Revoltierende Resteverwerter verfallner Imperien

von Jörg Bernig
PDF der Druckfassung aus Sezession 90/Juni 2019

»Sei­ne Majes­tät der König von Sach­sen ver­pflich­tet Sich, Behufs Deckung eines Theils der für Preu­ßen aus dem Krie­ge erwach­se­nen Kos­ten und in Erle­di­gung des im Arti­kel V. des Nikols­bur­ger Prä­li­mi­nar-Ver­tra­ges vom 26. Juli 1866 gemach­ten Vor­be­halts, an Sei­ne Majes­tät den König von Preu­ßen die Sum­me von – Zehn Mil­lio­nen Tha­lern – in drei glei­chen Raten zu bezah­len.« (Frie­dens-Ver­trag zwi­schen Preu­ßen und Sach­sen vom 21. Okto­ber 1866, Arti­kel VI.)

Nach der ver­lo­re­nen Schlacht von König­grätz in jenem »Krieg zwi­schen deut­schen Brü­dern«, wie Adal­bert Stif­ter an sei­nen Ver­le­ger Gus­tav Hecken­ast schreibt, zähl­ten die Öster­rei­cher und die mit ihnen ver­bün­de­ten Sach­sen 8000 Tote. Sie hat­ten Repa­ra­tio­nen an den Sie­ger Preu­ßen zu zah­len, Öster­reich wur­de aus Deutsch­land hin­aus- und Sach­sen in den Nord­deut­schen Bund hin­ein­ge­zwun­gen. Und da sit­zen die Sach­sen noch immer, in jenem nörd­li­chen Deutsch­land, das jetzt Bun­des­re­pu­blik heißt.

Eigent­lich füh­len sie sich dem Süden zuge­hö­rig, den Öster­rei­chern, den Bay­ern, und mit Ange­hö­ri­gen bei­der Stäm­me (die man­geln­de Fein­dif­fe­ren­zie­rung bit­te ich die Öster­rei­cher zu ent­schul­di­gen) kom­men sie wesent­lich rascher auf eine Kom­mu­ni­ka­ti­ons­ebe­ne als mit, sagen wir, Nie­der­sach­sen oder Holsteinern.

Mit den unbe­dingt nord­deut­schen Meck­len­bur­gern und Pom­mern gelingt das schon bes­ser, was wohl, beson­ders für die soge­nann­ten Erleb­nis­ge­ne­ra­tio­nen (ha, Zeit­zeu­gen!), dem gemein­sa­men Dik­ta­tur-Erleb­nis geschul­det ist. Das Epi­zen­trum bei­der deut­scher Dik­ta­tu­ren war Berlin.

Alles, was von da kommt, wird noch immer – zu recht, zu unrecht – erst ein­mal so quit­tiert, daß man Luft durch die geschlos­se­nen Zahn­rei­hen saugt. König­grätz steht nicht im Vor­der­grund des Den­kens, aber es ist doch irgend­wie da. Da war doch was, auch wenn es kein offi­zi­el­les Geden­ken gibt.

Es ist eine säch­si­sche Beson­der­heit, sich auf der unter­le­ge­nen Sei­te wie­der­zu­fin­den. Das Bünd­nis mit Napo­le­on brach­te den Sach­sen zwar die Königs­kro­ne (die sie auch nach dem Wie­ner Kon­greß behal­ten durf­ten), aber das König­reich hat­te in den Feld­zü­gen des Fran­zo­sen vie­le Lan­des­kin­der ver­lo­ren, es war durch Kriegs­kon­tri­bu­tio­nen ver­armt und es muß­te als Stra­fe Gebiet abtreten.

Bei alle­dem konn­te Sach­sen froh sein, nicht von der Land­kar­te ver­schwun­den zu sein. Auch das steht nicht im Vor­der­grund des Den­kens, aber da war doch was … Im noch ein­mal fünf­zig Jah­re wei­ter zurück­lie­gen­den Sie­ben­jäh­ri­gen Krieg wur­de die Lan­des­haupt­stadt Dres­den von preu­ßi­scher Artil­le­rie bom­bar­diert, die Sach­sen rück­ten mit ihren Ver­bün­de­ten zwar für ein paar weni­ge Tage in Ber­lin ein, es kam zu Kon­fis­ka­tio­nen, Kur­sach­sen wur­de jedoch jah­re­lang unter preu­ßi­sche Ver­wal­tung genom­men und in gro­ßem Stil ausgeplündert.

Auch das steht nicht im Vor­der­grund des Den­ken, aber da war doch was … Erklärt das, war­um die Sach­sen anders sind als so man­che der ande­ren in Deutsch­land? Ja und nein. Denn die säch­si­sche Geschich­te reicht viel wei­ter als die hier ad libi­tum her­aus­ge­grif­fe­nen Ereig­nis­se, die säch­si­sche Geschich­te reicht ein­tau­send Jah­re zurück.

Sach­sen ist nach Bay­ern das zweit­äl­tes­te staat­li­che Gebil­de in Deutsch­land, und dar­aus ist augen­schein­lich ein Selbst­ver­ständ­nis erwach­sen, das auch die zahl­rei­chen Nie­der­la­gen über­dau­ert, wohl weil sie die­se zu inkor­po­rie­ren imstan­de ist.

Ein­tau­send Jah­re – das über­la­gert noch die bit­ters­te Nie­der­la­ge, noch den größ­ten Ver­lust. Und das läßt, sei­en wir ehr­lich, man­che Sach­sen auf poli­ti­sche Gebil­de wie Nord­rhein-West­fa­len eher mit Her­ab­las­sung bli­cken. Der Grund dafür ist das eige­ne his­to­ri­sche Fundament.

Der Grund dafür ist aber auch und gera­de die aus west­li­cher Rich­tung erfah­re­ne Her­ab­las­sung, denn das hat sich nun nach PEGI­DA-Demons­tra­tio­nen und dem Aus­gang der Bun­des­tags­wahl von 2017 ver­meint­lich her­aus­ge­stellt: die Sach­sen sind rück­wärts­ge­wandt, kon­ser­va­tiv, reak­tio­när gar, nicht welt­of­fen, dem Frem­den gegen­über ableh­nend, von Angst vor dem Unbe­kann­ten zerfressen.

Dabei haben wir aber noch gar nicht über das durch­aus revo­lu­tio­nä­re Selbst­ver­ständ­nis der Sach­sen gespro­chen. Die Revo­lu­ti­on von 1848 / 49 – es waren auch säch­si­sche Künst­ler betei­ligt! – wur­de noch nie­der­ge­schla­gen. Die Revo­lu­ti­on von 1918 führ­te zum Frei­staat Sachsen.

Im ers­ten Auf­stand gegen den Kom­mu­nis­mus im Ost­block im Jahr 1953 spiel­te Sach­sen eine gewich­ti­ge Rol­le, auch wenn man sich ange­wöhnt hat, sich bei der Betrach­tung die­ses Ereig­nis­ses mit dem Blick auf Ber­lin zu begnü­gen. Und nach der Revo­lu­ti­on von 1989 woll­ten die Sach­sen eben ihren Frei­staat wie­der, ein ordi­nä­res Bun­des­land zu sein genüg­te da jeden­falls nicht.

1989. Eins neun acht neun. Damit sind Koor­di­na­ten aus­ge­spro­chen, die für etli­che Sach­sen grund­le­gen­de Koor­di­na­ten ihres Lebens sind und die nicht ein his­to­ri­sches Ereig­nis bezeich­nen, das poli­ti­schen Fest­tags­red­nern über­las­sen wur­de. 1989 ist für die­se Sach­sen geleb­tes Leben, ein Leben, das von damals bis in die Gegen­wart anhält.

1989 bedeu­tet für vie­le Sach­sen den Über­tritt ins mün­di­ge Leben. Komm!, ruft Höl­der­lin, ins Off­ne, Freund! zwar glänzt ein weni­ges heu­te / Nur her­un­ter und eng schlie­ßet der Him­mel uns ein … Der Irr­tum, dem man­che dabei lan­ge auf­ge­ses­sen waren, ist die Annah­me, daß die­ser Über­tritt ins mün­di­ge Leben gleich­sam der Über­tritt in die von Mün­di­gen bewohn­te Bun­des­re­pu­blik war.

Aber sie­he: Es gab dort kei­ne sol­chen Bewoh­ner, es gab bes­ten­falls eini­ge muti­ge Pio­nie­re und ers­te Sied­ler im Land der Mün­di­gen. Mit ihrer Beru­fung auf den auf­klä­re­ri­schen Akt von 1989 zer­ren die Sach­sen nun den in der alten Bun­des­re­pu­blik kul­ti­vier­ten Schwei­ge- und Dul­dens­kon­sens ans Licht, der so auch im wie­der­ver­ein­ten Deutsch­land gel­ten sollte.

Zuwi­der­hand­lun­gen wer­den bestraft. Eltern haf­ten für ihre Kin­der. Die­ser alt­bun­des­re­pu­bli­ka­ni­sche Kon­sens wur­de aber auch in Sach­sen lan­ge nicht gese­hen. Er bestand und besteht dar­in, daß lin­kes bis links­extre­mes Gedan­ken­gut auch von der soge­nann­ten Mit­te der Gesell­schaft ver­in­ner­licht und gleich­sam ver­bür­ger­licht wor­den war.

Und nicht zu ver­ges­sen, die Sach­sen sind kei­ne Bin­nen­deut­schen. Die Ver­bin­dun­gen nach Böh­men und nach Polen sind so alt wie Sach­sen selbst. Immer schon haben die Sach­sen ein Leben mit sla­wi­schen Nach­barn gelebt, sind die Sach­sen eine so wun­der­ba­re wie selt­sa­me Mischung, zu der Fran­ken, Nie­der­län­der und Sla­wen bei­getra­gen haben. Und die sla­wi­schen Sor­ben sind eben auch Sachsen.

Nach der Ver­trei­bung der Deut­schen aus Böh­men und Schle­si­en nach dem Zwei­ten Welt­krieg sind die Tsche­chen und Polen noch näher her­an­ge­rückt. Näher noch als auf Ruf­wei­te. Und so lebt man nun hier in der Mit­te Euro­pas, alte Ver­let­zun­gen mel­den sich – auf allen Sei­ten – gele­gent­lich, Phan­tom­schmer­zen sind manch­mal noch spür­bar, aber der Wil­le, neben- und auch mit­ein­an­der ein Leben zu füh­ren, das in geord­ne­ten Bah­nen ver­läuft, ist vorhanden.

Er ist dem Wün­schen ent­wach­sen und der ver­ge­hen­den Zeit. Die Sach­sen zäh­len sich zum Süden und bil­den gleich­zei­tig den Über­gangs­raum zum Nor­den. Sie sind kei­ne Bin­nen­deut­schen, sie sind kei­ne Nord- oder West­deut­schen. Der säch­sisch-pol­nischtsche­chi­sche Welt­win­kel macht sie zu Mit­tel­eu­ro­pä­ern, und dar­in sind sie auf eine fun­da­men­ta­le Wei­se ver­schie­den von denen, die sich zum »Wes­ten« zäh­len, und sie sind gleich­zei­tig auf fun­da­men­ta­le Wei­se den ande­ren Bewoh­nern Mit­tel­eu­ro­pas ver­bun­den, das in einem wech­selnd brei­ten Land­strei­fen oder insel­wei­se von der Ost­see bis zur Adria reicht und das von denen im »Wes­ten« denn auch kur­zer­hand zum »Osten« erklärt wor­den war.

Und daß der Wes­ten immer alles rich­tig und der Osten immer alles falsch gemacht hat, ist einer der ers­ten Arti­kel des Grund­ge­set­zes des »Wes­tens«. Die mit­tel­eu­ro­päi­sche Welt, in der Sach­sen liegt, weiß um Unter­gän­ge. Wir leben dort auf den Trüm­mern unter­ge­gan­ge­ner Rei­che, wir kra­men beim tröd­ler in alten orden und bro­schen / in käst­chen voll ver­klin­gen­der stim­men, wir ent­de­cken ver­wun­sche­ne grenz­stei­ne im wald, wir sind res­te­ver­wer­ter ver­fall­ner impe­ri­en zu spät gebo­re­ne sind wir.

Die Bewoh­ner der mit­tel­eu­ro­päi­schen Welt wis­sen um die Fra­gi­li­tät ihres nicht vor­han­de­nen Rei­ches, sie ken­nen die Aus­wir­kun­gen der mit Fan­fa­ren­stö­ßen ver­kün­de­ten Mensch­heits­be­glü­ckun­gen. Und sie schei­nen zu erken­nen, daß die Gebo­te der »Rein­heit« wie die der »Bunt­heit« dem­sel­ben Hirn­are­al ent­wach­sen sind.

Die Erfah­rung der Sach­sen, sich gegen ein oppres­si­ves Sys­tem erfolg­reich zur Wehr gesetzt zu haben, unter­schei­det sie einer­seits von West­deut­schen wie West­eu­ro­pä­ern und ver­bin­det sie ande­rer­seits mit den ande­ren Mit­tel­eu­ro­pä­ern – und ver­setzt sie offen­sicht­lich wie­der in die Lage, sich zu wehren.

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