Keinem Gedanken Glauben schenken, der nicht im Freien geboren ist

von Sebastian Hennig
PDF der Druckfassung aus Sezession 90/Juni 2019

Durch die nähe­re Hei­mat zu wan­dern, ist des Dresd­ners liebs­tes Wochen­end­ver­gnü­gen. In jeder Him­mels­rich­tung keh­ren ihm die Gefil­de ein ande­res Gesicht zu. Im Nor­den liegt die Hei­de, im Osten sind es die Aus­läu­fer des Lau­sit­zer Berg­lan­des und das Elb­sand­stein­ge­bir­ge, im Süden das Vor­land des Erz­ge­bir­ges, und west­lich gehen die links­elbi­schen Täler um Mei­ßen in das mit­tel­säch­si­sche Hügel­land über.

In der Bahn zwi­schen Mei­ßen und böh­mi­scher Gren­ze drän­gen die Wan­der­grup­pen in die Nah­erho­lungs­ge­bie­te. Es emp­fiehlt sich, abseits des Bas­tei­auf­triebs sei­nen Weg zu suchen, sowie die­sen weit in die Land­schaft zu ver­län­gern. Der Gedan­ke einer Ver­ge­mein­schaf­tung der tage­lan­gen Strei­fe­rei­en gärt eine Wei­le, bis er plötz­lich zum Aus­bruch gelangt.

Ein Dut­zend Freun­de und Bekann­te wer­den im Spät­som­mer 2017 von einem Tag auf den ande­ren zu einer zwei­tä­gi­gen Wan­de­rung durch Nord­böh­men ein­ge­la­den. Mit der ers­ten Bahn fah­ren wir vor­erst zu zweit durchs fins­te­re Elb­tal und dann mit dem tsche­chi­schen Schie­nen­er­satz­ver­kehr nach Böh­misch Lei­pa, lau­fen durch das Höl­len­tal an den Hoh­le­ner Tei­chen vor­bei, um das Nacht­la­ger auf dem Ron­berg bereits besetzt und den Aus­blick unter­des­sen völ­lig ver­buscht zu finden.

Da der letz­te Zug abge­fah­ren ist, neh­men wir ein wohl­fei­les Zim­mer im Blei­swed­ler Wirts­haus. In der Gast­stu­be darf nicht mehr geraucht wer­den, und es gibt nur Minut­ky gehei­ße­nen Schnell­im­biß, weil Brüs­se­ler Funk­tio­nä­re die lan­ge Ver­weil­dau­er von Gulasch in böh­mi­schen Koch­töp­fen verpönen.

Am Sonn­tag dar­auf sind wir bereits in dop­pel­ter Zahl unter­wegs. Am Fuße des Mil­le­schau­er Don­ners­ber­ges fin­den wir eine Limou­si­ne im Wald abge­stellt und gera­ten unver­se­hens in eine Frei­luft-Audi­enz des Fürs­ten Schwar­zen­berg. Vier­zehn Tage dar­auf lau­fen zehn Wan­de­rer bei­der­lei Geschlechts zwi­schen zwan­zig und acht­zig Jah­ren vom sagen­haf­ten Königs­feld bei Sta­ditz bis nach Aussig.

Mit wech­seln­der Betei­li­gung geht es seit­her min­des­tens vier­zehn­tä­gig bis zur Erschöp­fung ins Freie. Kei­ner der Streif­zü­ge ist bis­her aus­ge­fal­len. Regen und Käl­te wir­ken hin­term Fens­ter schreck­lich. Drau­ßen ist auch ein schar­fer Ost­wind erträglich.

Bald nach uns auf­ge­bro­chen sind die tob­süch­ti­gen, himm­li­schen Kin­der Xavier, Her­wart und Frie­de­ri­ke. Seit­her beschat­ten rie­si­ge Wur­zeltel­ler häu­fig von Bruch­holz ver­leg­te Wege. Krie­chen, Stei­gen oder Umge­hen bleibt im Ern­te­ge­biet der Stür­me erfor­der­lich. Vor­ex­kur­sio­nen wer­den kei­ne unternommen.

Eine Vor­schau gibt es nicht. Nach dem jeweils voll­ende­ten Streif­zug wird der nächs­te Stre­cken­ver­lauf fest­ge­legt. Er ver­dankt sich der Ein­ge­bung, Erfah­rung, Rat­schlä­gen und einer Gna­den­hoff­nung, die bis­lang noch nie getro­gen wur­de. Vie­les ist dem Anstif­ter aus sei­ner auto­frei ver­brach­ten Kind­heit und Jugend vertraut.

Die öffent­li­che Beför­de­rung ist hier­zu­lan­de viel bes­ser als ihr Ruf. Die Kraft­fah­rer der Land­om­ni­bus­se sind Hel­den der Stra­ße. Grup­pen­ta­ges­kar­ten mäßi­gen den Fahr­preis­an­teil der Ein­zel­nen, die an der Stre­cke zustei­gen. Man­che Orte wer­den aller­dings nur Werk­tags ange­fah­ren, wie bei­spiels­wei­se Nie­der­schö­na bei Frei­berg, von wo wir dem­nächst nach Ober­häs­lich gehen wollen.

Der Ver­lauf des Zusam­men­seins gegen­sätz­li­cher Cha­rak­te­re im Frei­en ent­spannt deren Gesprä­che. Durch belas­ten­de Umstän­de auf­ge­zwun­ge­ne Bün­de­lei lockert sich lau­fend. Denn Gehen macht zugäng­lich. »Kei­nem Gedan­ken Glau­ben schen­ken, der nicht im Frei­en gebo­ren ist«, schrieb Nietz­sche im Ecce Homo.

In der Tat: Die Erschöp­fung läßt emp­fäng­li­cher wer­den und zer­mürbt den wech­sel­sei­ti­gen Starr­sinn. Wie bei den Arbei­tern im Wein­berg führt die Suche zur Frucht – und zur Sucht, immer wie­der in der Frü­he los­zu­lau­fen. Das Motiv der Wan­der­bur­schen gleicht am ehes­ten jenem der sozia­lis­ti­schen Natur­freun­de, die am Sonn­abend nach der Arbeit ins Gebir­ge radel­ten, um das Wochen­en­de in tat­säch­li­cher Frei­heit zu verbringen.

Pro­le­ta­ri­er wur­den zu Digi­ta­li­sa­ten, und statt stu­pi­der kör­per­li­cher Arbeit wol­len wir der elek­tro­nisch-vir­tu­el­len Beschlag­nah­me ent­rin­nen. Gemüt­lich bis zur Erschöp­fung ent­ge­hen wir der fina­len Ver­nut­zung und Kon­trol­le, indem wir nichts abar­bei­ten, regis­trie­ren oder uns sonst irgend­wie nütz­lich erweisen.

Dem Glück­li­chen schlägt kei­ne Stun­de und es wird ihm kein Kilo­me­ter ange­rech­net. Die Hei­mat ist weder eine Fit­neß­are­na noch ein Frei­zeit­park mit Bau­denk­ma­len, Natur­schön­hei­ten und Stand­or­ten sel­te­ner Spe­zi­es. Sie hat ein Ant­litz, in des­sen Zügen wir lesen.

Die­ses lie­be Gesicht rührt uns noch, wenn es trau­rig, zor­nig ist oder von einer hef­ti­gen Migrä­ne ent­stellt wird. Wir hal­ten unse­re Sin­ne offen für das Bedeu­ten­de, selbst dann, wenn es nichts Gutes bedeu­ten soll­te. Die lau­fen­de Besich­ti­gung und anschau­en­de Bege­hung dient nicht nur der eige­nen See­len­stär­kung, sie stärkt die Hei­mat in ihrer Gestalt.

Denn durch Hege und Schau bil­de­te sich das Gelän­de zur Land­schaft. In sei­ner Aes­the­ti­ca in Nuce stellt Johann Georg Hamann fest: »Poe­sie ist die Mut­ter­spra­che des mensch­li­chen Geschlechts; wie der Gar­ten­bau älter als der Acker: Malerey – als Schrift; Gesang – als Dekla­ma­ti­on; Gleich­nis­se – als Schlüsse.«

Anstatt die Wirt­schaft zu kul­ti­vie­ren durch Hand­werk und Land­bau, ereig­net sich die Ver­wirt­schaft­li­chung unse­rer Kul­tur in der Tou­ris­mus- und der Agrar­in­dus­trie. Vor­mals hat­ten die Wan­de­rer einen Bogen um die Hüt­ten, Gru­ben und Hoch­öfen zu machen.

Wir dage­gen wei­chen den Desti­na­tio­nen der Tou­ris­mus­in­dus­trie aus. Wo die Hei­mat als Dir­ne her­aus­ge­putzt ist, gehen wir auf Abstand. Die brül­len­de Bespa­ßung der Schlös­ser und Gär­ten durch das Finanz­mi­nis­te­ri­um des Frei­staa­tes ist betriebs­wirt­schaft­lich wohl sinn­voll, aber hei­mat­kund­lich geistlos.

Dage­gen for­dern klei­ne Muse­en, wie in Wol­ken­stein, Streh­la, die Hum­boldt­bau­de auf dem Schlech­te­berg und das Kalk­berg­werk Mil­titz, zuwei­len unse­re Auf­merk­sam­keit. Der Zugang zu die­sen beson­de­ren Orten ver­dankt sich Einzelnen.

Sie wer­den nicht von oder durch einen Ver­ein betrie­ben, son­dern im Ver­ein. Was schert es uns, wenn eine Aus­stel­lung im Fest­saal des Schlos­ses Huber­tus­burg prahlt: »Die ver­lo­re­ne Pracht des 18. Jahr­hun­derts und des säch­si­schen Roko­kos ist dank der auf­wän­di­gen digi­ta­len Ani­ma­ti­on so zu erah­nen. Begeg­nen Sie den eins­ti­gen Haus­her­ren: König August III. und sei­ner Gemah­lin Maria Jose­pha, die Ihnen, aus ihren Por­träts zum Leben erweckt, von ihren ganz eige­nen Erfah­run­gen im Schloss berichten.«

Statt die­ser fet­ten Lüge auf den Leim, gehen wir bes­ser den Lein­pfad längs der Elbe an der vor­ge­schicht­li­chen Schan­ze bei Leck­witz über den Indus­trie­kom­plex Nünchritz zum maro­den Schloß Prom­nitz, wo der preu­ßi­sche Kron­prinz wäh­rend des Zeit­hai­ner Lagers dem Freund Kat­te sei­ne Flucht­plä­ne anvertraute.

In sei­ner ver­bau­ten und bau­fäl­li­gen Gegen­wart ist die­ser Ort bezeich­nen­der als die auf­wen­di­gen Simu­la­tio­nen der Staat­li­chen Kunst­samm­lun­gen. Hier fin­den wir Deckung vor dem Sperr­feu­er der Muse­ums­päd­ago­gen. Bil­dung ver­mag nichts gegen Anschau­ung und die Ahnung über­trifft jedes Wissen.

Aus dem Dunst über der herbst­li­chen Fluß­aue tritt unse­re Geschich­te kla­rer her­vor als in Rönt­gen­strahl und Glas­fa­ser­leuch­te. Wir ste­hen vor dem Pfarr­haus in Schir­menitz, in dem Karl V. vor der Schlacht von Mühl­berg näch­tig­te. Tizi­ans gewal­ti­ges Gemäl­de im Pra­do läßt hin­ter dem gehar­nisch­ten Kai­ser einen ewi­gen Mor­gen über der Aue von Dah­le und Elbe grauen.

Der Nach­bar auf der Lei­ter bestä­tigt uns die Lage des »Kai­ser­zim­mers« neben­an. Das Aus­se­hen des völ­lig ver­bau­ten Teil­ge­bäu­des läßt ver­mu­ten, daß im his­to­ri­schen Raum ein­mal in der Woche die leer­ge­trun­ke­nen Bier­do­sen weg­ge­bracht werden.

Bevor sich die Rus­sen und Ame­ri­ka­ner fluß­auf­wärts bei Lorenz­kirch zuerst begeg­ne­ten, waren zahl­lo­se Lei­chen ver­trie­be­ner Zivi­lis­ten von der Markt­wie­se zu räu­men. Im Juni 1866 ging die preu­ßi­sche Elbar­mee bei Katzschhäu­ser über den Strom und zog wei­ter gen Dresden.

Das König­reich erleb­te eine glimpf­li­che Beset­zung, konn­te die Loko­mo­ti­ven und die Kas­se sei­ner Eisen­bahn in Sicher­heit brin­gen und wur­de bald zum wich­tigs­ten Ver­bün­de­ten der neu­en Vor­macht Preu­ßen. In Pauß­nitz wur­de 1898 von einem Guts­be­sit­zer ein Ring mit der Inschrift »NAINE MI XPS« gefunden.

Der befin­det sich im Lan­des­mu­se­um in Hal­le, wo im Herbst eine gro­ße Aus­stel­lung um ihn gebaut wird. Sei­ne Wor­te beschwö­ren die Ver­nich­tung durch Chris­tus. Das Muse­um ver­kauft Repli­ken davon.

Doch die Aura webt solan­ge am Fund­ort, wie wir selbst zu Fuß den Ein­trag durch das Fach unse­rer Zeit leis­ten. Als Ket­te und Schuß schaf­fen Wan­de­rer und Land­schaft am sau­sen­den Web­stuhl der Zeit und wir­ken der Gott­heit leben­di­ges Kleid.

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