Demokratie und totaler Krieg

PDF der Druckfassung aus Sezession 90/Juni 2019

Erik Lehnert

Erik Lehnert ist promovierter Philosoph.

Zu Leb­zei­ten war Rolf Peter Sie­fer­le ein Geheim­tip. Sei­ne Bücher erschie­nen zwar in bekann­ten Ver­la­gen und wur­den rege bespro­chen, dran­gen aber kaum über das wis­sen­schaft­lich inter­es­sier­te Publi­kum hin­aus. Kurz nach dem Frei­tod von Rolf Peter Sie­fer­le im Sep­tem­ber 2016 erschie­nen zwei schma­le Publi­ka­tio­nen aus dem Nach­laß, die sei­nen Namen schlag­ar­tig bekannt mach­ten und ihn in die Best­sel­ler­lis­ten katapultierten.

Finis Ger­ma­nia und Das Migra­ti­ons­pro­blem brach­ten bei­de auf ihre Art die Zuta­ten für einen Best­sel­ler mit, die nur des äuße­ren Anlas­ses bedurf­ten, um ihre Wir­kung zu ent­fal­ten: die Zuspit­zung, die Les­bar­keit, den Zeit­punkt und den Skan­dal. In denk­bar größ­tem Kon­trast steht zumin­dest äußer­lich die drit­te Nach­laß­pu­bli­ka­ti­on von Sieferle.

In eini­gen Nach­ru­fen wur­de bereits erwähnt, daß ein 600seitiges Manu­skript abge­schlos­sen vor­lie­ge, das sein eigent­li­ches wis­sen­schaft­li­ches Ver­mächt­nis dar­stel­le. Aus den 600 Manu­skript­sei­ten sind 1500 Druck­sei­ten gewor­den, ein wah­rer Zie­gel­stein und dickes Brett zugleich. Noch mehr als der Umfang dürf­te aber man­che das The­ma erstau­nen, Krieg und Zivilisation.

Der Skan­dal dürf­te indes auf sich war­ten las­sen. Nicht, weil es nichts für den Main­stream Anstö­ßi­ges zu ent­de­cken gebe, son­dern eher, weil das Durch­mus­tern bei der Sei­ten­zahl ech­te Arbeit bedeu­tet. Hin­zu kom­men sicher­lich zwei Din­ge, die eine Rezep­ti­on erschweren.

Zum einen ist Sie­fer­le bis­lang nicht als Mili­tär­his­to­ri­ker her­vor­ge­tre­ten, was die Fach­leu­te skep­tisch stim­men dürf­te, und zum ande­ren wird die­ses The­ma in Deutsch­land über­haupt ängst­lich gescheut, weil es einem dunk­len, lan­ge über­wun­de­nen Zeit­al­ter angehört.

Im Migra­ti­ons­pro­blem, das Sie­fer­le kurz vor sei­nem Tod abschloß, fin­det sich bereits ein Hin­weis dar­auf, war­um ihn die­ses The­ma, ganz im Gegen­satz zu sei­nen Zeit­ge­nos­sen, so umtreibt:

Ein wesent­li­ches Pro­blem jeder Herr­schafts­aus­übung, die Nei­gung zu einer Kom­bi­na­ti­on von ideo­lo­gi­schen Phan­tas­men und Macht­ex­zes­sen, bis hin zur Kriegs­füh­rung, scheint für die west­li­chen Län­der been­det zu sein. In nähe­rer Zukunft ist kein gro­ßer Krieg zwi­schen den kom­ple­xen Gesell­schaf­ten zu befürch­ten, da alle wis­sen, daß sie in ihm mehr zu ver­lie­ren als zu gewin­nen haben.

Das ist ein nüch­ter­ner Blick auf die Lang­zeit­per­spek­ti­ven der euro­päi­schen Kul­tur. Sie­fer­le macht nicht den Feh­ler, die Abwe­sen­heit von Krieg unse­rem Regie­rungs­sys­tem oder der euro­päi­schen Eini­gung zuzu­schrei­ben. Soll­te jemand der Mei­nung sein, mit einem Krieg mehr gewin­nen als ver­lie­ren zu kön­nen, kann die Ent­schei­dung für den Krieg eben­so prag­ma­tisch fallen.

Hin­zu kommt, daß die Zukunfts­si­che­rung nicht dadurch gewähr­leis­tet wird, daß man auf Krieg ver­zich­tet, jeden­falls dann nicht, wenn weni­ger kom­ple­xe Gesell­schaf­ten das ganz anders sehen. In Krieg und Zivi­li­sa­ti­on ver­sucht Sie­fer­le nun, dem Zusam­men­hang von kom­ple­xen Gesell­schaf­ten und ihrem Den­ken über den Krieg auf den Grund zu gehen.

Die Ver­schrän­kung von Ideen- und Ereig­nis­ge­schich­te, die das Buch aus­zeich­net, führt er lei­der nur für das Zeit­al­ter der Welt­krie­ge kon­se­quent durch. Auf über 500 Sei­ten geht Sie­fer­le teil­wei­se sehr detail­liert auf die Vor­ge­schich­te und den Ver­lauf der bei­den Welt­krie­ge ein.

In der Kon­zep­ti­on des Buches muß daher der vor­her­ge­hen­de Teil als ein gro­ßer Anlauf auf die­ses Fina­le der Kriegs­füh­rung in Euro­pa ange­se­hen wer­den. Sie­fer­le behan­delt dabei zunächst ganz kur­so­risch die Fra­gen nach den anthro­po­lo­gi­schen Ursprün­gen des Krie­ges, die er bis ins Mit­tel­al­ter verfolgt.

Die Anti­ke kommt dabei etwas kurz, was dar­an zu lie­gen scheint, daß die­se Tra­di­ti­on mit der Völ­ker­wan­de­rung einen Abriß erfuhr und spä­ter erst wie­der­ent­deckt wer­den muß­te. Dar­an schlie­ßen sich Kapi­tel über die Mili­tär­re­vo­lu­ti­on der Frü­hen Neu­zeit, die Hegung des Krie­ges im 18. Jahr­hun­dert und die Rol­le des Mili­tärs im hun­dert­jäh­ri­gen Frie­den zwi­schen 1815 und 1914 an.

Unter­bro­chen wird die­se Argu­men­ta­ti­on durch ein Kapi­tel über »Euro­päi­sche Tra­di­tio­nen des Den­kens über den Krieg«, das auch in den chro­no­lo­gisch ange­ord­ne­ten Kapi­teln immer wie­der durch Refle­xio­nen über den Bel­li­zis­mus ergänzt wird.

An die gro­ße Erzäh­lung des Zeit­al­ters der Welt­krie­ge schlie­ßen sich Über­le­gun­gen zu Kon­se­quen­zen aus dem Zwei­ten Krieg und den aktu­el­len Kriegs­sze­na­ri­en an. Der Text­erschlie­ßung die­nen ein Sach- und ein Per­so­nen­re­gis­ter. Hin­zu kom­men im Anhang The­sen zur »Uni­ver­sal­ge­schich­te des Krie­ges« und zur »Geschich­te des Bel­li­zis­mus«, die so etwas wie die Quint­essenz des Gan­zen dar­stel­len, ohne die Dimen­sio­nen des Buches erah­nen zu lassen.

Zur Gegen­wart lau­tet die The­se: »Die zwei­te Hälf­te des 20. Jahr­hun­derts war von einem rapi­den Legi­ti­mi­täts­ver­lust des Krie­ges in den west­li­chen Län­dern geprägt. Krieg galt als Inbe­griff der ›sinn­lo­sen‹ Zer­stö­rung.« Plas­tisch wird die­se Ein­schät­zung durch die per­sön­li­che Moti­va­ti­on des Autors zur Beschäf­ti­gung mit die­ser Mate­rie, die jedem bekannt vor­kom­men dürf­te, der eine bun­des­deut­sche Schu­le oder Uni­ver­si­tät besucht hat:

Als ich 1968 das Stu­di­um der Geschich­te begon­nen habe, war die Befas­sung mit dem Krieg das Ent­le­gends­te, was man sich vor­stel­len konn­te. Kriegs­ge­schich­te war an spe­zi­el­le Insti­tu­tio­nen der Bun­des­wehr ver­bannt, von denen wir kei­ne wei­te­re Kennt­nis besa­ßen. An den zivi­len Uni­ver­si­tä­ten gehör­te sie einer fins­te­ren Ver­gan­gen­heit an, von der wir eher mythi­sche Vor­stel­lun­gen hat­ten. […] Das kon­kre­te Kriegs­ge­sche­hen wur­de völ­lig igno­riert, sowohl in stra­te­gi­scher als auch in tak­tisch-ope­ra­ti­ver Hin­sicht, geschwei­ge denn, daß das ›Kriegs­er­leb­nis‹ der Sol­da­ten the­ma­ti­siert wurde.

Im Aus­land, vor allem in Groß­bri­tan­ni­en, nahm Sie­fer­le hin­ge­gen ein reges Inter­es­se für die­se Din­ge wahr, die ihn jah­re­lang beschäf­tigt haben. Mitt­ler­wei­le hat sich die Situa­ti­on in Deutsch­land etwas geän­dert, was vor allem von der welt­ge­schicht­lich geän­der­ten Situa­ti­on, dem Ende des Kal­ten Krie­ges und der Betei­li­gung der Deut­schen an Aus­lands­ein­sät­zen, herrührt.

Wer sich noch an das Geran­gel erin­nern kann, das die Qua­li­fi­zie­rung des Afgha­ni­stan­ein­sat­zes durch den dama­li­gen Ver­tei­di­gungs­mi­nis­ter Gut­ten­berg als Krieg aus­ge­löst hat, weiß aber auch, daß sich grund­sätz­lich gar nichts geän­dert hat:

Die Erfah­run­gen der Welt­krie­ge, vor allem dann des Zwei­ten Welt­kriegs, brach­ten schließ­lich eine Ernüch­te­rung, und die bel­li­zis­ti­sche Revol­te wur­de in den All­tag abge­drängt, in Extrem­sport, Dro­gen­kon­sum und Popkultur.

Inter­es­sant ist es, die­se retro­spek­ti­ve Ein­schät­zung mit Sie­fer­les Epo­chen­wech­sel abzu­glei­chen, in dem er bereits 1992 feststellte:

Deutsch­land ist men­tal voll­stän­dig pazi­fi­ziert wor­den. Die blo­ße Vor­stel­lung, Krieg könn­te wei­ter­hin legi­ti­mes Mit­tel der Poli­tik sein, erweckt bis in die Füh­rungs­spit­zen der Bun­des­wehr hin­ein blan­kes Ent­set­zen wie wohl sonst nir­gend­wo in der Welt.

Deutsch­lands Per­spek­ti­ve sei es, eine Art grö­ße­res Hong­kong zu bil­den. Die dahin­ter­ste­hen­de Ein­sicht, wer den Krieg als letz­tes Mit­tel auf­ge­be, sei nicht beson­ders fried­fer­tig, son­dern im Zwei­fel erpreß­bar, hat sich nicht nur im Fall Hong­kongs bewahrheitet.

Vor die­sem Hin­ter­grund dür­fen wir davon aus­ge­hen, daß Sie­fer­le mit sei­nem monu­men­ta­len Nach­laß­werk eine rea­lis­ti­sche Per­spek­ti­ve auf den Krieg eta­blie­ren woll­te, die er durch sei­ne wis­sen­schaft­li­che Repu­ta­ti­on gedeckt sah und dem­entspre­chend nicht der bes­ser­wis­se­ri­schen Nör­ge­lei gleich­ge­schal­te­ter Wis­sen­schafts­ver­la­ge aus­set­zen wollte.

Der Text soll­te unver­än­dert erschei­nen, was zu Leb­zei­ten nicht mehr gelang. Begin­nen wir mit der nahe­lie­gen­den Fra­ge nach der Bedeu­tung des Krie­ges für die Ent­ste­hung der euro­päi­schen Zivi­li­sa­ti­on. Denn Sie­fer­le zufol­ge liegt der Schlüs­sel für die Beant­wor­tung der Fra­ge, war­um die Indus­tria­li­sie­rung in Euro­pa und nicht in ande­ren agra­ri­schen Zivi­li­sa­tio­nen statt­ge­fun­den hat, eben in der früh­neu­zeit­li­chen Militärrevolution.

Das ist an sich kein neu­er Gedan­ken, und Sie­fer­le nennt sei­ne eng­li­schen Gewährs­män­ner dafür. Aller­dings steht die­se Ein­sicht unter dem gene­rel­len Ver­dacht, damit die Herr­schaft des alten wei­ßen Man­nes eta­bliert zu haben, die es nach über­wie­gen­der Mei­nung zu been­den gilt.

Von die­ser War­te aus wird die Beschäf­ti­gung mit die­ser Epo­che eine Ver­lust­ge­schich­te erge­ben, im umge­dreh­ten Fall kann sie erklä­ren, war­um es bis heu­te kei­ner­lei Mög­lich­keit gibt, die Welt ohne die Begrif­fe des alten wei­ßen Man­nes zu denken.

Sie­fer­le ist dabei nicht so kurz­sich­tig, sich auf die tech­ni­schen Wei­ter­ent­wick­lun­gen allein zu beschrän­ken. Neben dem Ein­satz von Feu­er­waf­fen und der Ver­grö­ße­rung der Streit­kräf­te waren es vor allem stra­te­gi­sche Leis­tun­gen, die die­se Revo­lu­ti­on ermöglichten.

Zum einen muß­ten die Stra­te­gien mit der Grö­ße der Streit­kräf­te wach­sen und durch die wach­sen­den Ein­satz­mög­lich­kei­ten kom­ple­xer wer­den. Zum ande­ren muß­ten die Finan­zie­rungs­pro­ble­me, die der Unter­halt gro­ßer Hee­re mit sich brach­te, fis­ka­lisch und admi­nis­tra­tiv gelöst werden.

Sie­fer­le geht dabei auf die The­se von Micha­el Roberts zurück, der für die Zeit zwi­schen 1560 und 1660 eine Revo­lu­ti­on, im Sin­ne eines Über­gangs von einem Gleich­ge­wichts­zu­stand in den nächs­ten, pos­tu­liert hat­te. Der eng gefaß­te Zeit­raum rief Kri­tik her­vor, die Sie­fer­le kontert.

Die Ver­wäs­se­rung von Roberts The­se sei das übli­che Schick­sal jeder küh­nen The­se, »wenn sie in die Hän­de von Spe­zia­lis­ten und Empi­ri­kern gerät, die selbst zu kei­ner Gene­ra­li­sie­rung fähig sind«. Ganz in die­sem Sin­ne dürf­te Sie­fer­les Buch in Stre­cken zu ver­ste­hen sein, auch wenn sei­ne The­sen oft­mals nicht beson­ders zuge­spitzt sind: als eine Gene­ra­li­sie­rung von Erkennt­nis­sen der Spezialisten.

Das hat den Vor­teil der Ver­steh­bar- und Ver­gleich­bar­keit, die Sie­fer­le durch oft ein­ge­scho­be­ne Zusam­men­fas­sun­gen und Auf­zäh­lun­gen erreicht. Das Beson­de­re an der euro­päi­schen Ent­wick­lung hat sei­nen Grund in der poli­ti­schen Gestalt Euro­pas und des­sen natür­li­chen Grundlagen.

Im Gegen­satz zu ande­ren Regio­nen gab es kei­ne Zen­tral­macht, son­dern die wesent­li­chen Mäch­te stan­den in einem stän­di­gen Wett­kampf mit­ein­an­der. »Wich­tig an dem inner­eu­ro­päi­schen Rüs­tungs­wett­lauf seit dem spä­ten Mit­tel­al­ter ist, daß kei­ne Sei­te je die Ober­hand gewann, son­dern sich das mili­tä­ri­sche Sys­tem als Gan­zes unter hohem Selek­ti­ons­druck weiterentwickelt.«

Das ist auch der Hin­ter­grund für die sich dar­an anknüp­fen­de öko­no­mi­sche Ent­wick­lung. Aller­dings bleibt das Mili­tär­we­sen der Frü­hen Neu­zeit »ein­deu­tig dem agrar­ge­sell­schaft­li­chen Anci­en Régime« ver­haf­tet, dies­seits der »sozi­al­me­ta­bo­li­schen Trans­for­ma­ti­on«, wie Sie­fer­le den Über­gang ins Indus­trie­zeit­al­ter im Hin­blick auf den Ver­brauch von end­li­chen Res­sour­cen nennt.

Den ent­schei­den­den Aspekt der Wei­ter­ent­wick­lung sieht Sie­fer­le in den logis­ti­schen Pro­ble­men, die immer grö­ße­re, ste­hen­de Hee­re mit sich brin­gen. Detail­liert rech­net er vor, wie pro­ble­ma­tisch die Ver­pfle­gung der Trup­pe auf Dau­er und lan­ge Stre­cken war. Neben dem Bau von Stra­ßen und Kanä­len brach­ten die­se Pro­ble­me eine Schu­lung der Offi­zie­re, Kar­tie­rung der Staa­ten und Glie­de­rung der Armeen mit sich, was wie­der­um eine neue Stu­fe der Koor­di­na­ti­on nötig machte.

Letzt­end­lich resul­tiert der moder­ne Staat aus den gewach­se­nen Anfor­de­run­gen des Mili­tärs, mit ande­ren Wor­ten des Krie­ges. Sie­fer­le beschreibt das als funk­tio­na­len Zusam­men­hang mit sich wech­sel­sei­tig ver­stär­ken­den Ele­men­ten. Aus dem auf­grund der euro­päi­schen Frag­men­tie­rung not­wen­di­gen und stän­di­gen Kriegs­zu­stand, steigt der Res­sour­cen­be­darf des Staa­tes, der ratio­nal erwägt, wie er die­sen dau­er­haft decken kann.

Dar­aus fol­gen Gewal­ten­tei­lung, ratio­na­le Ver­wal­tung, Rechts­staat und ein effek­ti­ves und ver­läß­li­ches Finanz­sys­tem. Aller­dings besteht das Pro­blem, daß die Krie­ge das Erwirt­schaf­te­te auf­zeh­ren, wes­halb der libe­ra­le Pazi­fis­mus eine Frie­dens­di­vi­den­de pro­pa­gier­te, die aus der wach­sen­den Pro­duk­ti­on des Frie­dens und dem dar­aus fol­gen­den Gewinn resul­tie­ren sollte.

Euro­pa sei die­sen Weg gera­de nicht gegan­gen, »son­dern die Wachs­tums­öko­no­mie hat sich inmit­ten von Krie­gen ent­fal­tet«. Aller­dings sei dazu der inne­re staat­li­che Frie­den not­wen­dig gewe­sen. Krieg und Wachs­tum schlös­sen sich nicht aus, im Gegenteil.

Aus die­ser Logik folgt für Sie­fer­le aber auch, daß, sofern die Mög­lich­kei­ten dazu gege­ben sind, der Krieg schnell zu einem tota­len wer­den kann, der sich gegen das rich­tet, wor­auf die mili­tä­ri­sche Leis­tungs­fä­hig­keit beruht: die Wirt­schaft und damit den Zivilisten.

Aus dem lan­gen ideen­ge­schicht­li­chen Exkurs über das »Den­ken über den Krieg«, in dem Sie­fer­le zunächst auf die anti­ke und die christ­li­che Posi­ti­on ein­geht, ist für die oben aus­ge­führ­ten Posi­tio­nen vor allem das Werk von Tho­mas Hob­bes wich­tig, der sich expli­zit über die Vor­aus­set­zun­gen eines inne­ren Frie­dens Gedan­ken gemacht hat.

Was Sie­fer­le bei ihm her­aus­ar­bei­tet, ist das logi­sche Pro­blem, wie bei den von Hob­bes gemach­ten Annah­men über die Ent­ste­hung des Levia­thans, die Ver­tei­di­gung die­ses Frie­dens gegen äuße­re Fein­de aus­se­hen soll. Der Staat muß ver­tei­digt wer­den, weil er die Sicher­heit und das Leben sei­ner Bür­ger garan­tiert, weil nur er den Rück­fall in den bar­ba­ri­schen Kampf aller gegen alle ver­hin­dern kann:

Wer also den Staat ver­tei­digt, ris­kiert sein Leben, um den siche­ren Tod zu vermeiden.

Den­noch beharrt Sie­fer­le dar­auf, daß sich die­ses Pro­blem im Rah­men von Hob­bes Theo­rie nicht wider­spruchs­frei lösen läßt. Sie­fer­le sieht dar­in die Fol­ge eines völ­lig neu­en Den­kens, das dem Ehr­be­griff des Mit­tel­al­ters und des Adels abge­schwo­ren hat, aber noch kein neu­es Ethos her­vor­brin­gen konnte.

Anti­ke und Chris­ten­tum kann­ten Dimen­sio­nen, die höher stan­den als das Leben. »Um als höchs­tes Gut zu gel­ten, muß das Leben im Prin­zip etwas Ange­neh­mes sein.« Hob­bes ist hier eine Aus­nah­me­ge­stalt sei­ner Zeit, die etwas vor­weg­nahm, was uns erst heu­te rich­tig plau­si­bel erscheint.

Hob­bes anti­zi­piert damit den fun­da­men­ta­len Umsturz der Wer­te am Ende des 17. Jahr­hun­derts, des­sen Fol­gen sich erst im 18. Jahr­hun­dert aus­wirk­ten: Das Stre­ben nach Reich­tum und Wohl­stand wird zu etwas Posi­ti­vem umge­deu­tet, das nicht mehr die Moral des Ein­zel­nen und den Zusam­men­halt der Gemein­schaft bedroht, son­dern in jeder Hin­sicht als segens­reich zu betrach­ten ist.

Den Hin­ter­grund bil­de­te der stei­gen­de Außen­han­del, der eini­ge der älte­ren öko­no­mi­schen Annah­men, etwa die Grün­de für Armut und Reich­tum, zu wider­le­gen schien. Die­ses neue Den­ken stand in einem Wider­spruch zu der geschichts­phi­lo­so­phi­schen Über­zeu­gung, daß Wohl­stand die Wehr­tüch­tig­keit schwä­che und ein auf die­sem Prin­zip beru­hen­des Gemein­we­sen gegen Bar­ba­ren wehr­los sei.

Aber auch hier prä­sen­tier­te der Fort­schritts­glau­be die pas­sen­de Lösung: Durch die mili­tä­risch-tech­ni­sche Über­le­gen­heit Euro­pas wür­de nie­mand in der Lage sein, die euro­päi­sche Zivi­li­sa­ti­on von außen zu bedro­hen. Sie­fer­le zeigt nun, daß die­se Bedro­hung von innen kam und sich schließ­lich in den Welt­krie­gen entlud.

Im lan­gen Anlauf zum Welt­krieg behan­delt Sie­fer­le zwar auch die Juli-Kri­se in all ihren Details, viel eher will er aber zei­gen, wel­che lang­fris­ti­gen Ent­wick­lun­gen hin­ter der Kata­stro­phe von 1914 ste­cken. Eine der wich­tigs­ten Ursa­chen ist die Eta­blie­rung der Demo­kra­tie in den Nationalstaaten.

Was auf den ers­ten Blick para­dox klin­gen mag, wird ver­ständ­lich, wenn man in eine Zeit schaut, in der das Für und Wider der Demo­kra­tie offen erör­tert wer­den konn­te, in das 18.  Jahr­hun­dert. Dort nimmt Sie­fer­le die The­se des Moral­phi­lo­so­phen Adam Fer­gu­son auf, wonach der Krieg in der repu­bli­ka­ni­schen Anti­ke ein grau­sa­mer »tota­ler« war, wohin­ge­gen der Krieg der Mon­ar­chien sei­ner Gegen­wart ein zivi­li­siert geheg­ter sei.

Fer­gu­son führt das auf den rit­ter­li­chen Ehren­ko­dex des Adels zurück, bei dem der Duell- und Aus­gleichs­cha­rak­ter im Mit­tel­punkt stand. Ein Rit­ter konn­te vor einem Rit­ter kapi­tu­lie­ren; sobald »Fuß­volk« im Spiel war, wur­de das schwie­rig, weil es zwi­schen Unglei­chen kei­nen Aus­gleich geben konnte.

Wei­ter­hin hat­te der Drei­ßig­jäh­ri­ge Krieg gezeigt, daß unge­heg­te Krie­ge nie­man­dem nüt­zen. Die Unter­schei­dung von Kom­bat­tan­ten und Nicht­kom­bat­tan­ten rührt daher, Krieg war eine Ange­le­gen­heit der Fürs­ten, die mög­lichst mit einem Tref­fen zu erle­di­gen war.

Die Bevöl­ke­rung hat­te sich raus­zu­hal­ten und wur­de dafür mög­lichst vor Schä­den bewahrt.

Im Gegen­satz zu Ent­wick­lung­mi­li­zen ver­hin­der­ten die ste­hen­den Hee­re den Bür­ger­krieg und kürz­ten wegen der hohen Kos­ten den Krieg zwi­schen den Staa­ten ab. Sie waren also ein Mit­tel, den Krieg zu begren­zen und den tota­len Krieg zu vermeiden.

Erschüt­tert wur­de die­se fast schon zivi­le Lösung durch die Erfah­run­gen des Ame­ri­ka­ni­schen Unab­hän­gig­keits­krie­ges und die Kon­fron­ta­ti­on mit den fran­zö­si­schen Revo­lu­ti­ons­hee­ren, die demons­trier­ten, daß die Betei­li­gung des Vol­kes ein unwi­der­steh­li­ches Argu­ment auf sei­ner Sei­te hat­te: den Erfolg.

Die logi­sche Kon­se­quenz dar­aus war die »Mili­ta­ri­sie­rung der Gesell­schaft« und die Bru­ta­li­sie­rung der Kriegs­füh­rung. Ein Zusam­men­hang, der Sie­fer­le an tri­ba­le Ver­hält­nis­se erin­nert, wes­halb er vom »neo­tri­ba­len Natio­nal­staat« spricht. Die bis­lang von allem Krie­ge­ri­schen aus­ge­schlos­se­nen Bür­ger kul­ti­vier­ten einen bür­ger­li­chen Bel­li­zis­mus und for­der­ten ihre Betei­li­gung an der Ver­tei­di­gung des Vater­lan­des, was schließ­lich die Ein­füh­rung der Wehr­pflicht zur Fol­ge hatte.

Die Kon­se­quenz war die Rück­kehr der Lei­den­schaft auf das Schlachtfeld:

Der Volks­krieg wur­de aber zum erbit­terts­ten Krieg, ange­sichts des­sen sich man­che bald wie­der nach den ›geheg­ten‹ Krie­gen der Fürs­ten und Kabi­net­te zurücksehnten.

Die Geburt des Volks­krie­ges aus dem Geist der Revo­lu­ti­on führt schließ­lich dazu, daß sich die mora­li­schen Maß­stä­be völ­lig verändern:

Die Fein­de der Mensch­heit, die Fürs­ten, Aris­to­kra­ten und Tyran­nen muß­ten als Ver­bre­cher und Rebel­len behan­delt wer­den, d. h. sie ver­dien­ten kei­ne Schonung.

Das galt natür­lich auch für ihre Trup­pen. Zwi­schen den Napo­leo­ni­schen Krie­gen und dem Aus­bruch des Ers­ten Welt­kriegs lag der »hun­dert­jäh­ri­ge Frie­den«, in dem sich die fried­li­che Trans­for­ma­ti­on von der spät agra­ri­schen zur indus­tri­el­len Gesell­schaft voll­zog, die sozi­al­me­ta­bo­li­sche Trans­for­ma­ti­on: »Seit Mit­te des 19. Jahr­hun­derts trat ein neu­es Mus­ter des expo­nen­ti­el­len tech­ni­schen Fort­schritts« auf, der kei­ne Gleich­ge­wich­te erzeug­te, son­dern alle paar Jah­re die »Para­me­ter der Kriegs­füh­rung« veränderte.

Die Trans­for­ma­ti­on mach­te auch erst die gro­ßen Mas­sen­hee­re mög­lich, weil sie die Vor­aus­set­zung schuf, »daß über län­ge­re Zeit­räu­me hin­weg sol­che Mas­sen von der Wirt­schaft ernährt und ver­sorgt wer­den konn­ten«. Die Krie­ge des 19. Jahr­hun­derts waren noch gehegt, weil man den Geg­ner nicht ver­nich­ten, son­dern Zie­le errei­chen woll­te, und die­se mög­lichst so, daß man danach wie­der in Frie­den mit­ein­an­der leben konnte.

In der Poli­tik­wis­sen­schaft spukt bis heu­te das pseu­do­kan­ti­sche Argu­ment, daß Demo­kra­tien fried­li­cher sei­en als Despotien.

Eine Ver­gleich­bar­keit sieht Sie­fer­le erst gege­ben, wenn Demo­kra­tien so zahl­reich als Nach­bar­län­der vor­kom­men, daß über­haupt die Gele­gen­heit zum Krieg­füh­ren zwi­schen Demo­kra­tien besteht.

Am frü­hes­ten war das in Süd­ame­ri­ka der Fall, des­sen Staa­ten nach Unab­hän­gig­keit und Demo­kra­ti­sie­rung zahl­rei­che Krie­ge gegen­ein­an­der führ­ten. Daher sieht Sie­fer­le im Ver­hält­nis von Demo­kra­tie und Krieg eher ein Definitionsproblem.

Die eigent­li­che Poin­te lau­tet aber, daß Demo­kra­tien Krie­ge, die sie füh­ren, ihrem eige­nen Selbst­ver­ständ­nis fol­gend nicht gegen ihres­glei­chen, son­dern gegen Des­po­tien füh­ren müssen.

Der Geg­ner wird zur Des­po­tie erklärt, der Ver­bün­de­te ist demo­kra­tisch ver­faßt, egal wie es sich damit in Wirk­lich­keit ver­hält. Ohne die­se Dicho­to­mie ist ein Krieg für eine Demo­kra­tie nicht begründbar:

Der Krieg der pazi­fis­ti­schen Demo­kra­tien ten­diert daher immer dazu, Kreuz­zugs­qua­li­tä­ten zu gewinnen.

Sie­fer­le bringt das in einer logi­schen Schluß­for­mel auf den Punkt. Aus den Bedin­gun­gen, daß alle Krie­ge, die von Demo­kra­tien geführt wer­den, Ver­tei­di­gungs­krie­ge sind und ihre Fein­de not­wen­dig Des­po­tien, folgt, daß alle Krie­ge, die Demo­kra­tien füh­ren, gerecht sind und der Auf­he­bung des Krie­ges dienen.

Fazit: Demo­kra­tien kön­nen nur tota­le Krie­ge füh­ren, bis zur völ­li­gen Ver­nich­tung bzw. Assi­mi­la­ti­on des Gegners.

Die an Carl Schmitt geschul­te Ein­sicht ist für das Selbst­ver­ständ­nis der gegen­wär­ti­gen Eli­ten ver­hee­rend. Aller­dings gibt es nie­man­den, der sie zu die­ser Ein­sicht zwin­gen könn­te, weil er als Mensch­heits­feind mar­kiert und ver­nich­tet würde.

Die merk­wür­di­ge Sprach­lo­sig­keit dem Phä­no­men Krieg gegen­über rührt viel­leicht auch daher, daß der Krieg gegen­wär­tig von der euro­päi­schen Zivi­li­sa­ti­on wie­der rein pro­fes­sio­nell betrie­ben wird und den Bür­ger dar­an mög­lichst gar nicht mehr betei­li­gen möchte.

Was in der Frü­hen Neu­zeit noch funk­tio­nier­te und die Hegung des Krie­ges zur Fol­ge hat­te, wird in der Gegen­wart durch die gras­sie­ren­de Hyper­mo­ral in sein Gegen­teil ver­kehrt, was zu einer wei­te­ren »Funk­ti­ons­ver­schie­bung vom agrar­ge­sell­schaft­li­chen ›ratio­na­len‹ öko­no­mi­schen Krieg zu einem neu­en Typus des ideo­lo­gisch moti­vier­ten Kriegs« füh­ren könnte.


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Erik Lehnert

Erik Lehnert ist promovierter Philosoph.

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