Migration in Sachsen

von Andreas Karsten
PDF der Druckfassung aus Sezession 90/Juni 2019

Ende des Jah­res 2018 sorg­te eine Umfra­ge des Insti­tuts »dimap« für Auf­re­gung. Wie bereits im Vor­jahr gaben vie­le Befrag­te an, daß eines der wich­tigs­ten Pro­ble­me in Sach­sen die »Über­frem­dung« sei. Auch die Inte­gra­ti­on von Aus­län­dern bewer­te­ten vie­le Bür­ger als problematisch.

Über die Hälf­te der Befrag­ten kon­sta­tiert der Bun­des­re­pu­blik ins­ge­samt ein gefähr­li­ches Maß an Überfremdung.Die media­len Reak­tio­nen dar­auf waren von Fas­sungs­lo­sig­keit gekenn­zeich­net; das Unver­ständ­nis mün­de­te gar in offe­nen ver­ba­len Angrif­fen. Säch­si­schen Bür­gern wur­den pau­schal »ras­sis­ti­sche Ein­stel­lun­gen« (Tages­spie­gel) beschei­nigt.

Wie kön­ne es sein, daß sich Men­schen in einem Bun­des­land, das einen der gerings­ten Aus­län­der­an­tei­le in der gesam­ten Bun­des­re­pu­blik hat, über­frem­det fühl­ten? Um die­ser Fra­ge auf den Grund zu gehen bedarf es eines genaue­ren Blicks auf die Migra­ti­on nach und in Sachsen.

Über­frem­dung in Sachsen? 

Das The­ma Migra­ti­on ist einer der Grund­pfei­ler der empi­ri­schen Sozi­al­wis­sen­schaf­ten und doch offen­bart es eine der gro­ßen Schwä­chen die­ser Dis­zi­plin. Die Erhe­bung sowie die Aus- und Bewer­tung sta­tis­ti­scher Daten erfolgt näm­lich meist mit gro­ßem zeit­li­chem Abstand zur Erhe­bung. Der zeit­li­che Ver­satz wird um so grö­ßer, je umfas­sen­der die Men­ge der Daten ist.

So ist auch der Umstand zu erklä­ren, daß sich der aktu­ells­te Jah­res­be­richt des Säch­si­schen Aus­län­der­be­auf­trag­ten, der eine Fül­le von Sta­tis­ti­ken zur Migra­ti­on im Frei­staat ent­hält und auf den sich die fol­gen­den Aus­füh­run­gen stüt­zen, mit Daten aus dem Jahr 2017 befaßt.

Um prä­zi­se argu­men­tie­ren zu kön­nen, müs­sen zunächst eini­ge grund­le­gen­de Begrif­fe geklärt wer­den. Von Migra­ti­on wird, nach einer Defi­ni­ti­on des Bun­des­mi­nis­te­ri­ums des Innern, gespro­chen, »wenn eine Per­son ihren Lebens­mit­tel­punkt räum­lich verlegt«.

Grund­sätz­lich wird die­se Migra­ti­on in inter­na­tio­na­le Migra­ti­on und Bin­nen­mi­gra­ti­on unter­schie­den: Inter­na­tio­na­le Migra­ti­on meint Zu- und Fort­zü­ge über Staats­gren­zen hin­weg, Bin­nen­mi­gra­ti­on hin­ge­gen meint Bevöl­ke­rungs­wan­de­run­gen inner­halb der Regio­nen eines Lan­des, also im deut­schen Kon­text etwa über Gemeinde‑, Kreis- und Lan­des­gren­zen hinweg.

Im Zuge der Ver­fes­ti­gung des supra­na­tio­na­len, mitt­ler­wei­le qua­si-staat­li­chen Macht­be­reichs der Euro­päi­schen Uni­on, spricht man in deren Gren­zen heu­te auch häu­fig von Bin­nen­mi­gra­ti­on. In der öffent­li­chen Dis­kus­si­on um die Migra­ti­ons­kri­se der letz­ten Jah­re ging es hin­ge­gen pri­mär um inter­na­tio­na­le Migration.

Will man die tat­säch­li­che Zuwan­de­rung in einem Bun­des­land wie Sach­sen über­prü­fen, muß man sich das Wan­de­rungs­sal­do, also die Dif­fe­renz zwi­schen Zu- und Fort­zü­gen, in einer bestimm­ten Regi­on anse­hen. Nach Sach­sen kamen, nach Abzug der Fort­zü­ge, im Jahr 2017 13 688 nicht­deut­sche Personen.

Der mit Abstand höchs­te Wert war im Jahr 2015 in der Hoch­pha­se der Migra­ti­ons­kri­se zu ver­zeich­nen. Hier waren es 41 270 Per­so­nen. Um die­se Wer­te in Rela­ti­on zu set­zen: Noch Anfang der 2000er Jah­re waren in Sach­sen nega­ti­ve Wan­de­rungs­sal­di zu ver­zeich­nen oder sie beweg­ten sich im Plus­be­reich bei eini­gen hun­dert Personen.

Im Zehn­jah­res­ver­gleich der Jah­re 2007 und 2017 hat sich die Zuwan­de­rung fast ver­drei­ßig­facht. Die mit Abstand größ­te Grup­pe von Aus­län­dern bil­de­ten im Jahr 2017 Syrer mit 22 873 Per­so­nen. Sie stel­len damit 11,7 Pro­zent der aus­län­di­schen Bevöl­ke­rung aus allen Staa­ten der Erde, die in Sach­sen leben.

In den Top 5 der Her­kunfts­staa­ten befin­den sich jedoch auch drei ost­eu­ro­päi­sche Staa­ten: Ruß­land, Polen und Rumä­ni­en. Der direk­te Ver­gleich von Syrern zu Ost­eu­ro­pä­ern ver­deut­licht, daß es sich bei ers­te­ren maß­geb­lich um Per­so­nen han­delt, wel­che im Zuge der Ein­wan­de­rungs­kri­se der letz­ten Jah­re ins Land kamen, wäh­rend vor allem Rus­sen und Polen häu­fig bereits Jahr­zehn­te in Sach­sen ansäs­sig sind und hier kein sprung­haf­ter Anstieg und damit auch kein Indiz für unkon­trol­lier­te Migra­ti­on zu ver­zeich­nen ist.

Bele­ge für die mit der Grenz­öff­nung ver­bun­de­ne Ein­wan­de­rungs­kri­se fin­den sich auch bei den Zah­len für in Sach­sen regis­trier­te Asyl­be­wer­ber. Bis 2009 wur­den in Sach­sen jähr­lich rund 1500 Asyl­an­trä­ge gestellt. Im Jahr 2015 stieg die Zahl um das acht­zehn­fa­che auf 28 317 Asyl­an­trä­ge an.

Mitt­ler­wei­le ist die Ein­wan­de­rungs­wel­le etwas abge­ebbt. Trotz­dem gab es auch im Jahr 2017 noch über 8500 neue Asyl­an­trä­ge. Nach Anga­ben des Säch­si­schen Aus­län­der­be­auf­trag­ten hiel­ten sich im Jahr 2017 zudem 7910 »voll­zieh­bar Aus­rei­se­pflich­ti­ge« in Sach­sen auf.

In die­se Kate­go­rie fal­len vor allem ille­ga­le Ein­wan­de­rer oder Asyl­be­wer­ber, deren Antrag bereits abge­lehnt wur­de. Es ist aller­dings wenig wahr­schein­lich, daß sich alle ille­gal ein­ge­reis­ten oder sich ille­gal in Sach­sen auf­hal­ten­den Aus­län­der exakt erfas­sen las­sen. Somit ist von einer deut­lich höhe­ren Dun­kel­zif­fer auszugehen.

Hin­zu kommt, daß von den aus­rei­se­pflich­ti­gen Per­so­nen, die tat­säch­lich regis­triert wur­den, nur ein Bruch­teil abge­scho­ben wird. Die Grün­de hier­für sind viel­fäl­tig. Oft­mals kön­nen die Betrof­fe­nen kei­ne Aus­weis­pa­pie­re vor­wei­sen, die ihre per­sön­li­chen Anga­ben oder ihr Asyl­be­geh­ren stüt­zen könnten.

Ihre Her­kunfts­län­der zei­gen sich eben­falls häu­fig unko­ope­ra­tiv bei der Beschaf­fung der ent­spre­chen­den Doku­men­te oder wei­gern sich, ihre Emi­gran­ten zurück­zu­neh­men. Vie­le Migran­ten, deren Asyl­be­geh­ren abge­lehnt wur­de, kön­nen auch des­halb nicht abge­scho­ben wer­den, weil sie in irgend­ei­ner Art und Wei­se glaub­haft machen kön­nen, daß ihnen in ihrer Hei­mat Scha­den drohe.

Kürz­lich äußer­te sich zudem der säch­si­sche Innen­mi­nis­ter zum The­ma und beklag­te, daß im Jahr 2018 etwa die Hälf­te der geplan­ten Abschie­bun­gen dar­an schei­ter­ten, daß die ent­spre­chen­den Per­so­nen unter­ge­taucht sind. Die Unter­brin­gung von Asyl­be­wer­bern in Sach­sen erfolg­te auf der Höhe der Migra­ti­ons­kri­se, wie in vie­len ande­ren Bun­des­län­dern auch, in gro­ßen Mas­sen­un­ter­künf­ten, den soge­nann­ten Erstaufnahmeeinrichtungen.

Weil durch den unkon­trol­lier­ten Ansturm auch dort der Platz aus­ging, wur­den die Men­schen auf Außen­stel­len und Not­un­ter­künf­te in Turn­hal­len, Zel­ten oder (ehe­ma­li­ge) Kaser­nen ver­teilt. Die plötz­li­che Über­flu­tung säch­si­scher Gemein­den mit Men­schen aus aller Her­ren Län­der führ­te zu teils hef­ti­gen Pro­tes­ten der ört­li­chen Bevöl­ke­rung, wie etwa im Städt­chen Hei­den­au nahe Dresden.

Inzwi­schen wur­den vie­le die­ser has­tig errich­te­ten Ein­rich­tun­gen wie­der geschlos­sen. Die Asyl­be­wer­ber wur­den statt­des­sen groß­flä­chig auf die Kom­mu­nen ver­teilt. Die Ver­tei­lung erfolgt nach einem eige­nen Schlüs­sel, der sich nach dem Anteil der Wohn­be­völ­ke­rung der Land­krei­se und Kreis­frei­en Städ­te an der säch­si­schen Gesamt­be­völ­ke­rung richtet.

Durch die dezen­tra­le Unter­brin­gung fal­len zwar die gro­ßen Außen­stel­len der Erst­auf­nah­me­ein­rich­tun­gen und damit die über­pro­por­tio­na­le Belas­tung ein­zel­ner Gemein­den teil­wei­se weg, die Prä­senz von Migran­ten wird dadurch jedoch noch groß­flä­chi­ger, auch in Gemein­den, die davon bis­her nicht oder nur in gerin­ge­rem Maße betrof­fen waren.

Die dezen­tra­le Unter­brin­gung macht die Kon­trol­le über die ent­spre­chen­den Per­so­nen durch die Behör­den über­dies noch schwie­ri­ger und die Gefahr, daß Per­so­nen unter­tau­chen, noch aku­ter. Bei der räum­li­chen Ver­tei­lung der in Sach­sen leben­den Aus­län­der all­ge­mein fällt auf, daß es eine Bal­lung im urba­nen Raum gibt.

Auf die drei Groß­städ­te Chem­nitz, Dres­den und Leip­zig ent­fal­len über die Hälf­te der in Sach­sen leben­den Aus­län­der, allein rund 25 Pro­zent auf die Stadt Leip­zig. Im größ­ten säch­si­schen Land­kreis, dem Land­kreis Baut­zen, befin­den sich dage­gen nur etwas über drei Pro­zent der in Sach­sen leben­den Ausländer.

Vie­les spricht dafür, daß Migran­ten dazu ten­die­ren, die eher struk­tur­schwa­chen länd­li­chen Regio­nen mit gerin­gem Migran­ten­an­teil zu mei­den und sich in Rich­tung der urba­nen Zen­tren mit höhe­rem Migran­ten­an­teil zu ori­en­tie­ren. Dafür spricht auch ein Blick auf die Bin­nen­mi­gra­ti­on über die säch­si­schen Lan­des­gren­zen hin­aus. Aus­län­der, die sich eine Zeit lang in Sach­sen auf­ge­hal­ten haben, zieht es vor allem nach Baden-Würt­tem­berg, Bay­ern, Ber­lin und Nordrhein-Westfalen.

Nach Ber­lin wan­der­ten im Jahr 2017 über 1100, nach Nord­rhein-West­fa­len über 1500 Per­so­nen ab. Aus­län­der­kri­mi­na­li­tät in Sach­sen Nicht­deut­sche Tat­ver­däch­ti­ge mach­ten im Jahr 2017 20,7 Pro­zent aller in Sach­sen wegen diver­ser Straf­ta­ten ver­däch­tig­ten Per­so­nen aus – und das bei einem Anteil von gera­de ein­mal 4,8 Pro­zent an der Gesamtbevölkerung.

Dabei sind Ver­stö­ße gegen Ein­rei­se­be­stim­mun­gen, Mel­de­auf­la­gen und ähn­li­ches – dezi­dier­te Aus­län­der­de­lik­te – bereits her­aus­ge­rech­net. Ver­gli­chen mit der Zusam­men­set­zung deut­scher Tat­ver­däch­ti­ger fin­den sich unter den Nicht­deut­schen Pro­zen­tu­al mehr Män­ner und Jugend­li­che. Der Schwer­punkt der straf­recht­li­chen Ver­stö­ße lag im Jahr 2017 vor allem auf Roh­heits­de­lik­ten, sprich Gewalt­straf­ta­ten, Dieb­stahl sowie Ver­mö­gens- und Fälschungsdelikten.

Sach­sens Wandel

Das omni­prä­sen­te Gefühl von Unsi­cher­heit und Über­frem­dung der eige­nen Lebens­welt in Tei­len Sach­sens mag für Men­schen in lang­fris­tig mul­ti­kul­tu­ra­li­sier­ten Regio­nen wie Nord­rhein-West­fa­len oder Ber­lin erstaun­lich erschei­nen, doch ist erklärlich.

Denn obwohl Sach­sen auch heu­te noch auf Lan­des­ebe­ne mit den gerings­ten Aus­län­der­an­teil in der Bun­des­re­pu­blik hat, gab es einen sprung­haf­ten Anstieg von Zuwan­de­rern seit 2015, der Migra­ti­on schlag­ar­tig sicht­ba­rer mach­te – mit allen Fol­gen der Kri­mi­na­li­täts­stei­ge­rung, Wan­del des Stadt­bil­des usf.

Die gro­ßen Orte wer­den ver­mehrt zu migran­ti­schen Treff­punk­ten und die dezen­tra­le Unter­brin­gung schafft eine groß­flä­chi­ge Prä­senz von Ein­wan­de­rern, die mit der – von eth­ni­scher Homo­ge­ni­tät und Bestän­dig­keit gepräg­ten – Lebens­welt der Ein­hei­mi­schen kollidiert.

Die im Ver­gleich zur auto­chtho­nen Bevöl­ke­rung ungleich hohe Kri­mi­na­li­täts­be­las­tung der Neu­bür­ger, spe­zi­ell im Bereich der Gewalt­straf­ta­ten, trägt nicht zum Abbau mög­li­cher Res­sen­ti­ments bei. Gleich­wohl gilt es fest­zu­stel­len, daß hier zwi­schen Natio­na­li­tä­ten sowie den Hin­ter­grün­den des Auf­ent­halts unter­schie­den wer­den muß.

Das Unbe­ha­gen an Über­frem­dung und Ent­hei­ma­tung durch kip­pen­de Innen­städ­te macht sich eher weni­ger an aus­län­di­schen Stu­den­ten oder Arbeits­mi­gran­ten aus EU-Staa­ten fest, als viel­mehr an jenen Grup­pen, die als Fol­ge der Poli­tik der offe­nen Gren­zen nach Deutsch­land kamen und eine deut­lich grö­ße­re kul­tu­rel­le Distanz, bei gleich­zei­tig gerin­ge­ren Per­spek­ti­ven, aufweisen.

Neben der quan­ti­ta­tiv bedroh­li­chen Situa­ti­on man­gelt es auch an Qua­li­tät. Migra­ti­on in Sach­sen wird so zur Her­aus­for­de­rung für alter­na­ti­ve Politik.

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