Das späte Atlantis. Dresdner Aufzeichnungen

von Uwe Tellkamp
PDF der Druckfassung aus Sezession 90/Juni 2019

24. Juli 2015

Kul­tur als Wider­stand. Blatt­gold­wet­ter, leich­tes Licht. Klaus erzähl­te aus sei­ner Kind­heit. Wie er in Nöth­nitz gelebt und den Angriff auf Dres­den dort gehört habe, das Wum­mern. Eine schwe­re Bom­be habe sich nach Nöth­nitz ver­irrt, den Kra­ter kön­ne man heu­te noch erkennen.

Sei­nen Vater habe er im Grun­de nie ken­nen­ge­lernt. Sei Kom­mu­nist gewe­sen, in der Orga­ni­sa­ti­on Todt beschäf­tigt, beim Bau des West­walls, »so sinn­los.« Der Vater sei vor Kriegs­en­de umge­kom­men. Nach dem Bom­bar­de­ment sei eine Ver­wand­te mit zur Mut­ter gezo­gen, mit ihrer Toch­ter, sei­ner Cou­si­ne, sei er wie Bru­der und Schwes­ter aufgewachsen.

Erleb­nis­se mit Rus­sen: Sie, die Kin­der und die bei­den Müt­ter, sei­en eines Tages mit Lei­ter­wa­gen nach Hau­se gezo­gen, seit­ab eine Ein­heit Rus­sen, einer habe gewinkt: Her­kom­men. Die bei­den Frau­en befürch­te­ten das Schlimms­te, berie­ten. Klaus und die Cou­si­ne gin­gen vor.

Der Rus­se habe ihnen ein Brot gege­ben. Spä­ter Ein­quar­tie­rung des Kom­man­dan­ten im »Moos­bu­del«, dem win­zi­gen Haus, in dem sie gelebt hät­ten. Der Kom­man­dant habe das Wohn­zim­mer requi­riert, sie hät­ten zu viert in der Schlaf­kam­mer kampiert.

Beim Abzug hät­te kein ein­zi­ges Stück gefehlt, nicht das Radio, nicht die Uhr, nichts. Dage­gen Plün­de­run­gen der Ein­hei­mi­schen im Schloß. Der Bür­ger­meis­ter habe Mün­zen geklaut und spä­ter in einem Geschäft auf der Pra­ger Stra­ße verkloppt.

Ihm, Klaus, sei von einem der Plün­de­rer ein­mal ein Pracht­sä­bel aus dem Besitz derer von Finckh ange­bo­ten wor­den, denen das Nöth­nit­zer Schloß nach den Bün­aus gehört habe. Er habe die Signa­tur gese­hen und abge­winkt. Sei­ne ers­te Weih­nachts­er­in­ne­rung, für ihn unver­geß­lich, sei die Weih­nacht 1944 gewe­sen, sein Vater im Som­mer gefal­len, die Mut­ter in Trä­nen, völ­lig nie­der­ge­schla­gen, im fins­te­ren Moosbudel.

Ein Nach­bar sei gekom­men und habe für ihn einen klei­nen Weih­nachts­mann gebas­telt, der, wenn man ihn auf eine Schrä­ge stell­te, lang­sam hin­ab­ge­lau­fen sei. Der Weih­nachts­mann exis­tie­re noch. Klaus blickt in die gro­ße, lee­re Woh­nung, am Fens­ter hin­ter ihm steht eine rote Ama­ryl­lis. Sonst habe er kein Spiel­zeug gehabt.

Spiel­zeug sei­en für ihn die Schu­he gewe­sen, die die Fami­lie beses­sen habe. Die habe er in Rei­he auf­ge­stellt für einen Marsch nach Ruß­land, in sei­ner Phan­ta­sie habe er alles gese­hen: den Schnee, den Vater, die Marsch­ko­lon­nen. Das Größ­te sei gewe­sen, wenn sie, die Kin­der, den Sol­da­ten hät­ten nach­lau­fen kön­nen, die durchs Dorf kamen, sie sei­en bis Kaitz nachgelaufen.

Über die Nach­kriegs­zeit, die er als unge­heu­er reich­hal­tig erfah­ren habe, kul­tu­rell unver­gleich­lich, die Kon­ti­nui­tät des Schau­spiels, der Oper, des Musik­le­bens, er sei stun­den­lang von Ban­ne­witz in die Stadt gelau­fen, um den Kul­tur­hun­ger zu stil­len, heu­te gar nicht mehr denkbar.

Opern­auf­füh­rung Salo­me mit Chris­tel Goltz in der Kul­tur­scheu­ne in Bühl­au, wor­über Erhart Käst­ner einen Auf­satz ver­öf­fent­licht habe zu Zei­ten, als man wie gegen eine Wand geball­ten Wis­sens über Dres­den ange­schrie­ben habe und beim kleins­ten Feh­ler kor­ri­giert wor­den sei; jetzt Stil­le, Schwei­gen, Unkennt­nis, Gleich­gül­tig­keit, die Zei­chen der Zeit.

Selbst die ers­ten Namen, also Paluc­ca und Arden­ne, Theo Adam und Peter Schrei­er, ver­sin­ken all­mäh­lich, von der zwei­ten und drit­ten Rei­he von Per­sön­lich­kei­ten, die aber den städ­ti­schen Humus erst tief machen, zu schwei­gen. Pia­nis­ten wie Rudolf Dun­ckel oder Ama­de­us Weber­sin­ke, geschätz­te und fürs Musik­le­ben, den All­tag, unver­zicht­ba­re Per­sön­lich­kei­ten, kennt so gut wie nie­mand mehr.

Etwas zu ken­nen aber, etwas zu wis­sen, war nicht nur wich­tig, es war not­wen­dig: Not wen­dend. Dres­den, die Musik­stadt. Namen, die Opern-Gebets­schnur: Maria Cebo­ta­ri, Tino Pat­tie­ra, Carl Per­ron, Mar­ga­re­te Tesche­ma­cher, Min­nie Nast, Eli­sa­beth Rei­chelt, Mathieu Ahlers­mey­er, Karl Schei­de­man­tel, Arno Schel­len­berg, Ernst von Schuch, Fritz Rei­ner, Fritz Busch, Karl Böhm, Carl Elmen­dorff, Joseph Keil­berth, Rudolf Kempe.

Klaus meint, Kem­pe habe die klars­te Schlag­tech­nik gehabt, im Gegen­satz zu Furtwäng­ler. Es sei ein Rät­sel, wie um alles in der Welt die Phil­har­mo­ni­ker gewußt hät­ten, was er woll­te. Habe nur »Sup­pe umge­rührt«, schlag­tech­nisch eine Katastrophe.

Es müs­se aber irgend­et­was an ihm gewe­sen sein, sonst wür­den die Auf­nah­men, die man von ihm ken­ne, nicht so fas­zi­nie­rend sein. Aus den – weni­gen – vor­han­de­nen Bild­auf­nah­men sei­ner Diri­ga­te kön­ne man die­se Fas­zi­na­ti­on nicht ent­neh­men, im Gegenteil.

Lov­ro von Mat­a­cic, Otmar Suit­ner, Her­bert Blom­stedt, Giu­sep­pe Sino­po­li, Fabio Lui­si, Chris­ti­an Thie­le­mann. Es wird dun­kel, wir sit­zen noch auf dem Bal­kon, das Wind­licht flak­kert. Rau­schen der Bäu­me. Der Bal­kon scheint ins Dun­kel der Baum­kro­nen fort­zu­trei­ben, wir Erin­ne­rungs­süch­ti­gen dar­auf wie auf einer Arche mit ange­faul­ten Planken.

Dres­den ist für mich die Sage einer Stadt, die mehr­fach zer­stört wurde,


13. Febru­ar 2017

aber immer wie­der auf­er­stand, dies Wort im Sinn gebraucht, daß Auf­er­ste­hung die geis­ti­ge Gestalt meint: das Dres­den von vor 1945 ließ sich nicht wie­der­auf­bau­en. Neu­markt und Frau­en­kir­che sind Arte­fak­te, täu­schend ähn­lich dem, was ein­mal war, aber mit moder­nen Mit­teln errich­tet – es ist viel dar­über gestrit­ten wor­den, ob das zuläs­sig ist, man sei doch heu­te in einer ande­ren Zeit, man kön­ne nicht »ein­fach« Altes wiederaufbauen.

Das ist gewiß rich­tig. Doch bei einem Gemäl­de, etwa von Da Vin­ci, kommt man auch nicht auf die Idee, es nicht zu restau­rie­ren, wenn es beschä­digt ist, ein Maler, der sich hin­stell­te und vor­schlü­ge, den Da Vin­ci zu ver­nich­ten und statt­des­sen ein moder­nes Gemäl­de dafür hin­zu­stel­len, wür­de wohl nicht ernst­ge­nom­men werden.

(Was aber, wenn es nichts mehr zu restau­rie­ren gibt?) Ich bin mit den Erzäh­lun­gen über ein Dres­den auf­ge­wach­sen, das, was Archi­tek­tur, räum­li­che Glie­de­rung, Ein­bet­tung in eine Fluß­land­schaft, eine der schöns­ten Städ­te Euro­pas gewe­sen sein soll.

Ste­hen­des Gespräch an den Kaf­fee­ti­schen war die Zer­stö­rung am 13. Febru­ar 1945, Erleb­nis­se in der Feu­er­nacht. Dann aber der unbän­di­ge Wil­le zum Wie­der­auf­bau. Die Men­schen hun­ger­ten und fro­ren, aber sie klopf­ten Stei­ne, um den Zwin­ger wiederzuerrichten.

Sie gin­gen aus den umlie­gen­den Dör­fern, aus der Innen­stadt zu Kon­zer­ten in die Kul­tur­scheu­ne nach Bühl­au, zwan­zig, drei­ßig Kilo­me­ter zu Fuß, um ein Kon­zert zu hören. Ein­tritt: ein Bri­kett. In der Vor­wen­de­zeit war Chris­toph Heins Stück Die Rit­ter der Tafel­run­de Stadtgespräch.

Man las, nein, stu­dier­te Klem­pe­rers LTI, um die Spra­che des Drit­ten Reichs mit der des Vier­ten zu ver­glei­chen; wich­ti­ge Bücher, etwa Sol­sche­ni­zyns Archi­pel GuLAg oder Koest­lers Son­nen­fins­ter­nis wur­den, weil es kei­ne Kopier­ge­rä­te gab oder an den weni­gen auch Horch und Guck mit­las, per Hand abge­schrie­ben und über War­te­lis­ten verteilt.

Anfang der Acht­zi­ger mach­te ein Gerücht die Run­de: Der Auf­bau-Ver­lag pla­ne, den Zau­ber­berg her­aus­zu­brin­gen. Eine befreun­de­te Buch­händ­le­rin hat­te es in den Lis­ten des Leip­zi­ger Kom­mis­si­ons- und Groß­buch­han­dels, des DDR-Mono­po­lis­ten für Buch­aus­lie­fe­rung, ent­deckt und Bescheid gegeben.

Das war eine Wie­der­ver­öf­fent­li­chung, es hat­te bereits eine Aus­ga­be des Auf­bau-Ver­lags exis­tiert, unter ande­rem von Wal­ter Jan­ka betreut, der spä­ter ver­haf­tet wur­de und für den sich Katia Mann ein­setz­te; eine gedie­ge­ne zigar­ren­brau­ne Aus­ga­be auf Büt­ten­pa­pier im Blei­satz. Die befreun­de­te Buch­händ­le­rin berich­te­te über astro­no­mi­sche Vorbestellzahlen.

Chef­ärz­te hat­ten über ihre Sekre­ta­ria­te gan­ze Lis­ten ein­ge­reicht, Betriebs­di­rek­to­ren Kon­tin­gen­te ange­for­dert, bes­te Freun­de und alte Bekann­te, der über­le­bens­wich­ti­ge Hand­werks­meis­ter aus der nähe­ren Nach­bar­schaft mel­de­ten ihre Ansprü­che an: die befreun­de­te Buch­händ­le­rin saß bedau­ernd, aber unter­neh­mungs­lus­tig im Musik­zim­mer der Oskar-Pletsch-Stra­ße 10, in dem wir Tho­mas-Mann-Hung­ri­gen tag­ten, um zu bera­ten, wie wir an unse­re Geis­tes­nah­rung kom­men konn­ten, wenn, wie abseh­bar im Fall Der Zau­ber­berg, ein soge­nann­ter Ver­sor­gungs­eng­paß, sprich: eine Ver­sor­gungs­lü­cke, im Volks­mund auch genannt: Total­aus­fall, drohte.

Hat­ten wir jemand bei der Armee? Die dor­ti­gen Buch­hand­lun­gen, wuß­te die befreun­de­te Buch­händ­le­rin, beka­men näm­lich auch Zutei­lun­gen, und dort sei oft vor­han­den, was im Zivil­le­ben schon aus­ge­stor­ben; immer­hin sei es ihr, als ihr Sohn gedient hat­te, gelun­gen, über ihn und eine soge­nann­te Mili­tä­ri­sche Han­dels­or­ga­ni­sa­ti­on drin­gend benö­tig­te Dach­pap­pe zu ergattern.

Lei­der kann­ten wir nie­mand als Sol­dat und brav. Vater arbei­te­te als Arzt und Kreis­gut­ach­ter im Erz­ge­birgs­städt­chen Dip­pol­dis­wal­de, dort gab es eine klei­ne Buch­hand­lung, auch sie natür­lich mit Zutei­lung, auch sie aber lei­der, kein Wun­der, mit Bestel­lis­ten, die eher der Vor­mel­de­klad­de einer sozia­lis­ti­schen Auto­re­pa­ra­tur gli­chen als einer reel­len Chan­ce, mit den Damen und Her­ren des inter­na­tio­na­len Sana­to­ri­ums Berg­hof in lesen­de Bezie­hung zu treten.

Gab es nicht noch einen Bücher­schrank, in dem sich ein Exem­plar die­ses begehr­ten Buchs fin­den wür­de? – Nicht in der Nähe. Und in der Ferne?

Groß­va­ter leb­te wie­der in Ham­burg, Cas­torps Lands­mann, als ehe­ma­li­ger Pro­ku­rist der Säch­si­schen Serum­wer­ke genoß er eine aus­ge­zeich­ne­te Ren­te in har­ter Deut­scher Mark; wenn alle Stri­cke ris­sen, wür­de ein Brief ein soge­nann­ter E‑Brief, ein Entwicklungshilfe‑, auch: Ernst­fall-Brief, geschrie­ben wer­den müs­sen, in dem mit kunst­rei­chen Wor­ten und raschen Erkun­di­gun­gen nach dem Gang der Ange­le­gen­hei­ten in der Han­se­stadt, nach Gesund­heit und Wet­ter doch nur die har­te Not einer Bet­te­lei ein­ge­kreist wer­den wür­de: Es nahe sich ja wie­der Weih­nach­ten, ob da nicht, im Gegen­zug etwa zu einem Dresd­ner Stol­len, in der nächs­ten Buch­hand­lung … jedoch, bit­te, kein Taschen­buch. Man war ver­wöhnt, man hat­te sei­ne Ansprüche.

Die Ham­bur­ger Pro­ze­dur ver­sprach zwar Erfolg, hat­te aber etwas End­gül­ti­ges, Abschlie­ßen­des, die Ham­bur­ger Pro­ze­dur war Basta­spruch und, gewis­ser­ma­ßen, Reiß­lei­ne, sie ging, wenn gar nichts mehr ging, das war beru­hi­gend, und man hat­te etwas in der Hinterhand.

Doch sie kratz­te am Stolz. Und es war, bei aller Lie­be, ja doch »nur« ein Buch. So weit gehe die Lie­be nun doch nicht, mein­te Vater, an dem es gewe­sen wäre, den Brief zu ver­fas­sen; doch Vater ern­te­te ent­schie­de­nen Wider­spruch: Die Lie­be ging aller­dings so weit.

Auf das Ersatz­teil für den Warm­was­ser­boi­ler konn­ten wir zur Not ver­zich­ten, auf gute Bücher kei­nes­falls. Man beriet. Wei­te­re Ver­wandt­schaft im Jen­seits? Kost­bar, sel­ten, mit Samt­hand­schu­hen und­so­wei­ter; Kro­kow­skis frag­wür­di­ge Küns­te, Kräf­te von drü­ben zum Erschei­nen zu bewe­gen, hier in Form gel­ber Pake­te der Deut­schen Bun­des­post, Geschenk­sen­dung, kei­ne Han­dels­wa­re, stan­den uns lei­der nicht zur Verfügung.

Auch war Vaters Beden­ken nicht ganz vom Tisch zu wischen, im schon ganz mit his­to­ri­schem Edel­rost über­zo­ge­nen Dres­den der Vor­wen­de­zeit gab es noch mehr nicht als nur Ersatz­tei­le für Warm­was­ser­boi­ler. Aber immer noch hat­ten wir kein Buch.

Am Erschei­nungs­tag bil­de­te sich vor dem »Haus des Buches« am Dresd­ner Post­platz Ecke Thäl­mann­stra­ße eine rie­si­ge War­te­schlan­ge. Die befreun­de­te Buch­händ­le­rin wink­te ab: Das Buch war ja schon durch die Vor­be­stel­lun­gen hoff­nungs­los über­zeich­net, in die freie Ver­lo­sung kamen vier oder fünf Exemplare.

Nun gab es aber nicht nur Schlan­ge­ste­her, son­dern auch Buch- und Schall­plat­ten­schmugg­ler, genannt »die Buck­li­gen«, weil sie die Bück­wa­re beschaff­ten, die eben nicht auf, son­dern unter den Laden­ti­schen lag. Einen die­ser »Buck­li­gen« kann­te die befreun­de­te Buchhändlerin.

Heu­te ist er Pro­fes­sor und Direk­tor des Zeit­ge­schicht­li­chen Forums zu Leip­zig; damals, als regime­kri­ti­scher Bücher­wurm, rele­giert von der Hum­boldt-Uni­ver­si­tät mit der Aus­sicht, sich in einem Ber­li­ner Bau­be­trieb zu ver­din­gen, befand er sich in jenem Kapi­tel der Gro­ßen Real­so­zia­lis­ti­schen Bil­dungs­ro­mans, das eine Fra­ge als Über­schrift trägt: »Wie kommt jemand dazu, dir einen bestimm­ten Teil der Welt­li­te­ra­tur vorzuenthalten?«

Als er die Ant­wort für sich gefun­den hat­te, reis­te die­ser jun­ge Mensch gen Osten, zu den Anti­qua­ria­ten in Buda­pest und Kra­kau, Prag, Olmütz und Lem­berg, Dan­zig, wo Hans Cas­torp Schiff­bau stu­dier­te und die Mat­zer­aths einen Kolo­ni­al­wa­ren­la­den betrie­ben; er reis­te zu dem von den vie­len Umbrü­chen des 20. Jahr­hun­derts übrig­ge­blie­be­nen Strand­gut deutsch­spra­chi­ger Literatur.

Wie weit ging die Lie­be? Bei der gerin­gen Men­ge an Geld, die umge­tauscht wer­den durf­te? Sie ging so weit, daß die Alter­na­ti­ve »hun­gern oder Buch kau­fen« über­haupt kei­ne Alter­na­ti­ve war, es wur­de alter­na­tiv­los gehun­gert, um an Mas­se und Macht von Canet­ti oder Freuds Psy­cho­pa­tho­lo­gie des All­tags­le­bens zu kommen.

Wenn sol­che Schät­ze gebor­gen waren, muß­ten sie über die Gren­ze gebracht wer­den. Hier zeig­te sich, daß es kein Nach­teil war, nach dem Abitur im Staats­ar­chiv von Pots­dam preu­ßi­sche Zoll­ak­ten über den Schmug­gel im dama­li­gen Eisen­bahn­we­sen stu­diert zu haben.

Die preu­ßi­schen Eisen­bahn­schmugg­ler näm­lich hat­ten mit einem Schlüs­sel oder einem Schrau­ben­zie­her die Ver­klei­dung an der Wand der Zug­toi­let­ten ent­fernt und im plötz­lich sicht­ba­ren Hohl­raum ihre Kon­ter­ban­de ver­wahrt. Das Merk­wür­di­ge war, daß es sich in den Zügen der Deut­schen Reichs­bahn, mehr als hun­dert Jah­re spä­ter, noch immer so verhielt.

Radi­ka­ler, aber nicht weni­ger erfolg­ver­spre­chend war die zwei­te Metho­de, Schmug­gel­gut über Gren­zen zu brin­gen: in Plas­tik­tü­ten ver­packt, konn­te man es an einem Kreuz in das nach unten offe­ne – tief sind nicht nur die Brun­nen der Ver­gan­gen­heit – Reichs­bahn­plumps­klo hän­gen; die Zoll­fahn­der hat­ten nach viel­stün­di­gen Fahr­ten wenig Lust, die­se Abgrün­de genau­er zu erforschen.

Aber der Schmugg­ler, die­ser »Buck­li­ge« war teu­er. Zwar erklär­te er, daß den Zau­ber­berg zu besor­gen kein Pro­blem sei, ver­lang­te aber dafür einen Büs­ten­hal­ter der Grö­ße 80 G, die soge­nann­te Gro­ße Extra Hebe, die es in Dres­den nur bei Eva­na-Mie­der, einer Mie­der­wa­ren­ma­nu­fak­tur auf dem Wei­ßen Hirsch, käuf­lich zu erwer­ben gab.

Das Geschäft, von uns nach der Inha­be­rin Ruth Vogel nur »Busen-Vogel« genannt, bot nicht nur Ein­bli­cke in die Geheim­nis­se weib­li­cher Unter­klei­dung, son­dern auch in die der Man­gel­wirt­schaft und Mate­ri­al­be­schaf­fung, wie wir erfah­ren muß­ten, als wir vor­spra­chen; man war bei »Busen-Vogel« selbst am Erwerb des Romans Der Zau­ber­berg inter­es­siert und gab die Gro­ße Extra Hebe nur im Tausch gegen ein Exem­plar des Buchs ab.

Damit aber konn­ten wir nun gera­de nicht die­nen, gaben aber die Adres­se des Schmugg­lers wei­ter. Die Schrift­stel­le­rin Kat­ja Lan­ge-Mül­ler, die damals in Udo Pos­bichs Dru­cke­rei als soge­nann­te Ein­ar­mi­ge Ele­fan­tin an einer Lino­ty­pe-Setz­ma­schi­ne stand und den Zau­ber­berg als Pri­vat­druck auf exakt 444 Sei­ten setz­te, kann­ten wir damals noch nicht.

Blie­ben die hie­si­gen Anti­qua­ria­te. Im Anti­qua­ri­at Die­ne­mann resi­dier­ten Herr Leu­kroth, Jahr­gang 1899 und noch in der alten Frau­en­kir­che getauft, und sei­ne Toch­ter, das Fräu­lein Leu­kroth, sie leg­te Wert auf die­se Bezeich­nung. Den Zau­ber­berg ent­deck­te ich sofort, er steck­te im Tho­mas-Mann-Regal in der brau­nen Tho­mas-Mann-Gesamt­aus­ga­be, Auf­bau Ver­lag, 1953.

Auf dem Schmutz­blatt war mit dem Zit­ter­blei­stift der an Par­kin­son lei­den­den Hän­de des alten Leu­kroth eine »10« ein­ge­tra­gen, ein lächer­li­cher Preis. Das Fräu­lein Leu­kroth hat­te mich natür­lich ent­deckt, sie saß am Tisch im soge­nann­ten Zwi­schen­zim­mer, einem schma­len Gelaß zwi­schen dem eigent­li­chen Anti­qua­ri­at und der Buch­hand­lung vorn, die eben­falls unter der Insti­tu­ti­on Die­ne­mann lief, und die Fräu­lein Leu­kroth, ihrer Abnei­gung gegen aktu­el­le Druckerzeug­nis­se wegen, nur wider­wil­lig betrat.

Sie saß am Tisch und tele­fo­nier­te. Als ich vor­über­schlei­chen woll­te, leg­te sie die Hand auf den Hörer. »Jun­ger Mann, Sie kön­nen nicht ein­fach die­ses Buch mit­neh­men.« »Aber es steht im frei­en Ver­kauf.« »Den­ken Sie.« Das Fräu­lein Leu­kroth schnick­te empört über mich Ahnungs­lo­sen den Kopf zurück.

»Geben Sie mal her.« Den Titel mus­ter­te sie kurz, län­ger dage­gen den Preis. Nahm einen Radier­gum­mi und schab­te den Preis, den Tele­fon­hö­rer zwi­schen Schul­ter und Kinn geklemmt, weg, schrieb einen ande­ren hin­ein. Ich wuß­te schon: Man muß­te wür­dig sein, woll­te man die Schät­ze des Anti­qua­ri­ats Die­ne­mann käuf­lich erwerben.

Man konn­te nicht ein­fach daher­kom­men und glau­ben, hier jedes Buch mit­neh­men zu dür­fen, nur weil es in den Rega­len stand. Das Fräu­lein Leu­kroth wid­me­te sich wie­der dem Tele­fon, bedeck­te nach ein paar Minu­ten erneut den Hörer und warf mir eine Ent­schei­dungs­fra­ge zu: »Wer hat die Stun­den im Gar­ten illustriert?«

Das war eine Idyl­le von Her­mann Hes­se, Insel-Büche­rei, mein Onkel besaß und lieb­te sie. Ich nicht. Hexa­me­ter über Unkrau­trup­fen. »Gun­ter Böh­mer! Mer­ken!« Ich versprach’s. »Na denn.« Und Fräu­lein Leu­kroth über­ließ mir das Buch, in dem nun auf dem Schmutz­blatt eine »50« ein­ge­tra­gen war.

Mit mei­ner Beu­te ging ich nach vorn, klopf­te bei Herrn Leu­kroth, der die Kas­se ver­wal­te­te und gera­de im »Kabi­nett für Ankauf und Ersatz­ma­te­ri­al« auf einer Lei­ter beim Pack­pa­pier und gesta­pel­ten Boh­ner­wachs­do­sen tätig war, eine Zigar­re zwi­schen den Lip­pen, die sich gefähr­lich nah am Leicht­ent­zünd­li­chen bewegte.

»Na, jun­ger Mann, was haben Sie denn da.« Ich reich­te ihm den Zau­ber­berg, mit unru­hi­gen Hän­den. Ich wuß­te: Es war noch nicht vor­bei. Herr Leu­kroth blät­ter­te im Buch, und sein Gesicht ver­fins­ter­te sich. Von der »50« radier­te er die Null ab, zöger­te: »Aber Tho­mas Mann ist der Bes­te. Ein Hei­li­ger der Schrift!«

Und Herr Leu­kroth hob die Hand mit der Zigar­re, wie um höhe­re Mäch­te anzu­ru­fen. »Aber ich geb’s nich her«, sag­te er. Ich pro­tes­tier­te. »Ich kann mich gegen Umsatz weh­ren, jun­ger Mann!« Die Ret­tung war Klaus, mein Onkel, Brat­schist in der Staats­ka­pel­le Dres­den, die zu einer Tour­nee durch die Sowjet­uni­on aufbrach.

Von die­ser Tour­nee brach­te er, aus dem Mos­kau­er »Meschd­un­a­rod­na­ja kni­ga« (»Inter­na­tio­na­les Buch«), ein Exem­plar des Zau­ber­bergs mit, hin­ten war der Preis ein­ge­stem­pelt: 1 Rubel, 25 Kopeken.


15. April 2019

Not­re-Dame brennt. Das Feu­er soll aus Unacht­sam­keit ent­stan­den sein, Arbei­ter waren mit Aus­bes­se­run­gen am Dach­stuhl beschäf­tigt, sol­len geraucht haben. Ich sehe die Bil­der, den­ke: Das ist das bren­nen­de Abend­land. Wie­der ein­mal, und doch scheint dies­mal etwas anders zu sein im Ver­gleich zu den Bom­bar­de­ments im Zwei­ten Welt­krieg: die Gleich­gül­tig­keit gro­ßer Tei­le der Gesell­schaft dem gegen­über, was die­se Kathe­dra­le verkörpert.

Das ist nicht irgend­ein Hau­fen alter Stei­ne, der auf­kom­men­des Pathos, einen Hoch­be­griff wie Abend­land zurück­weist und die Gedan­ken rela­ti­vie­rend auf täg­lich in aller Welt bren­nen­de Gebäu­de, Kir­chen ja auch dar­un­ter, lenkt, vom täg­li­chen Men­schenster­ben zu schweigen.

Not­re-Dame ist ein Sym­bol – daß es brennt, ein Mene­te­kel. Mit der Ein­schät­zung, es sei ein Unfall, kei­ne Brand­stif­tung oder Ter­ror, ist man recht schnell bei der Hand, schon aus Grün­den der Staats­rai­son wird man den Ver­dacht, es könn­te sich um einen Anschlag han­deln, bei­sei­te­zu­schie­ben ver­su­chen, erst recht, wenn er in eine bestimm­te welt­of­fe­ne Rich­tung weist; was wäre die Konsequenz?

Wahr­schein­lich Bür­ger­krieg, jeden­falls Revol­te, das kann man so kurz vor Wah­len ganz gewiß nicht gebrau­chen, ohne­hin erscheint die Situa­ti­on in Frank­reich mit einer Rei­be­flä­che ver­gleich­bar zu sein, über die knapp vor der Stich­flam­me Streich­höl­zer schaben.

Ganz gleich, was die Ursa­che gewe­sen sein mag: Der Brand von Not­re-Dame erscheint als Gleich­nis unse­rer Zeit. Orga­nis­men, die sich über eine bestimm­te Stu­fe hin­aus ent­wi­ckeln, erzeu­gen in sich selbst die dem Gebot, zuträg­lich zu wach­sen, nicht mehr ver­pflich­te­ten Zel­len; ein­zeln kön­nen sie noch erfolg­reich vom Immun­sys­tem bekämpft wer­den, ab einer bestimm­ten Anzahl, einer bestimm­ten Wuche­rungs­ge­schwin­dig­keit aber nicht mehr, dann geht es für den Kör­per um Ein­däm­mung, Schadensbegrenzung.

Teil‑, Sub-Kör­per bil­den sich, deren Statt­hal­ter mit »was küm­merts mich, solan­ge es mir gut geht« kei­nen Anteil mehr an der über­ge­ord­ne­ten Ein­heit neh­men, die nächs­te Stu­fe ist »ret­te sich, wer kann«: der Kör­per als Sys­tem, als Staat zer­fällt. Die übli­che Cho­reo­gra­phie des Niedergangs.

Die west­li­chen Demo­kra­tien schei­nen am Punkt all­ge­mei­nen Zukunfts­ver­lusts, am mecha­ni­schen Wei­ter-So ange­kom­men zu sein; die Insti­tu­tio­nen zur Her­stel­lung von Demo­kra­tie wer­den zur Fas­sa­de, sind nicht mehr von Sinn beglaubigt.

So war es in der Ago­nie der DDR, auch dort nur noch Fas­sa­den, Kulis­sen, Als-ob, ein klei­ner, unvor­her­ge­se­he­ner Irr­läu­fer, etwa eine Mit­tei­lung am Ran­de einer Pres­se­kon­fe­renz, die sagt, ab jetzt sei alles anders, genügt dann, die Kulis­sen ein­stür­zen zu las­sen. Not­re-Dame brennt, aber die Sen­der mit Bil­dungs­auf­trag fin­den Tier-Dokus und Talk­shows wichtiger.

Wenn ihnen Euro­pa wirk­lich etwas bedeu­ten wür­de, nicht nur Geschwätz und Flos­kel wäre, wür­den sie begrei­fen, daß mit der Kathe­dra­le das Gleich­nis unse­rer, der euro­päi­schen Iden­ti­tät zer­stört wird, viel­leicht kön­nen sie es nicht begrei­fen, viel­leicht wol­len sie es nicht, dar­in so vie­len Wort­füh­rern der Moral­bran­che ver­wandt, die täg­lich ihre Ver­ach­tung des Eige­nen, des Her­kom­mens, des kul­tu­rel­len Geprä­ges (wie viel­fäl­tig es auch beein­flußt sein mag) hal­tungs­kor­rekt aus allen Zeit­geist­röh­ren posaunt.

In Sach­sen, in Dres­den regt sich dage­gen Wider­stand, mehr als andern­orts, wie es scheint. War­um? Soge­nann­te Qua­li­täts­jour­na­lis­ten schie­ben ihre Ste­tho­sko­pe über die säch­si­sche See­le und hören Sumpf­ge­räu­sche. Dabei sind uns nur Hei­mat und unse­re Kul­tur nicht egal.

Man muß Anker haben in der Zeit. Es hilft zu überleben.

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