24. Juli 2015
Kultur als Widerstand. Blattgoldwetter, leichtes Licht. Klaus erzählte aus seiner Kindheit. Wie er in Nöthnitz gelebt und den Angriff auf Dresden dort gehört habe, das Wummern. Eine schwere Bombe habe sich nach Nöthnitz verirrt, den Krater könne man heute noch erkennen.
Seinen Vater habe er im Grunde nie kennengelernt. Sei Kommunist gewesen, in der Organisation Todt beschäftigt, beim Bau des Westwalls, »so sinnlos.« Der Vater sei vor Kriegsende umgekommen. Nach dem Bombardement sei eine Verwandte mit zur Mutter gezogen, mit ihrer Tochter, seiner Cousine, sei er wie Bruder und Schwester aufgewachsen.
Erlebnisse mit Russen: Sie, die Kinder und die beiden Mütter, seien eines Tages mit Leiterwagen nach Hause gezogen, seitab eine Einheit Russen, einer habe gewinkt: Herkommen. Die beiden Frauen befürchteten das Schlimmste, berieten. Klaus und die Cousine gingen vor.
Der Russe habe ihnen ein Brot gegeben. Später Einquartierung des Kommandanten im »Moosbudel«, dem winzigen Haus, in dem sie gelebt hätten. Der Kommandant habe das Wohnzimmer requiriert, sie hätten zu viert in der Schlafkammer kampiert.
Beim Abzug hätte kein einziges Stück gefehlt, nicht das Radio, nicht die Uhr, nichts. Dagegen Plünderungen der Einheimischen im Schloß. Der Bürgermeister habe Münzen geklaut und später in einem Geschäft auf der Prager Straße verkloppt.
Ihm, Klaus, sei von einem der Plünderer einmal ein Prachtsäbel aus dem Besitz derer von Finckh angeboten worden, denen das Nöthnitzer Schloß nach den Bünaus gehört habe. Er habe die Signatur gesehen und abgewinkt. Seine erste Weihnachtserinnerung, für ihn unvergeßlich, sei die Weihnacht 1944 gewesen, sein Vater im Sommer gefallen, die Mutter in Tränen, völlig niedergeschlagen, im finsteren Moosbudel.
Ein Nachbar sei gekommen und habe für ihn einen kleinen Weihnachtsmann gebastelt, der, wenn man ihn auf eine Schräge stellte, langsam hinabgelaufen sei. Der Weihnachtsmann existiere noch. Klaus blickt in die große, leere Wohnung, am Fenster hinter ihm steht eine rote Amaryllis. Sonst habe er kein Spielzeug gehabt.
Spielzeug seien für ihn die Schuhe gewesen, die die Familie besessen habe. Die habe er in Reihe aufgestellt für einen Marsch nach Rußland, in seiner Phantasie habe er alles gesehen: den Schnee, den Vater, die Marschkolonnen. Das Größte sei gewesen, wenn sie, die Kinder, den Soldaten hätten nachlaufen können, die durchs Dorf kamen, sie seien bis Kaitz nachgelaufen.
Über die Nachkriegszeit, die er als ungeheuer reichhaltig erfahren habe, kulturell unvergleichlich, die Kontinuität des Schauspiels, der Oper, des Musiklebens, er sei stundenlang von Bannewitz in die Stadt gelaufen, um den Kulturhunger zu stillen, heute gar nicht mehr denkbar.
Opernaufführung Salome mit Christel Goltz in der Kulturscheune in Bühlau, worüber Erhart Kästner einen Aufsatz veröffentlicht habe zu Zeiten, als man wie gegen eine Wand geballten Wissens über Dresden angeschrieben habe und beim kleinsten Fehler korrigiert worden sei; jetzt Stille, Schweigen, Unkenntnis, Gleichgültigkeit, die Zeichen der Zeit.
Selbst die ersten Namen, also Palucca und Ardenne, Theo Adam und Peter Schreier, versinken allmählich, von der zweiten und dritten Reihe von Persönlichkeiten, die aber den städtischen Humus erst tief machen, zu schweigen. Pianisten wie Rudolf Dunckel oder Amadeus Webersinke, geschätzte und fürs Musikleben, den Alltag, unverzichtbare Persönlichkeiten, kennt so gut wie niemand mehr.
Etwas zu kennen aber, etwas zu wissen, war nicht nur wichtig, es war notwendig: Not wendend. Dresden, die Musikstadt. Namen, die Opern-Gebetsschnur: Maria Cebotari, Tino Pattiera, Carl Perron, Margarete Teschemacher, Minnie Nast, Elisabeth Reichelt, Mathieu Ahlersmeyer, Karl Scheidemantel, Arno Schellenberg, Ernst von Schuch, Fritz Reiner, Fritz Busch, Karl Böhm, Carl Elmendorff, Joseph Keilberth, Rudolf Kempe.
Klaus meint, Kempe habe die klarste Schlagtechnik gehabt, im Gegensatz zu Furtwängler. Es sei ein Rätsel, wie um alles in der Welt die Philharmoniker gewußt hätten, was er wollte. Habe nur »Suppe umgerührt«, schlagtechnisch eine Katastrophe.
Es müsse aber irgendetwas an ihm gewesen sein, sonst würden die Aufnahmen, die man von ihm kenne, nicht so faszinierend sein. Aus den – wenigen – vorhandenen Bildaufnahmen seiner Dirigate könne man diese Faszination nicht entnehmen, im Gegenteil.
Lovro von Matacic, Otmar Suitner, Herbert Blomstedt, Giuseppe Sinopoli, Fabio Luisi, Christian Thielemann. Es wird dunkel, wir sitzen noch auf dem Balkon, das Windlicht flakkert. Rauschen der Bäume. Der Balkon scheint ins Dunkel der Baumkronen fortzutreiben, wir Erinnerungssüchtigen darauf wie auf einer Arche mit angefaulten Planken.
Dresden ist für mich die Sage einer Stadt, die mehrfach zerstört wurde,
13. Februar 2017
aber immer wieder auferstand, dies Wort im Sinn gebraucht, daß Auferstehung die geistige Gestalt meint: das Dresden von vor 1945 ließ sich nicht wiederaufbauen. Neumarkt und Frauenkirche sind Artefakte, täuschend ähnlich dem, was einmal war, aber mit modernen Mitteln errichtet – es ist viel darüber gestritten worden, ob das zulässig ist, man sei doch heute in einer anderen Zeit, man könne nicht »einfach« Altes wiederaufbauen.
Das ist gewiß richtig. Doch bei einem Gemälde, etwa von Da Vinci, kommt man auch nicht auf die Idee, es nicht zu restaurieren, wenn es beschädigt ist, ein Maler, der sich hinstellte und vorschlüge, den Da Vinci zu vernichten und stattdessen ein modernes Gemälde dafür hinzustellen, würde wohl nicht ernstgenommen werden.
(Was aber, wenn es nichts mehr zu restaurieren gibt?) Ich bin mit den Erzählungen über ein Dresden aufgewachsen, das, was Architektur, räumliche Gliederung, Einbettung in eine Flußlandschaft, eine der schönsten Städte Europas gewesen sein soll.
Stehendes Gespräch an den Kaffeetischen war die Zerstörung am 13. Februar 1945, Erlebnisse in der Feuernacht. Dann aber der unbändige Wille zum Wiederaufbau. Die Menschen hungerten und froren, aber sie klopften Steine, um den Zwinger wiederzuerrichten.
Sie gingen aus den umliegenden Dörfern, aus der Innenstadt zu Konzerten in die Kulturscheune nach Bühlau, zwanzig, dreißig Kilometer zu Fuß, um ein Konzert zu hören. Eintritt: ein Brikett. In der Vorwendezeit war Christoph Heins Stück Die Ritter der Tafelrunde Stadtgespräch.
Man las, nein, studierte Klemperers LTI, um die Sprache des Dritten Reichs mit der des Vierten zu vergleichen; wichtige Bücher, etwa Solschenizyns Archipel GuLAg oder Koestlers Sonnenfinsternis wurden, weil es keine Kopiergeräte gab oder an den wenigen auch Horch und Guck mitlas, per Hand abgeschrieben und über Wartelisten verteilt.
Anfang der Achtziger machte ein Gerücht die Runde: Der Aufbau-Verlag plane, den Zauberberg herauszubringen. Eine befreundete Buchhändlerin hatte es in den Listen des Leipziger Kommissions- und Großbuchhandels, des DDR-Monopolisten für Buchauslieferung, entdeckt und Bescheid gegeben.
Das war eine Wiederveröffentlichung, es hatte bereits eine Ausgabe des Aufbau-Verlags existiert, unter anderem von Walter Janka betreut, der später verhaftet wurde und für den sich Katia Mann einsetzte; eine gediegene zigarrenbraune Ausgabe auf Büttenpapier im Bleisatz. Die befreundete Buchhändlerin berichtete über astronomische Vorbestellzahlen.
Chefärzte hatten über ihre Sekretariate ganze Listen eingereicht, Betriebsdirektoren Kontingente angefordert, beste Freunde und alte Bekannte, der überlebenswichtige Handwerksmeister aus der näheren Nachbarschaft meldeten ihre Ansprüche an: die befreundete Buchhändlerin saß bedauernd, aber unternehmungslustig im Musikzimmer der Oskar-Pletsch-Straße 10, in dem wir Thomas-Mann-Hungrigen tagten, um zu beraten, wie wir an unsere Geistesnahrung kommen konnten, wenn, wie absehbar im Fall Der Zauberberg, ein sogenannter Versorgungsengpaß, sprich: eine Versorgungslücke, im Volksmund auch genannt: Totalausfall, drohte.
Hatten wir jemand bei der Armee? Die dortigen Buchhandlungen, wußte die befreundete Buchhändlerin, bekamen nämlich auch Zuteilungen, und dort sei oft vorhanden, was im Zivilleben schon ausgestorben; immerhin sei es ihr, als ihr Sohn gedient hatte, gelungen, über ihn und eine sogenannte Militärische Handelsorganisation dringend benötigte Dachpappe zu ergattern.
Leider kannten wir niemand als Soldat und brav. Vater arbeitete als Arzt und Kreisgutachter im Erzgebirgsstädtchen Dippoldiswalde, dort gab es eine kleine Buchhandlung, auch sie natürlich mit Zuteilung, auch sie aber leider, kein Wunder, mit Bestellisten, die eher der Vormeldekladde einer sozialistischen Autoreparatur glichen als einer reellen Chance, mit den Damen und Herren des internationalen Sanatoriums Berghof in lesende Beziehung zu treten.
Gab es nicht noch einen Bücherschrank, in dem sich ein Exemplar dieses begehrten Buchs finden würde? – Nicht in der Nähe. Und in der Ferne?
Großvater lebte wieder in Hamburg, Castorps Landsmann, als ehemaliger Prokurist der Sächsischen Serumwerke genoß er eine ausgezeichnete Rente in harter Deutscher Mark; wenn alle Stricke rissen, würde ein Brief ein sogenannter E‑Brief, ein Entwicklungshilfe‑, auch: Ernstfall-Brief, geschrieben werden müssen, in dem mit kunstreichen Worten und raschen Erkundigungen nach dem Gang der Angelegenheiten in der Hansestadt, nach Gesundheit und Wetter doch nur die harte Not einer Bettelei eingekreist werden würde: Es nahe sich ja wieder Weihnachten, ob da nicht, im Gegenzug etwa zu einem Dresdner Stollen, in der nächsten Buchhandlung … jedoch, bitte, kein Taschenbuch. Man war verwöhnt, man hatte seine Ansprüche.
Die Hamburger Prozedur versprach zwar Erfolg, hatte aber etwas Endgültiges, Abschließendes, die Hamburger Prozedur war Bastaspruch und, gewissermaßen, Reißleine, sie ging, wenn gar nichts mehr ging, das war beruhigend, und man hatte etwas in der Hinterhand.
Doch sie kratzte am Stolz. Und es war, bei aller Liebe, ja doch »nur« ein Buch. So weit gehe die Liebe nun doch nicht, meinte Vater, an dem es gewesen wäre, den Brief zu verfassen; doch Vater erntete entschiedenen Widerspruch: Die Liebe ging allerdings so weit.
Auf das Ersatzteil für den Warmwasserboiler konnten wir zur Not verzichten, auf gute Bücher keinesfalls. Man beriet. Weitere Verwandtschaft im Jenseits? Kostbar, selten, mit Samthandschuhen undsoweiter; Krokowskis fragwürdige Künste, Kräfte von drüben zum Erscheinen zu bewegen, hier in Form gelber Pakete der Deutschen Bundespost, Geschenksendung, keine Handelsware, standen uns leider nicht zur Verfügung.
Auch war Vaters Bedenken nicht ganz vom Tisch zu wischen, im schon ganz mit historischem Edelrost überzogenen Dresden der Vorwendezeit gab es noch mehr nicht als nur Ersatzteile für Warmwasserboiler. Aber immer noch hatten wir kein Buch.
Am Erscheinungstag bildete sich vor dem »Haus des Buches« am Dresdner Postplatz Ecke Thälmannstraße eine riesige Warteschlange. Die befreundete Buchhändlerin winkte ab: Das Buch war ja schon durch die Vorbestellungen hoffnungslos überzeichnet, in die freie Verlosung kamen vier oder fünf Exemplare.
Nun gab es aber nicht nur Schlangesteher, sondern auch Buch- und Schallplattenschmuggler, genannt »die Buckligen«, weil sie die Bückware beschafften, die eben nicht auf, sondern unter den Ladentischen lag. Einen dieser »Buckligen« kannte die befreundete Buchhändlerin.
Heute ist er Professor und Direktor des Zeitgeschichtlichen Forums zu Leipzig; damals, als regimekritischer Bücherwurm, relegiert von der Humboldt-Universität mit der Aussicht, sich in einem Berliner Baubetrieb zu verdingen, befand er sich in jenem Kapitel der Großen Realsozialistischen Bildungsromans, das eine Frage als Überschrift trägt: »Wie kommt jemand dazu, dir einen bestimmten Teil der Weltliteratur vorzuenthalten?«
Als er die Antwort für sich gefunden hatte, reiste dieser junge Mensch gen Osten, zu den Antiquariaten in Budapest und Krakau, Prag, Olmütz und Lemberg, Danzig, wo Hans Castorp Schiffbau studierte und die Matzeraths einen Kolonialwarenladen betrieben; er reiste zu dem von den vielen Umbrüchen des 20. Jahrhunderts übriggebliebenen Strandgut deutschsprachiger Literatur.
Wie weit ging die Liebe? Bei der geringen Menge an Geld, die umgetauscht werden durfte? Sie ging so weit, daß die Alternative »hungern oder Buch kaufen« überhaupt keine Alternative war, es wurde alternativlos gehungert, um an Masse und Macht von Canetti oder Freuds Psychopathologie des Alltagslebens zu kommen.
Wenn solche Schätze geborgen waren, mußten sie über die Grenze gebracht werden. Hier zeigte sich, daß es kein Nachteil war, nach dem Abitur im Staatsarchiv von Potsdam preußische Zollakten über den Schmuggel im damaligen Eisenbahnwesen studiert zu haben.
Die preußischen Eisenbahnschmuggler nämlich hatten mit einem Schlüssel oder einem Schraubenzieher die Verkleidung an der Wand der Zugtoiletten entfernt und im plötzlich sichtbaren Hohlraum ihre Konterbande verwahrt. Das Merkwürdige war, daß es sich in den Zügen der Deutschen Reichsbahn, mehr als hundert Jahre später, noch immer so verhielt.
Radikaler, aber nicht weniger erfolgversprechend war die zweite Methode, Schmuggelgut über Grenzen zu bringen: in Plastiktüten verpackt, konnte man es an einem Kreuz in das nach unten offene – tief sind nicht nur die Brunnen der Vergangenheit – Reichsbahnplumpsklo hängen; die Zollfahnder hatten nach vielstündigen Fahrten wenig Lust, diese Abgründe genauer zu erforschen.
Aber der Schmuggler, dieser »Bucklige« war teuer. Zwar erklärte er, daß den Zauberberg zu besorgen kein Problem sei, verlangte aber dafür einen Büstenhalter der Größe 80 G, die sogenannte Große Extra Hebe, die es in Dresden nur bei Evana-Mieder, einer Miederwarenmanufaktur auf dem Weißen Hirsch, käuflich zu erwerben gab.
Das Geschäft, von uns nach der Inhaberin Ruth Vogel nur »Busen-Vogel« genannt, bot nicht nur Einblicke in die Geheimnisse weiblicher Unterkleidung, sondern auch in die der Mangelwirtschaft und Materialbeschaffung, wie wir erfahren mußten, als wir vorsprachen; man war bei »Busen-Vogel« selbst am Erwerb des Romans Der Zauberberg interessiert und gab die Große Extra Hebe nur im Tausch gegen ein Exemplar des Buchs ab.
Damit aber konnten wir nun gerade nicht dienen, gaben aber die Adresse des Schmugglers weiter. Die Schriftstellerin Katja Lange-Müller, die damals in Udo Posbichs Druckerei als sogenannte Einarmige Elefantin an einer Linotype-Setzmaschine stand und den Zauberberg als Privatdruck auf exakt 444 Seiten setzte, kannten wir damals noch nicht.
Blieben die hiesigen Antiquariate. Im Antiquariat Dienemann residierten Herr Leukroth, Jahrgang 1899 und noch in der alten Frauenkirche getauft, und seine Tochter, das Fräulein Leukroth, sie legte Wert auf diese Bezeichnung. Den Zauberberg entdeckte ich sofort, er steckte im Thomas-Mann-Regal in der braunen Thomas-Mann-Gesamtausgabe, Aufbau Verlag, 1953.
Auf dem Schmutzblatt war mit dem Zitterbleistift der an Parkinson leidenden Hände des alten Leukroth eine »10« eingetragen, ein lächerlicher Preis. Das Fräulein Leukroth hatte mich natürlich entdeckt, sie saß am Tisch im sogenannten Zwischenzimmer, einem schmalen Gelaß zwischen dem eigentlichen Antiquariat und der Buchhandlung vorn, die ebenfalls unter der Institution Dienemann lief, und die Fräulein Leukroth, ihrer Abneigung gegen aktuelle Druckerzeugnisse wegen, nur widerwillig betrat.
Sie saß am Tisch und telefonierte. Als ich vorüberschleichen wollte, legte sie die Hand auf den Hörer. »Junger Mann, Sie können nicht einfach dieses Buch mitnehmen.« »Aber es steht im freien Verkauf.« »Denken Sie.« Das Fräulein Leukroth schnickte empört über mich Ahnungslosen den Kopf zurück.
»Geben Sie mal her.« Den Titel musterte sie kurz, länger dagegen den Preis. Nahm einen Radiergummi und schabte den Preis, den Telefonhörer zwischen Schulter und Kinn geklemmt, weg, schrieb einen anderen hinein. Ich wußte schon: Man mußte würdig sein, wollte man die Schätze des Antiquariats Dienemann käuflich erwerben.
Man konnte nicht einfach daherkommen und glauben, hier jedes Buch mitnehmen zu dürfen, nur weil es in den Regalen stand. Das Fräulein Leukroth widmete sich wieder dem Telefon, bedeckte nach ein paar Minuten erneut den Hörer und warf mir eine Entscheidungsfrage zu: »Wer hat die Stunden im Garten illustriert?«
Das war eine Idylle von Hermann Hesse, Insel-Bücherei, mein Onkel besaß und liebte sie. Ich nicht. Hexameter über Unkrautrupfen. »Gunter Böhmer! Merken!« Ich versprach’s. »Na denn.« Und Fräulein Leukroth überließ mir das Buch, in dem nun auf dem Schmutzblatt eine »50« eingetragen war.
Mit meiner Beute ging ich nach vorn, klopfte bei Herrn Leukroth, der die Kasse verwaltete und gerade im »Kabinett für Ankauf und Ersatzmaterial« auf einer Leiter beim Packpapier und gestapelten Bohnerwachsdosen tätig war, eine Zigarre zwischen den Lippen, die sich gefährlich nah am Leichtentzündlichen bewegte.
»Na, junger Mann, was haben Sie denn da.« Ich reichte ihm den Zauberberg, mit unruhigen Händen. Ich wußte: Es war noch nicht vorbei. Herr Leukroth blätterte im Buch, und sein Gesicht verfinsterte sich. Von der »50« radierte er die Null ab, zögerte: »Aber Thomas Mann ist der Beste. Ein Heiliger der Schrift!«
Und Herr Leukroth hob die Hand mit der Zigarre, wie um höhere Mächte anzurufen. »Aber ich geb’s nich her«, sagte er. Ich protestierte. »Ich kann mich gegen Umsatz wehren, junger Mann!« Die Rettung war Klaus, mein Onkel, Bratschist in der Staatskapelle Dresden, die zu einer Tournee durch die Sowjetunion aufbrach.
Von dieser Tournee brachte er, aus dem Moskauer »Meschdunarodnaja kniga« (»Internationales Buch«), ein Exemplar des Zauberbergs mit, hinten war der Preis eingestempelt: 1 Rubel, 25 Kopeken.
15. April 2019
Notre-Dame brennt. Das Feuer soll aus Unachtsamkeit entstanden sein, Arbeiter waren mit Ausbesserungen am Dachstuhl beschäftigt, sollen geraucht haben. Ich sehe die Bilder, denke: Das ist das brennende Abendland. Wieder einmal, und doch scheint diesmal etwas anders zu sein im Vergleich zu den Bombardements im Zweiten Weltkrieg: die Gleichgültigkeit großer Teile der Gesellschaft dem gegenüber, was diese Kathedrale verkörpert.
Das ist nicht irgendein Haufen alter Steine, der aufkommendes Pathos, einen Hochbegriff wie Abendland zurückweist und die Gedanken relativierend auf täglich in aller Welt brennende Gebäude, Kirchen ja auch darunter, lenkt, vom täglichen Menschensterben zu schweigen.
Notre-Dame ist ein Symbol – daß es brennt, ein Menetekel. Mit der Einschätzung, es sei ein Unfall, keine Brandstiftung oder Terror, ist man recht schnell bei der Hand, schon aus Gründen der Staatsraison wird man den Verdacht, es könnte sich um einen Anschlag handeln, beiseitezuschieben versuchen, erst recht, wenn er in eine bestimmte weltoffene Richtung weist; was wäre die Konsequenz?
Wahrscheinlich Bürgerkrieg, jedenfalls Revolte, das kann man so kurz vor Wahlen ganz gewiß nicht gebrauchen, ohnehin erscheint die Situation in Frankreich mit einer Reibefläche vergleichbar zu sein, über die knapp vor der Stichflamme Streichhölzer schaben.
Ganz gleich, was die Ursache gewesen sein mag: Der Brand von Notre-Dame erscheint als Gleichnis unserer Zeit. Organismen, die sich über eine bestimmte Stufe hinaus entwickeln, erzeugen in sich selbst die dem Gebot, zuträglich zu wachsen, nicht mehr verpflichteten Zellen; einzeln können sie noch erfolgreich vom Immunsystem bekämpft werden, ab einer bestimmten Anzahl, einer bestimmten Wucherungsgeschwindigkeit aber nicht mehr, dann geht es für den Körper um Eindämmung, Schadensbegrenzung.
Teil‑, Sub-Körper bilden sich, deren Statthalter mit »was kümmerts mich, solange es mir gut geht« keinen Anteil mehr an der übergeordneten Einheit nehmen, die nächste Stufe ist »rette sich, wer kann«: der Körper als System, als Staat zerfällt. Die übliche Choreographie des Niedergangs.
Die westlichen Demokratien scheinen am Punkt allgemeinen Zukunftsverlusts, am mechanischen Weiter-So angekommen zu sein; die Institutionen zur Herstellung von Demokratie werden zur Fassade, sind nicht mehr von Sinn beglaubigt.
So war es in der Agonie der DDR, auch dort nur noch Fassaden, Kulissen, Als-ob, ein kleiner, unvorhergesehener Irrläufer, etwa eine Mitteilung am Rande einer Pressekonferenz, die sagt, ab jetzt sei alles anders, genügt dann, die Kulissen einstürzen zu lassen. Notre-Dame brennt, aber die Sender mit Bildungsauftrag finden Tier-Dokus und Talkshows wichtiger.
Wenn ihnen Europa wirklich etwas bedeuten würde, nicht nur Geschwätz und Floskel wäre, würden sie begreifen, daß mit der Kathedrale das Gleichnis unserer, der europäischen Identität zerstört wird, vielleicht können sie es nicht begreifen, vielleicht wollen sie es nicht, darin so vielen Wortführern der Moralbranche verwandt, die täglich ihre Verachtung des Eigenen, des Herkommens, des kulturellen Gepräges (wie vielfältig es auch beeinflußt sein mag) haltungskorrekt aus allen Zeitgeiströhren posaunt.
In Sachsen, in Dresden regt sich dagegen Widerstand, mehr als andernorts, wie es scheint. Warum? Sogenannte Qualitätsjournalisten schieben ihre Stethoskope über die sächsische Seele und hören Sumpfgeräusche. Dabei sind uns nur Heimat und unsere Kultur nicht egal.
Man muß Anker haben in der Zeit. Es hilft zu überleben.