Lippmanns »Öffentliche Meinung« – Einblicke in eine Editionshavarie

von Stephan Siber
PDF der Druckfassung aus Sezession 89/April 2019

Mehr als vier Jahr­zehn­te hat­te es gedau­ert, bis Wal­ter Lipp­manns 1922 erschie­ne­nes Buch Public Opi­ni­on erst­mals ins Deut­sche über­setzt wur­de. Das Buch des New Yor­ker Jour­na­lis­ten und Bera­ters von US-Prä­si­dent Wood­row Wil­son zählt nicht nur zu den Klas­si­kern der Poli­ti­schen Sozio­lo­gie, son­dern auch zum fixen Waf­fen­de­potin­ven­tar der psy­cho­lo­gi­schen Zwi­schen- und Nachkriegsführung.

Wei­te­re 54 Jah­re gin­gen ins Land, bis das sicher­lich wesent­lich häu­fi­ger zitier­te als tat­säch­lich sys­te­ma­tisch stu­dier­te Lang­zeit­de­si­de­rat nun wie­der in deut­scher Spra­che ver­füg­bar ist und somit prin­zi­pi­ell auch les­bar wäre. Doch wie das Gehirn beim Anhö­ren über­kom­pri­mier­ter Audio­da­tei­en sub­tra­hier­te Fre­quen­zen wie­der rekon­stru­ie­ren muß und dadurch schnel­ler ermü­det, ermü­det es erst recht beim Lesen eines Tex­tes, der so feh­ler­haft ist, daß sich der Ver­dacht ein­stellt, die meis­ten Feh­ler über­le­sen zu haben.

Ein sol­ches Druck­werk auf den Markt zu brin­gen, ist dem West­end-Ver­lag und den Her­aus­ge­bern Wal­ter Ötsch und Sil­ja Grau­pe mit Lipp­manns Werk gelun­gen (Die öffent­li­che Mei­nung. Wie sie ent­steht und mani­pu­liert wird, Frank­furt a. M. 2018. 376 S., 26 €). Gra­vie­ren­de Über­set­zungs­feh­ler, ana­ko­luthe Satz­kon­struk­tio­nen sowie unzäh­li­ge Ortho­gra­phie- und Gram­ma­tik­feh­ler machen das Buch stel­len­wei­se unleserlich.

Die bei­den Über­set­zer, wel­che den Text aus dem Ame­ri­ka­ni­schen über­tra­gen haben wol­len, dürf­ten haupt­säch­lich die Urüber­set­zung von 1964 über­nom­men haben, die damals bereits anläß­lich ihres Erschei­nens ob ihrer Feh­ler­haf­tig­keit geta­delt wurde.

Obwohl ein­zel­ne Sät­ze von der Urfas­sung abwei­chen, wur­den unzäh­li­ge Feh­ler unge­prüft über­nom­men. Auch zusätz­li­che Erra­ta haben Ein­gang in den Text gefun­den. Han­delt es sich an man­chen Stel­len um nicht sofort ersicht­li­che Schlam­pig­kei­ten (wenn etwa aus He is a regu­lar fel­low »Er ist Berufs­sol­dat« wird oder pre­di­ca­ment sogar unter­schied­lich fehl­über­setzt wird, ein­mal mit »Vor­schrift« und ein ander­mal mit »Vor­aus­sa­ge«), so wur­den man­che Wör­ter oder gan­ze Sät­ze der­art sinn­ent­stel­lend über­tra­gen, daß sie für den Leser unver­ständ­lich blei­ben müssen.

Das Ant­onym­paar natu­re and nur­tu­re (»Anla­ge und Umwelt«) etwa wird mit »Natur und Nah­rung« (S. 180), labor (»Arbei­ter­schaft«) mit »Gewerk­schaft« (S. 200) und die Wen­dung rare enough to be cle­ar­ly remar­kab­le wider­sin­nig mit »zu sel­ten, um bemer­kens­wert zu sein« anstatt kor­rekt mit »sel­ten genug, um deut­lich fest­stell­bar zu sein« übersetzt.

Bei den hier ange­führ­ten Bei­spie­len han­delt es sich wohl­ge­merkt um eine klei­ne Aus­wahl zufäl­li­ger Stich­pro­ben. Eine bis heu­te strit­ti­ge Fra­ge, die auf Grund­la­ge einer man­gel­haf­ten Über­set­zung natür­lich noch schwie­ri­ger zu beant­wor­ten ist, ist jene, wie Lipp­manns Buch grund­sätz­lich gedeu­tet wer­den kann.

In Hin­blick auf die Neu­aus­ga­be schließt sich hier die Fra­ge an, zu wel­cher Inter­pre­ta­ti­on die Her­aus­ge­ber ten­die­ren und wel­che Les­art sie dem Leser nahe­le­gen. Im Rücken­text wird Lipp­mann zu Recht als »einer der ein­fluß­reichs­ten Pro­pa­gan­dis­ten des Neo­li­be­ra­lis­mus und einer gelenk­ten Demo­kra­tie«, im vor­de­ren Klap­pen­text hin­ge­gen als »frü­her War­ner« vor »poli­ti­schem Spin«, »Fake News« und der »Beein­flus­sung sozia­ler Ver­än­de­rungs­pro­zes­se« bezeichnet.

Hier stellt sich die Fra­ge: Mit wel­cher Begrün­dung kann ein pro­fes­sio­nel­ler Pro­pa­gan­dist und Mani­pu­la­tor der öffent­li­chen Mei­nung gleich­zei­tig als War­ner genau davor bezeich­net wer­den – und dies bei­des auf dem Schutz­um­schlag des glei­chen Buches?

Die Ein­füh­rung, in der Lipp­mann als »frü­her War­ner« vor »poli­ti­schem Framing« bezeich­net wird, kann frei­lich selbst als ein Frame inter­pre­tiert wer­den, inner­halb des­sen die Her­aus­ge­ber Lipp­manns Buch ger­ne gedeu­tet wis­sen möch­ten. Sie notie­ren weder wider­spruchs­frei noch überzeugend:

Die öffent­li­che Mei­nung betrach­ten wir […] nicht als Werk der Pro­pa­gan­da, der Mani­pu­la­ti­on oder der Beein­flus­sung, gleich­wohl es sich über wei­te Stre­cken als ein Hand­buch für die­se Prak­ti­ken lesen las­sen mag. Lipp­mann, so scheint es uns, möch­te mit Die öffent­li­che Mei­nung auf­klä­ren, zum Den­ken anre­gen und Debat­ten anstoßen.

(S. 19)

Auf S. 176 führt Lipp­mann aus, daß der Cha­rak­ter, den die Leu­te einer Geschich­te ver­lei­hen, je nach Stel­lung des ein­zel­nen Men­schen »auf dem Schach­brett der Lebens­spie­le, an denen er sich betei­ligt«, vari­ie­re. Die Welt ist dem­nach ein Schach­brett und der Mensch eine Spiel­fi­gur auf demselben.

Sei­ne Betei­li­gung an den »Lebens­spie­len« kann – damit die Schach­brett-Meta­pher eini­ger­ma­ßen funk­tio­niert – eigent­lich nur pas­siv erfol­gen. Und den­noch: Der Mensch spielt und ist in Lipp­manns Men­schen­bild zugleich eine Spielfigur.

In die­sem Bild kommt die Ambi­gui­tät beson­ders gut zum Aus­druck, die das gan­ze Buch durch­wirkt. Die Les­art oszil­liert zwi­schen zwei Rea­li­täts­ak­tua­li­sie­rungs­op­tio­nen, die sich aus dem soge­nann­ten Tho­mas-Theo­rem ablei­ten las­sen: der self-ful­fil­ling und der self-des­troy­ing pro­phe­cy.

Ent­we­der ist das Buch eine Anlei­tung zur Mani­pu­la­ti­on oder eine War­nung davor, wobei die Les­art der War­nung, wel­che die Mani­pu­la­ti­on ver­ei­teln wür­de, gera­de jener Les­art, die die Mani­pu­la­ti­on ermög­licht, als Ali­bi dient, so daß der self-ful­fil­ling pro­phe­cy schließ­lich – voi­là! – kein Aktua­li­sie­rungs­wi­der­stand mehr im Wege steht.

Die­ses Prin­zip schei­nen die Her­aus­ge­ber zu über­se­hen, wenn sie zu dem Schluß kommen,daß Lipp­mann »als idea­le gesell­schaft­li­che Ent­wick­lung der Auf­stieg eines unab­hän­gi­gen Exper­ten­tums« vor­schwebt, »das eben gera­de kei­ne eige­ne poli­ti­sche Agen­da« ver­folgt, auch wenn sie ein­räu­men, daß Lipp­manns »Vag­heit der Ideen bezüg­lich der Eta­blie­rung der für die­se Grup­pe von Men­schen not­wen­di­gen insti­tu­tio­nel­len Kon­tex­te tat­säch­lich pro­ble­ma­tisch« ist. (S. 30)

Das glei­che gilt für das Unter­ka­pi­tel »Die Rol­le der Bil­dung« (S. 33–35), wo Lipp­mann fast zu einem idea­lis­ti­schen Apo­lo­ge­ten einer ästhe­ti­schen Erzie­hung des Men­schen sti­li­siert wird, obwohl die Her­aus­ge­ber ein­räu­men müs­sen, daß die heu­ti­ge Bil­dungs­si­tua­ti­on von Lipp­manns Idea­len weit ent­fernt ist.

Inso­fern sie Lipp­manns Buch also eine real­ge­sell­schaft­li­che Wir­kungs­ge­schich­te zuge­ste­hen wol­len, müß­ten sie in Anbe­tracht der heu­ti­gen Lage zu dem Schluß kom­men, daß Lipp­manns idea­lis­ti­scher Labi­al­kon­fes­sio­na­lis­mus kei­ner­lei Anzei­chen einer Ver­wirk­li­chung erken­nen läßt, sein Hand­buch des Mani­pu­la­ti­ons­rea­lis­mus hin­ge­gen wört­lich genom­men wor­den sein dürfte.

Die Her­aus­ge­ber schei­nen zwar zu erken­nen, daß Lipp­mann im Bereich heh­rer Ide­al­vor­stel­lun­gen wesent­lich weni­ger zufrie­den­stel­lend argu­men­tiert als hin­sicht­lich aller ande­ren the­ma­ti­sier­ten Berei­che, aber aus­zu­blen­den, mit wel­cher metho­di­schen Kon­se­quenz Lipp­mann durch­ge­hend auf zwei Ebe­nen ope­riert: einer­seits auf jener des Rea­lis­mus und ande­rer­seits auf der von Idea­len oder »vagen Ideen« bzw. undurch­führ­ba­ren Uto­pien, wobei letz­te­re Ebe­ne der ers­te­ren als Ali­bi dient.

Lipp­mann ent­larvt in genia­ler Wei­se die Irra­tio­na­li­tät des Ratio­na­lis­mus, indem er zeigt, wie indok­tri­nier­bar und steu­er­bar jener in demo­kra­ti­schen Illu­sio­nen schwel­gen­de Bür­ger ist, der sich so ger­ne als mün­dig, ver­nünf­tig und auf­ge­klärt titu­lie­ren läßt.

Auf der Ebe­ne des Rea­lis­mus expli­ziert er eine rea­lis­ti­sche Anthro­po­lo­gie, indem er psy­cho­lo­gi­sche Mecha­nis­men beschreibt, deren Fak­ti­zi­tät nicht weg­ge­leug­net wer­den kann. Auf die­ser Ebe­ne ist sei­ne Dar­stel­lung äußerst exakt – und genau hier lie­fert er auch eine unfehl­ba­re Anlei­tung zur erfolg­rei­chen Manipulation.

Sobald es jedoch dar­um geht, jene unab­hän­gi­gen Exper­ten zu beschrei­ben, die völ­lig selbst­los und unkor­rum­pier­bar ihren heh­ren Dienst zum Woh­le der gesam­ten Mensch­heit ver­rich­ten sol­len, schwenkt er auf die idea­lis­ti­sche Ebe­ne und bricht sei­ne Aus­füh­rung ab, bevor ersicht­lich wird, daß eine Ide­al­kon­kre­ti­sie­rung nie ange­dacht war. Lipp­mann sagt selbst, wie das funktioniert:

Denn der geschick­te Pro­pa­gan­dist weiß, daß man zwar mit einer ein­leuch­ten­den Ana­ly­se begin­nen muß, dann aber nicht wei­ter ana­ly­sie­ren darf, da die Ein­tö­nig­keit rea­ler poli­ti­scher Ver­rich­tung das Inter­es­se bald abster­ben las­sen wür­de. So erschöpft der Pro­pa­gan­dist das Inter­es­se an der Rea­li­tät durch einen eini­ger­ma­ßen plau­si­blen Anfang und ent­fes­selt sodann Ener­gie für eine lan­ge Rei­se, indem er eine Ein­tritts­kar­te für den Him­mel hin und her schwenkt.

(S. 175, hier jedoch in eige­ner Übersetzung)

Viel­leicht wäre der 100. Jah­res­tag der Erst­ver­öf­fent­li­chung im Jahr 2022 ein geeig­ne­ter Stich­tag, um eine feh­ler­freie Neu­über­set­zung die­ses Pro­pa­gan­daklas­si­kers her­aus­zu­ge­ben. Gera­de in Hin­blick auf die von Lipp­mann beschrie­be­nen Mecha­nis­men der Idea­li­sie­rung und Dämo­ni­sie­rung als poli­ti­sches Instru­ment wäre hier Lehr­rei­ches zu finden.


Wenn Sie sich die deut­sche Erst­über­set­zung trotz ihrer offen­kun­di­gen Män­gel zu Gemü­te füh­ren wol­len, kön­nen Sie Die öffent­li­che Mei­nung bei Antai­os, bestellen.

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