Mehr Sachsen, weniger Rheinbund

von Maximilian Krah
PDF der Druckfassung aus Sezession 90/Juni 2019

Unter den poli­ti­schen Grund­satz­ent­schei­dun­gen mit einem kla­ren Ost-West-Gegen­satz gehört auch die Sicht­wei­se auf die EU. Wäh­rend im Wes­ten die EU ein emo­tio­nal posi­tiv besetz­tes Pro­jekt ist, schaut der Osten auf sie nüch­tern und prag­ma­tisch. Und die Fak­ten füh­ren zur EU-Skep­sis. »Euro­pa wur­de als Wirt­schafts­ge­mein­schaft gegrün­det«, twit­ter­te die SPD-Spit­zen­kan­di­da­tin zur Euro­pa­wahl, Katha­ri­na Barley.

Die­ser Satz ist ent­lar­vend. Denn natür­lich wur­de nicht Euro­pa als Wirt­schafts­ge­mein­schaft gegrün­det, son­dern höchs­tens die EU, und nicht ein­mal die: Denn die Römi­schen Ver­trä­ge, auf denen die Uni­on auf­baut, wur­den genau des­halb in Rom unter­zeich­net, um den Bogen zur euro­päi­schen Tra­di­ti­on und Iden­ti­tät zu schla­gen – der Anti­ke wie dem west­li­chen Christentum.

Bar­ley ver­steht davon nichts mehr, weder von Kul­tur und Tra­di­ti­on, noch von den geis­ti­gen Grund­la­gen der Wirt­schafts­ge­mein­schaft, die sich nun zur EU aus­ge­wach­sen hat. Bar­ley und mit ihr die aller­meis­ten deut­schen Poli­ti­ker und regie­rungs­na­hen Jour­na­lis­ten leben ohne Wur­zeln im Hier und Jetzt, ihre Vor­stel­lung von Euro­pa ist die EU, die sie idealisieren.

Das hat zunächst einen bio­gra­phi­schen Hin­ter­grund.  West­deutsch­land ist nach dem Zwei­ten Welt­krieg sehr schnell der Wie­der­auf­stieg gelun­gen. Und das hat sehr wohl etwas mit der West­eu­ro­päi­schen Inte­gra­ti­on zu tun. Deutsch­land, so war der Deal, ver­zich­te­te auf Sou­ve­rä­ni­täts­rech­te, etwa in der Koh­le- und Stahl­in­dus­trie, und wur­de umge­kehrt gleich­be­rech­tigt im Club der west­eu­ro­päi­schen Natio­nen akzeptiert.

Der Aus­stieg aus dem zuvor maß­geb­li­chen Mit­tel­eu­ro­pa-Kon­zept, das Deutsch­land als Macht der Mit­te defi­nier­te, die nach Ost wie West aus­gleicht und dabei einen eige­nen Schwer­punkt bil­det, und der statt­des­sen ein­ge­schla­ge­ne »Weg nach Wes­ten«, die Inte­gra­ti­on in West­eu­ro­pa, wur­den und wer­den bis heu­te in West­deutsch­land als Grund­la­gen von Frei­heit, Wohl­stand und Demo­kra­tie der Bun­des­re­pu­blik verstanden.

Der in den 1980er Jah­ren in Bonn, Ham­burg oder Stutt­gart auf­ge­wach­se­nen Gene­ra­ti­on, die heu­te poli­tisch ton­an­ge­bend ist, waren Paris, Pal­ma oder Paler­mo gedank­lich stets näher als Ros­tock, Dres­den oder Leip­zig, von Prag, Posen oder Peters­burg ganz zu schweigen.

»Post­na­tio­na­le Demo­kra­tie inmit­ten demo­kra­ti­scher Natio­nal­staa­ten« hieß die­ses Selbst­ver­ständ­nis der spä­ten Bun­des­re­pu­blik, und es war, auch im Rück­blick, eine Zeit wun­der­ba­ren Hedo­nis­mus’ ohne die Zumu­tun­gen grund­sätz­li­cher poli­ti­scher Her­aus­for­de­run­gen. Damit war 1989 Schluß.

Die alte Bon­ner Repu­blik wur­de – für die Gene­ra­ti­on, die damals U 40 war: wider Wil­len – zurück in die Geschich­te kata­pul­tiert. Und tut sich damit schwer. Den hoff­nungs­vol­len Anfän­gen, eine eigen­stän­di­ge Ber­li­ner Repu­blik zu defi­nie­ren, die Ger­hard Schrö­der zu einem Nein zum Irak-Krieg und einer Ver­stän­di­gung mit Ruß­land geführt haben, folgt seit 2005 das Mer­kel­sche BRD-Bie­der­mei­er, die Rück­kehr zur Bon­ner Poli­tik­lo­sig­keit, einer Poli­tik in den Kate­go­rien des Kal­ten Krieges.

Nichts drückt es mehr aus als der Hash­tag #Euro­pa­Is­t­Die­Ant­wort – Haupt­sa­che kei­ne eigen­stän­di­ge Poli­tik, kei­ne demo­kra­ti­sche, natio­nal­staat­li­che Nor­ma­li­tät. Es ist die Hoff­nung, sich der eige­nen poli­ti­schen Last durch die Abga­be von Sou­ve­rä­ni­tät und damit Ver­ant­wor­tung an die EU, also eine abs­trak­te Büro­kra­tie, ent­le­di­gen zu können.

#Euro­pa­Is­t­Die­Ant­wort ist die Twit­ter-Ver­si­on des Wit­zes, in dem sich in einer Run­de die Teil­neh­mer vor­stel­len – Fran­zo­se, Pole, Tsche­che – bis einer sagt: »Ich bin Euro­pä­er«. Und alle ande­ren ant­wor­ten: »Du bist Deut­scher!« West­deut­scher, um genau zu sein.

Es ist wert zu spe­ku­lie­ren, in wie weit die­se Prä­gung his­to­ri­sche Ursa­chen hat. Denn die Ent­schei­dung zwi­schen einer iden­ti­täts­lo­sen poli­ti­schen Iden­ti­tät, die sich eng an Frank­reich anlehnt und gegen Ruß­land steht, und dem eigen­stän­di­gen natio­na­len Ent­wurf, der Ost und West glei­cher­ma­ßen aus­gleicht, muß­te schon ein­mal getrof­fen wer­den: im frü­hen 19. Jahrhundert.

Es ist die Fra­ge zwi­schen Rhein­bund und deut­schem Natio­nal­staat. Sie wur­de 1848 zuguns­ten des natio­na­len Wegs ent­schie­den. Die­ser war 1945 an ein vor­läu­fi­ges Ende gekom­men, so daß die Ver­tre­ter der Rhein­bund-Lösung gestärkt waren.

Auch geo­gra­phisch sprach viel dafür, wie es schon 1919 Walt­her Rathen­au for­mu­lier­te: »Zieht Preu­ßen von Deutsch­land ab – was bleibt? Der Rhein­bund!«. Die alte Bun­des­re­pu­blik hat­te immer etwas Rhein­bün­di­sches. Viel­leicht außer Bay­ern, das des­halb eine Son­der­rol­le einnahm.

Und wer sich allein die Selbst­dar­stel­lung die­ser Bon­ner Repu­blik ansieht, die Archi­tek­tur ihrer Amts­ge­bäu­de wie die Uni­for­men ihrer Sol­da­ten, von den Lehr­plä­nen ihrer Schu­len und den Ideen ihrer Pro­fes­so­ren ganz zu schwei­gen, der muß fest­stel­len: Es ist mehr Bruch als Kon­ti­nui­tät zur deut­schen Geis­tes- und Staatstradition.

Wer die­se deut­sche Tra­di­ti­on nicht fort­schrei­ben will, der braucht einen ande­ren Anker sei­ner Poli­tik. Für den ist dann eben Euro­pa die Ant­wort bzw. die Aus­flucht. Ost­deutsch­land im All­ge­mei­nen und Sach­sen im Beson­de­ren sind anders geprägt. Geo­gra­phisch liegt Prag alle­mal näher als Paris, kul­tu­rell auch: schon durch die gemein­sam erleb­te kom­mu­nis­ti­sche Unter­drü­ckung. Ab

er auch die bio­gra­phi­sche Erfah­rung ist eine ande­re als in der alten Bun­des­re­pu­blik. Denn auf das Kriegs­en­de 1945 folg­te nicht der schnel­le Wie­der­auf­stieg mit Wirt­schafts­wun­der und Wohl­stand, son­dern die här­tes­ten Kriegs­re­pa­ra­tio­nen der Wirt­schafts­ge­schich­te ganz Deutschlands.

Armut und Unter­drü­ckung präg­ten die Nach­kriegs­zeit. Der Bezugs­punkt blieb die Vor­kriegs­zeit, also der demo­kra­ti­sche und ver­hält­nis­mä­ßig wohl­ha­ben­de Natio­nal­staat der Wei­ma­rer Ver­fas­sung. Das Bür­ger­tum tra­dier­te im Pri­va­ten das deut­sche Bil­dungs­ide­al mit sei­nen Wer­ten und Geschichts­er­zäh­lun­gen; nie­mand hat es bes­ser beschrie­ben als Uwe Tell­kamp im Turm.

Die Arbei­ter­schaft, von den Kom­mu­nis­ten nach bür­ger­li­chen Mus­tern mit Bil­dung und Kul­tur ver­sorgt, schloß sich die­sem Welt­bild als­bald an. Der Wie­der­ein­tritt in die Geschich­te und die Rück­ge­win­nung von Eigen­ver­ant­wor­tung und Sou­ve­rä­ni­tät waren die Hoff­nung der Men­schen, wäh­rend sie den Euro­phi­len im Wes­ten eher als Schre­cken einer Rück­kehr längst über­wun­de­ner Ideen erschienen.

Die neu­en Bun­des­län­der sind bis heu­te natio­nal­staat­lich geprägt. Die EU ist für sie ein not­wen­di­ges Instru­ment, um glo­ba­le Her­aus­for­de­run­gen zu bestehen und not­wen­di­ge Abstim­mun­gen mit den Nach­bar­län­dern zu errei­chen. Ein emo­tio­na­les Pro­jekt, gar eine Ersatz­na­ti­on, ist sie nicht.

Und damit ist das Den­ken der neu­en Bun­des­län­der kurio­ser­wei­se viel euro­päi­scher als das in den alten. Denn auch in Frank­reich, Spa­ni­en, Ita­li­en ist man Euro­pä­er, weil man Fran­zo­se, Spa­ni­er, Ita­lie­ner ist. In Tsche­chi­en, Ungarn, Polen um so mehr.

Die Iden­ti­fi­ka­ti­on mit Euro­pa gegen die natio­na­le Iden­ti­tät zu stel­len, sie als Gegen­satz, nicht als Ergän­zung zu ver­ste­hen, ist etwas rein West­deut­sches. Und es ist etwas, was Euro­pa eben­so wenig gut tut wie Deutsch­land. Poli­tik ist die Kunst des Mög­li­chen, sie ori­en­tiert sich an Interessen.

Die Staa­ten Euro­pas ver­tre­ten ihre natio­na­len Inter­es­sen und fin­den in Brüs­sel idea­ler­wei­se einen Aus­gleich. Die – mit Mer­kel nicht per­so­nell, aber im Geis­te – mitt­ler­wei­le rein west­deutsch gepräg­te deut­sche Poli­tik ver­neint expli­zit eine natio­na­le Inter­es­sen­wahr­neh­mung und läßt sich von mora­li­schen Erwä­gun­gen leiten.

Die Ergeb­nis­se sind ver­hee­rend. Bes­tes Bei­spiel ist die Grenz­öff­nung 2015, die aus dem euro­päi­schen Pro­blem der Mas­sen­ein­wan­de­rung zunächst ein deut­sches mach­te, weil es die über eine Mil­li­on Zuwan­de­rer aus Ori­ent und Afri­ka über­wie­gend nach Deutsch­land leitete.

Durch die Grenz­öff­nung wur­de die Migra­ti­ons­kri­se mas­siv ange­heizt, weil sich her­um­sprach, daß Euro­pa offen ist. Das brach­te Deutsch­land an den Rand des Staats­ver­sa­gens. Nun ver­such­te die Bun­des­re­gie­rung, das Pro­blem zu re-euro­päi­sie­ren, indem sie ande­re Staa­ten dräng­te, die von ihr geru­fe­nen Migran­ten abzunehmen.

Die­ser Ver­such führ­te zu mas­si­ven Abwehr­re­fle­xen in nahe­zu allen Staa­ten der Euro­päi­schen Uni­on, zu neu­er Deutsch­land-Skep­sis in Ost­eu­ro­pa und zum Brexit. Deutsch­land ver­hält sich in der EU auf­grund sei­ner Ver­nei­nung demo­kra­ti­scher, natio­nal­staat­li­cher Nor­ma­li­tät durch­weg irr­lich­ternd, indem es dem Spiel und Aus­gleich natio­na­ler Inter­es­sen und küh­ler Kos­ten-Nut­zen-Abwä­gung stän­dig sach­frem­de ideo­lo­gi­sche, aus sei­ner Sicht »mora­li­sche« Erwä­gun­gen ent­ge­gen­stellt und dann mit dem Gewicht als größ­tes und wirt­schaft­lich poten­tes­tes Mit­glieds­land durch­zu­drü­cken versucht.

Das ist toxisch für Deutsch­land selbst, weil es sich ohne Sinn und Ver­stand Las­ten auf­bür­det; von einem über­mä­ßig hohen EU-Bei­trag über die volks­wirt­schaft­lich durch nichts zu recht­fer­ti­gen­den Auf­wen­dun­gen zur Euro-Sta­bi­li­sie­rung bis zu den die hei­mi­sche Wirt­schaft beson­ders tref­fen­den Ruß­land-Sank­tio­nen – die Bun­des­re­gie­rung han­delt kon­se­quent anti-deutsch.

Aber es ist auch eine Belas­tung für Euro­pa, weil die EU auf ratio­na­le, aus­glei­chen­de Poli­tik ange­legt ist und Deutsch­land als geo­gra­phi­sche und öko­no­mi­sche Zen­tral­macht dazu durch ehr­li­ches Makeln und Aus­glei­chen gefor­dert ist. Deutsch­lands ideo­lo­gi­scher Blind­flug ins links-rot-grü­ne Nir­wa­na desta­bi­li­siert die Uni­on und schürt euro­pa­weit neue Skep­sis Deutsch­land gegenüber.

Soll die Uni­on gesi­chert und Deutsch­lands Anse­hen repa­riert wer­den, so muß die deut­sche Euro­pa­po­li­tik säch­si­scher wer­den: prag­ma­ti­scher und patrio­ti­scher, dabei stets Ost wie West im Blick habend. Die Visegrád-Staa­ten Polen, Ungarn, Tsche­chi­en und Slo­wa­kei brin­gen nicht weni­ger Ein­woh­ner auf die Waa­ge als Frank­reich – sie soll­ten eben­so beach­tet werden.

Deutsch­land hat die Auf­ga­be, eine Brü­cke zu bil­den zwi­schen West und Ost, Süd und Nord; es soll auf­hö­ren, sich als Rhein­bund zu defi­nie­ren, der Macrons neo-napo­leo­ni­sche Agen­da einer EU-Arbeits­lo­sen­ver­si­che­rung und eines Euro­zo­nen-Haus­halts ver­tritt, Ideen, die außer dem fran­zö­si­schen Prä­si­den­ten nie­man­dem in Euro­pa nüt­zen, nicht den wirt­schafts­li­be­ra­len Ost­eu­ro­pä­ern, am wenigs­ten den Deut­schen, die sie bezah­len sollen.

Viel­mehr ist es an der Zeit, das Ver­hält­nis von Zen­tra­li­sie­rung und Eigen­ver­ant­wor­tung in der Uni­on zu hin­ter­fra­gen und neu zu jus­tie­ren. Euro­pa ist nicht die Ant­wort, wenn es um Sicher­heit, Mili­tär oder Grenz­schutz geht – das kön­nen die Ein­zel­staa­ten bes­ser, wie Vik­tor Orbán 2015 an der ser­bi­schen Gren­ze und Matteo Sal­vi­ni 2018 im Mit­tel­meer bewie­sen haben.

Wo die EU-Agen­tur Fron­tex Shut­tle für die Ille­ga­len gespielt und hun­dert­tau­sen­de Migran­ten aufs tod­brin­gen­de Mit­tel­meer hin­aus­ge­lockt hat, ist es Sal­vi­ni gelun­gen, bin­nen eines Jah­res die Mit­tel­meer­Rou­te zu schlie­ßen. Auch eine EU-Armee, die sich abseh­bar gegen Ruß­land rich­ten wür­de, braucht kein Mensch: Denn Euro­pa wird nicht von dort­her, son­dern vom Migra­ti­ons­druck aus Afri­ka und dem Ori­ent exis­ten­ti­ell bedroht.

Was Euro­pa braucht, ist die Viel­falt sei­ner Völ­ker und Regio­nen – denn die­se machen sein Wesen aus. Noch mehr Brüs­sel, noch mehr Ver­ein­heit­li­chung bedroht die­se Grund­la­ge unse­res Kon­ti­nents. Nicht die ideo­lo­gi­sche Ver­klä­rung der Zen­tra­le, son­dern der skep­ti­sche, nüch­ter­ne und abwä­gen­de Blick auf die­se intrans­pa­ren­te und bes­ten­falls halb-demo­kra­ti­sche Insti­tu­ti­on ist des­halb die rich­ti­ge euro­pa­po­li­ti­sche Attitüde.

Ver­klärt und voll Lie­be soll­ten wir statt­des­sen auf die regio­na­len Kul­tu­ren bli­cken, ihre Tra­di­tio­nen und Schrul­lig­kei­ten. Die­ser Lokal­stolz und Patrio­tis­mus ist fried­lich und ermög­licht eine »Ein­heit in Viel­falt«, wie sie das EU-Mot­to »In varieta­te con­cor­dia« seit dem Jahr 2000 beansprucht.

Eine sol­che Her­an­ge­hens­wei­se eint uns mit allen ande­ren Euro­pä­ern und ist eine gute Grund­la­ge für die Uni­on der Zukunft.

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