Es ist seltsam und tröstlich zugleich, daß wir auch nach viereinhalb Jahren PEGIDA, nach Jahren der Erfahrung mit der bundesweit ersten Landtagsfraktion der AfD in Dresden, nach den beschämend blöden Berichten über Sachsen als dem finsteren Herzen Dunkeldeutschlands, nach den widerständigen, bürgerlichen Stellungnahmen und der in Loschwitz formulierten »Charta 2017« zur Verteidigung der Meinungsfreiheit, nach der Initiierung des Kunstprojekts »Trojanisches Pferd« im Herzen Dresdens und nach dem Jubel über die AfD-Direktmandaten zur Bundestagswahl im Erzgebirge, der Sächsischen Schweiz, Görlitz und Bautzen – daß wir also nach der Mobilisierung hundertausender Sachsen gegen das Berliner Gesellschaftsexperiment noch immer nicht hinreichend Auskunft darüber geben können, wer die Sachsen sind und warum sie so wesentlich anders sind als die anderen.
Wir haben für das Themenheft der Sezession nachdenkliche und tiefsinnige Texte von Sachsen wie Bernig, Hennig, Krah, Seidel, Tellkamp, Wawerka zusammentragen können; gibt einer von ihnen erschöpfend Auskunft darüber, warum in keinem anderen Bundesland der Widerstand gegen die Auflösung aller Dinge durch die postmoderne Beliebigkeit vom einfachen Arbeiter über den gebildeten Pfarrer bis zum feinsinnigen Lyriker so massiv und beharrlich und klug vorgetragen wird: auf der Straße, am Infostand, in der Predigt, auf dem Papier, Parole für Parole, Strophe für Strophe?
Nein, natürlich nicht. Die Zusammenstellung ist voller Andeutungen und Umkreisungen, und mehr kann sie auch nicht sein: Denn es gibt keine Sachsen-Formel, keinen Trick, den man kopieren, adaptieren könnte, um andernorts, also: jenseits dieses Stammesgebietes, nein: Bundeslandes so etwas wie die sächsische Mentalität einzupflanzen oder nachzubauen.
Man kann sie weder rasch aufziehen noch künstlich erzeugen, es gibt keine Formel für sie, und kein Trick, kein Zylinder mit doppeltem Boden verbergen einen »wahren Grund« oder ein Ressentiment: Immer wieder nimmt man eine geradezu unbelehrbare Beharrlichkeit wahr, mit der das abgelehnt wird, was nicht überzeugen kann, und dies allein (wie gesund!) reicht hin, um das Bewährte dem Spleen vorzuziehen.
Ja, das könnte eine Formel sein: Das Neue muß überzeugen, sonst wird es verworfen, und die Entscheidung darüber, was einen Versuch wert sein könnte, sollte tunlichst kein anderer treffen, vor allem nicht Berlin, wobei Berlin wohl als Synonym für das gilt, was übergestülpt werden soll, obwohl es nicht überzeugt. Wer wüßte besser, was für Sachsen gut ist, als die Sachsen selbst?
Man braucht dort keine Gouvernanten und schert sich nicht besonders um den »Ruf in der Welt«, zumal dann nicht, wenn ihn das Berliner Establishment drohend herbeischreibt und herbeiquatscht. Wir erinnern uns, daß es »in den Medien« Montagabende gab, an denen kein Dunkelhäutiger sich in Dresden mehr auf die Straße hat wagen können, daß diese freche Behauptung und miese Lüge aber zugleich im Verlauf der fridlichen PEGIDA-Stunden durch keine Erfahrung, keinen Vorfall gedeckt war.
Und auch die konstruierten Prognosen, es würde ein Rückgang der Fremdenverkehrszahlen für den Freistaat zu verzeichnen sein aufgrund des Fremdenhasses, erfüllten sich nicht, Jahr für Jahr nicht, vielmehr: das Gegenteil. Erst aufgrund solcher Lügengeschichtenerfahrungen, aus dem Abgleich von Wahrnehmung und Berichterstattung, entstand das Schimpfwort »Lügenpresse«, das den Leuten zunächst ganz und gar nicht leicht von den Lippen ging, recht bald aber energisch und befreiend klang.
Dann und zuletzt der hinterhältigste Schuß: die Sachsen als diejenigen, die zuwenig Westen hätten genießen können, vor der »Wende«, und die damit in einen unaufholbaren mentalen Rückstand auf die moralischen Spitzenreiter aus Baden-Württemberg, Bremen, Rheinland-Pfalz, Hessen undsoweiter geraten seien.
Nein, diese »Gesinnung« ist nichts, das man nachholen müßte. Und doch: Nachholbedarf in einem ganz anderen Sinne: von der Geschichte auf eine unstatthafte Art ins Hintertreffen gerückt worden zu sein, und nun, fleißig, unbeirrbar und eben nicht als west-verrücktes Beuteland sich wieder nach vorn arbeitend – auch das ist Sachsen, spürbar und sichtbar, empörtes Selbstbewußtsein, feiner Stolz. Gut: Ich idealisiere. Aber so ist das eben, wenn man hofft.