Ein »wichtiger Heimatautor« sei der Dresdner »Epiker« Uwe Tellkamp, dekretierte der aus Elbflorenz stammende Lyriker Durs Grünbein in einem Interview, das er im Frühjahr 2018 der ZEIT gab. Aus einer vermeintlich weltliterarischen Position heraus scheint sich hier ein vergiftetes Lob zu artikulieren, wird doch der Begriff Heimat im Zusammenhang mit Literatur hierzulande immer noch gern als Etikett für Provinzialität, Kitsch oder gar Deutschtümelei gebraucht.
Betreffendes Interview (»Was wir von Tellkamp hören, kennen wir von Pegida«) war ein Nach-Tarocken des prominenten Lyrikers, der sich in Dresden mit seinem Kollegen kurz zuvor ein aufsehenerregendes öffentliches Streitgespräch über die Freiheit zur Meinungsäußerung in der gegenwärtigen Republik geliefert hatte.
Anlaß war die Unterschrift des nicht weniger prominenten Schriftstellers Tellkamp unter einer Charta zur Bewahrung dieser Meinungsfreiheit gewesen, im Oktober 2017 initiiert von der Dresdner Buchhändlerin Susanne Dagen aufgrund der seinerzeit massiven Agitation und physischen Angriffe gegen politisch unliebsame Verlage und Zeitschriften auf der Frankfurter Buchmesse.
Schon 2015 hatte Grünbein angesichts der Montagsdemonstrationen tausender Bürger ein »Monster« just in dem Dresdner Volk entdeckt, dem er sich 1989 noch selbst zuzurechnen schien – seither zeigt er sich von seiner Herkunft so be- wie entfremdet. Diesem Monster-Volk schreibt der Lyriker offenbar auch seinen Debattengegner zu.
Freilich verrät all dies mehr und anderes, als die gesetzte Rede es will. Im Hinblick auf den ökonomischen Erfolg und die enorme Resonanz von Tellkamps bekanntestem Roman Der Turm (2008) wäre es wohlfeil, nur maliziösen Neid des einen Sohnes seiner Stadt dem anderen gegenüber zu konstatieren.
Tellkamps lieu essentiel ist zweifellos Dresden, aus dem und um das er versucht, eine kleine comédie humaine zu entwickeln. Damit kann man ihn auch mit Recht als einen Heimatautoren bezeichnen, und zwar in dem Sinne, wie es der Preuße Theodor Fontane war, oder der Sachse Heiner Müller: Fontanes Werk kreist um Brandenburg, seine im Sog modern globaler Reichspolitik gefährdete Heimat, und Müllers Texte gründen fest in der pädagogischen Provinz der DDR – beide fassen jedoch immer auch die ganze deutsche Befindlichkeit im Mahlstrom der Moderne ins Auge, durch das Brennglas dessen, was ihnen Heimat war oder ist.
In Grünbein und Tellkamp gerieten, aus unterschiedlichen Positionen zu solcher Heimat heraus, zwei Dichter aneinander, die deutscher kaum sein könnten, und kaum zufällig kommen sie beide aus dem »Inneren Ostrom« der hiesigen Hemisphäre: Es sind keine engagierten Literaten, die in Dresden miteinander diskutierten, urbane Bürschchen etwa der Art, daß sie sich fern der Tat für Antifaschismus als Handarbeit begeistern oder klammheimliche Freude über vorgeblich revolutionären Aktivismus verkünden würden; es sind vielmehr ernstzunehmende Männer des Wortes, im Grunde einig mit Gottfried Benn darin, daß es nicht Aufgabe der Dichter sein könne, die Welt zu ändern.
Und doch werden sie allenthalben als politisch wahrgenommen: Dem einen rechnet man es positiv an, daß er auf Distanz geht zu einer sich außerhalb der kontrollierten Kanäle Bahn brechenden vox populi – eine Reaktion ganz im Rahmen des Erwartbaren. Tellkamp, jener andere, irritiert wiederum durch sein Unterlaufen und Verweigern solcher Rituale, zumal er einige Jahre vorher schon manchen Kritiker verstört hatte durch einen Roman, der mißverstanden werden konnte als eine im Gestus militante Apotheose einer Konservativen Revolution im neuen Deutschland.
Der Eisvogel (hier bestellen) ließ 2005 junge Rechtsintellektuelle aus der bundesdeutschen Oberschicht in Berlin an ihrer Gegenwart leiden, einer Vorhölle des Konsums, der Ich-Verpanzerung und Sinnlosigkeit, und dies in eine eloquent Kritik ummünzen – der Roman spitzt dies dramatisch schließlich so zu, daß die Protagonisten als Geheimbund, unterstützt aus dem Establishment, Anschläge vorbereiten, um die genußsüchtig-nihilistische Gesellschaft in einen Ernstfall und dadurch zu einer moralischen Erneuerung zu zwingen. Treibende Kraft dieser Radikalisierung ist die Figur des Mauritz Kaltmeister, der sich der promovierte und beruflich gescheiterte Philosoph Wiggo Ritter anschließt.
Sprachlich herausragend verfaßt, schien dieser Roman eine radikale Zivilisationskritik von rechts literatur- und damit hoffähig zu machen: Da sich die Erzählung »in Form eines Patchworks aus Gesprächsprotokollen« entfaltet und dabei kein »allwissender Erzähler« den Leser bei der Hand nimmt, um ihm zu sagen, »was gut, was verwerflich ist« (Gunther Nickel), waren einige Rezensenten offensichtlich überfordert und glaubten in der Figurenrede die Meinung des Autors identifizieren zu können.
Der Text läßt jedoch nicht nur jene elitäre Zivilisationskritik von rechts plausibel erscheinen, sondern dekonstruiert dies sogleich wieder, indem er das Geschehen durch das Prisma diverser Erzählstimmen perspektivisch bricht und das klägliche Scheitern rechtsintellektueller Sektierer eindrücklich vor Augen führt – die Revolte scheint im Roman unmöglich, weniger durch die gesellschaftlichen Widerstände als vielmehr aufgrund der defizitären Persönlichkeiten derer, die sich berufen fühlen, die Welt gewaltsam zum vermeintlich Besseren zu verändern.
Im versierten, kunstvollen Stil dieses Romans, im Pathos der Figurenrede und in deren Fixierung auf die vormalige deutsche Hochkultur ist gewiß auch der Autor, seine poetologische Ausrichtung selbst zu erkennen: Die ersten poetischen Schritte in die Öffentlichkeit hatte der 1968 in Dresden geborene Tellkamp, zunächst als Arzt tätig, auf lyrischem Gebiet gewagt, sieht man von einer satirischen Fingerübung für den Eulenspiegel 1987 ab, und sie nahmen gleich ein episches Maß und Ausmaß an.
Nautilus, ein lyrisches Projekt aus frühsten Tagen, wuchert seither gleichsam rhizomatisch unter der Oberfläche, die bislang nur durch gelegentliche Publikationen durchbrochen wurde: Dieser epische Gesang von noch nicht öffentlich definiertem Umfang will »ein Modell von Geschichte gewordener Wirklichkeit und Wirklichkeitserfahrung« entwerfen, »ein Sinnbild, kein Abbild«, das seine Orientierung an Größen wie Hölderlin und Ezra Pound nicht verleugnet: »deine sprache wird eine musik sein / die niemand mehr spielt, der jahrhunderte / buch, niemand mehr wendet die seiten. dein haus / wird auf dem meeresgrund ruhn, deine stimme / fremd sein, in geliehenen worten / wirst du wohnen, nie mehr in wärme.«
Ein unter das Signum des Barons von Münchhausen gestellter Gedichtzyklus Reise zur blauen Stadt (2009) hingegen schlägt einen heiteren Ton an und entwirft die surreal-unscharfen Konturen einer Stadt durch ihre skurril-märchenhaften Bewohner, neben anderen einen »Souffleur des Serapionstheaters« ebenso wie »Libussa Federspiel, Lehrerin an der Nautischen Akademie«, die dem Besucher mitteilt, als der Kaffee durch ist: »Ich kenne Dresden. Das ist auch eine / von unseren Städten am Meer.«
Tatsächlich waren es wohl seine diversen lyrischen Publikationen, die Tellkamp den Weg bahnten zu seinem Durchbruch bei den Tagen der deutschsprachigen Literatur 2004 in Klagenfurt, wo er einen Auszug aus einem Romanprojekt unter dem Arbeitstitel Der Schlaf in den Uhren vortrug und den renommierten Ingeborg-Bachmann-Preis gewann, der den Auftakt einer Reihe hochgeachteter Auszeichnungen bildete.
Dieser Text steht in seiner Mischung aus innerem Monolog und Bewußtseinsstrom, der gehobenen Tonlage und den Schlüsselbegriffen beispielhaft für die lyrische Aufladung von Tellkamps Prosawerken, die sich mit einer Fixierung auf die Thematik von Niedergang und Selbstbehauptungsversuch, Verlust und schönem Augenblick, Vergessen und Erinnerung verbinden – und dabei auch bewußt Anschluß an die Tradition der visionär-prophetischen Dichterrede suchen.
Tellkamps erzählerisches Debüt, 2000 unter dem Titel Der Hecht, die Träume und das Portugiesische Café (hier bestellen) erschienen, erfuhr noch wenig Beachtung, genügte mit seinem poetischen Überschwang wohl auch nicht den Ansprüchen des Autors, weswegen er sich – erfolglos – gegen eine zweite Auflage gestellt haben soll. Dieser Roman erstling und sein in Klagenfurt vorgetragener Text können indessen als Vorstufen, Teile oder Aspekte eines langjährigen, um Dresden zentrierten Erzählprojekts angesehen werden, das im Turm eine monumentale, poetologisch und inhaltlich durchgeformte Gestalt gewonnen hat.
An seinen danach unter dem Titel Die Schwebebahn (2010) publizierten Dresdner Erkundungen und der Erzählung Die Carus-Sachen (2017) ist zu sehen, daß sich dieses Projekt offensichtlich weiter fortschreibt. Sein kurz nach dem Klagenfurter Preis erschienener Roman Eisvogel hatte die Entscheidung der Jury in Klagenfurt auf eine, wie zu sehen war, in der Wirkung ambivalente, qualitativ indessen eindeutige Weise bestätigt.
Tellkamps drei Jahre später publizierter Erfolgsroman Der Turm. Geschichte aus einem versunkenen Land (hier bestellen), der knapp 1000 Seiten umfaßt, wurde von der Kritik dann fast einhellig in den höchsten Tönen gefeiert, stieß in Dresden selbst aber keineswegs auf ungeteilte Begeisterung. Im Dresdner Mikrokosmos entwirft er um die weitverzweigte Familie der Hauptfigur Christian Hoffmann, des Sohnes eines Chirurgen und einer Krankenschwester, ein Bild der letzten sieben Jahre der DDR bis zu ihrem Kollaps am 9. November 1989.
Das Geschehen entwickelt sich aus fünf Häusern auf dem »Weißen Hirsch« heraus, einem Villenviertel an den Dresdner Elbhängen, umgreift aber bald das Geschehen nicht nur im real existierenden Sozialismus auf eine bisweilen surreale Weise, sondern vergegenwärtigt auch historisch tiefer liegende Schichten. Ein bildungsbürgerlicher, im Musischen aufgehobener Bezirk entsteht so inmitten der monochromen sozialistischen Braunkohlewelt: »Neuen raum in den raum« scheint dieses Milieu zu schaffen, ganz so, wie es in Georges Geheimem Deutschland als Möglichkeit der inneren Emigration entworfen wurde.
Tellkamps Roman arbeitet wie schon der vorangegangene mit diversen Mitteln der Perspektivierung, der Montage: Ein fiktives Tagebuch des Onkels Meno Rohde ist als prominente Sichtweise erzählerisch parallelgeführt, Briefe, Zeitungsausschnitte, Tonbandprotokolle und ähnliches sind eingestreut, wenngleich dieses Mal aus auktorialer Position im Hintergrund die gesamte Erzählung sanft auf das Ende des sozialistischen Systems und im Grunde auch den Zerfall der bis dahin aufrechterhaltenen familiär-bürgerlichen Gegenidylle hin organisiert wird.
Wichtige Gestalten der Literaturszene der DDR, Wissenschaftler und Politiker treten in verfremdeter und verschlüsselter Form auf, Peter Hacks etwa, einer der bedeutenden deutschen Autoren des 20. Jahrhunderts, ist in der Figur des zynischen Eschschloraque – respektvoll – verarbeitet, hochliterarische Strukturmuster, von Goethes Wilhelm Meister bis Thomas Manns Zauberberg und anderen, und Zitate durchziehen den Roman, manchem erschien er geradezu überfrachtet mit Bildungsgut einerseits, zu betont ausgestelltem DDR-Inventar andererseits.
Solches verkennt indessen das Programm dieses raffiniert mit autobiographischen Elementen spielenden, auch für Leser ohne DDR-Insassenerfahrung angelegten großen Zeitromans, der eine nachgerade romantische Integration der Gattungen, Themen und Motive, von Kunst und Leben inszeniert. Dem entspricht Tellkamps offen bekundete Ablehnung einer allzu platten, es sich einfach machenden Ironie, nicht aber der Ironie an sich.
Sein vordergründig antiironischer Gestus entbehrt indessen selbst nicht der Ironie: Wie Peter Hamm in einer Besprechung von Martin Walsers Poetikvorlesung über Selbstbewußtsein und Ironie 1982 bemerkt hat, gibt es für diesen anderen bedeutenden deutschen Autoren der Gegenwart »Ironie nur als Reaktion auf Herrschaft – mithin als Arbeit und nicht als Spiel«, eine Arbeit, die den Mangel »erst als Mangel fühlbar« mache und »also Verlangen nach Veränderung, nach Geschichte« wecken könne (Die Zeit, 26. März 1982).
Das ließe sich auch auf Tellkamp anwenden, dessen Versuch, den lyrisch-hohen Stil und das Pathos auch für die Gegenwartsprosa zu beanspruchen. Gegenüber all den abgeklärten, routinierten Ironikern, denen alles nur zu entlarvende »Konstruktion« ist, hinter der sie allein das Nichts zu erkennen vermögen, wirkt Tellkamps Gestus im Walserschen Sinne hochgradig ironisch, da werden die Erzählungen und Gedichte eines Unpolitischen hochpolitisch.
Daß sich Uwe Tellkamp aber plötzlich, seit seiner Unterzeichung der »Charta 2017«, mitten im Getümmel scheinbar tagespolitischer Debatten wiederfindet, ja sich geradezu selbst hineinwarf, indem er sich einem öffentlichen Disput stellte und danach sogleich noch die ebenfalls umstrittene »Gemeinsame Erklärung 2018« zur Wiederherstellung rechtsstaatlicher Verhältnisse und gegen eine unkontrollierte illegale Masseneinwanderung an führender Stelle mittrug, das hat mit seinem Werk nur wenig zu tun – er ist hier Citoyen, der sich öffentlich einmischt und seiner Prominenz bedient, im Stile des Intellektuellen seit Zolas »J’accuse«, um sich als Bürger gegen den mediopolitischen Komplex Gehör verschaffen zu können.
Hier wird der Dichter zum Intellektuellen, der sein eingreifendes Reden im übrigen auch schon durch ein veritables essayistisches Werk, allerdings ganz bezogen auf Literatur und bildende Kunst, eingeübt hat; und hier gewinnt Tellkamp nunmehr auch eine andere wichtige Bedeutung, die sich in seiner Debatte mit Grünbein manifestierte – wenn der politische Diskurs hierzulande allmählich offener wird, dann ist dies nicht zuletzt diesem Autor und seinem Kontrahenten zu verdanken.
Die undankbare Rolle eines Winkelried hatte freilich zuvor der in Radebeul lebende Romancier und Lyriker Jörg Bernig übernommen, zunächst im Dezember 2015, aus gegebenem Anlaß, doch noch vor den massenhaften Silvesterübergriffen gegen Frauen auf der Kölner Domplatte. Mit einem vorsichtig fragenden Artikel in der Sächsischen Zeitung unter dem Titel »Zorn allenthalben«, sodann mit seiner Kamenzer Rede am 7. September 2016 hatte er als Autor essayistisch ausgesprochen, was er an sich und anderen wahrnahm: einen wachsenden Zorn darüber, »dass uns, also dem, ganz pathetisch gesprochen, Volk, Tag für Tag gesagt wird, wie wir zu denken haben«, Kritik an der Einwanderungspolitik seitens einer mit großen Teilen der Medien verbündeten Obrigkeit sogleich als extremistisch denunziert werde.
Ein solcher wachsender Zorn läßt sich nun an keinem besser beobachten als an Uwe Tellkamp, der bereits in seinem Dank für die Verleihung des Kulturpreises der Deutschen Freimaurer in freier Rede sagte, es würden heutzutage in vielen Medien »Verbiegungen, Mechanismen, Talkshows mit Ein- und Ausladungspolitiken betrieben, die mich erschüttern«, Beobachtungen und Erfahrungen, die er auch für eine literarische Figur verwende, an der er arbeite:
weil sie sie an die Zeit vor 30 Jahren erinnern. Und diese Figur fragt sich, ob man mittlerweile in einer DDR 2.0 lebt – und wenn ja, warum. Und wie das Internet, als ein Medium der Freiheit, zu einem Medium des Hasses geworden ist. Aber der Hass, der darin vorkommt, wird unterschiedlich definiert. Wer bestimmt darüber, wer verfolgt das? Eine Mitarbeiterin der Staatssicherheit zum Beispiel, in einer Stiftung, deren Namen ich nicht nennen muss. Diese Dinge treiben mich um als Autor, als politischer Mensch, der ich auch bin.
Ex oriente lux – wir bleiben gespannt, was uns der Dichter und der politische Mensch Tellkamp noch stiften und sagen wird.