktrin oder schon während der Französischen Revolution: Da brauchte es immer mehr Militanz, immer mehr Gesinnungstreue, denn irgendwann würde alles gut werden.
Aber dieser Zeitpunkt liegt immer in der Zukunft und nicht im Heute – das klassische Kennzeichen der Utopie, die für Fakten undurchlässig ist. Daher die Bereitschaft, möglichst weit zu gehen, was auch immer geschieht, und ich denke nicht, daß diese Leute jemals ihren fundamentalen Irrtum zugeben und alles, was sie ausmacht, in Frage stellen werden.
Die Frage ist, wann der Durchschnittsbürger, der den negativen Begleiterscheinungen dieses »immer weiter« ausgesetzt ist, umschwenken wird. Wenn er fernsieht, sieht er, daß 95 Prozent der Leute dort das Gegenteil von dem sagen, was er selbst denkt, gerade hinsichtlich der Immigration.
Er ist also in seinem eigenen Land fast ein Fremder, aber wann er bereit sein wird, jene Souveränität, die man ihm genommen hat, wieder zurückzuerobern, kann ich nicht sagen.
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