Die Studie Krieg und Zivilisation aus dem Nachlaß von Rolf Peter Sieferle stellt zweifellos nicht nur aufgrund seines Umfanges ein überwältigendes Werk dar. Das Buch schlägt einen weiten historischen Bogen, von den prähistorischen Anfängen des Krieges bis zu den denkbaren Gestalten zukünftiger Kriege, mit dem Schwerpunkt auf der Geschichte des Krieges in Europa und eingebettet in einer fundierten Kenntnis der Wirtschafts- und Gesellschaftsgeschichte.
Arbeiten mit dem Anspruch, eine universale Geschichte des Krieges zu schreiben, haben auch andere Autoren vorgelegt, beispielsweise Martin van Creveld, John Keegan und Jeremy Black. Doch nimmt Sieferles Werk einen besonderen Rang ein. Geschrieben in einem durchaus wissenschaftlichen, aber zugleich allgemeinverständlichen Deutsch, werden in diesem »MegaEssay« die Dinge ohne alle Rücksichten auf politische Korrektheiten und frei von allen Illusionen in einem lakonischen Stil beim Namen genannt.
Auf nahezu jeder Seite finden sich explizite und implizite Widerlegungen zeitgenössischer wissenschaftlichen und moralischen Urteile, die sich in selbstreferentiellen Schleifen verfangen haben, zugunsten einer unvoreingenommenen, »kalten« Betrachtungsweise, und das nicht nur zum Thema Krieg.
Das Buch stellt einen Augenöffner dar, eine »Red Pill«, die die verwirrenden Schleier moderner Wissenschaftssprache und Volkspädagogik einfach zur Seite fegt. Allerdings betont schon der Verlagsprospekt, daß Sieferle mit seinem Buch »nicht zu einem Militärhistoriker im engeren Sinne« wird, sondern »eine Geschichte des Krieges als ein Phänomen der kulturellen Evolution, als ein Strategem in Gruppenkonkurrenzen neben anderen« vorlegt.
Sieferle selbst schreibt in seinem Vorwort, daß er zwar eine »Geschichte des Krieges« schreiben will, aber keine »der operativen Kriegführung«, sondern eine »Strukturgeschichte des Krieges, bei der auch technische und politische Faktoren zur Sprache kommen«.
Daß Sieferle kein Militärspezialist war, merkt man gelegentlich, wenn er etwa die deutschen Kampfpanzer des Zweiten Weltkriegs mit den nur im angelsächsischen Sprachraum üblichen Bezeichnungen wie »Mark III« und ähnlichen versieht.
Auch manches seiner Urteile über militärische Einzelereignisse und Sachverhalte ist gelegentlich etwas schief, weil er sich auf angelesene, aber nicht selbst erarbeitete Erkenntnisse stützt. Tatsächlich kann allerdings niemand mehr eine universale Geschichte des Krieges auf der Basis umfassender eigener Detailforschung schreiben.
Sieferle hat dafür aber die Sekundärliteratur in großer Breite und auch auf abgelegen Gebieten rezipiert und in umfassender Weise verwertet, um so eine geniale Gesamtschau zu erstellen. Sieferle ist kein neuer Clausewitz, der das Wesen und das Gesetz des Krieges bis auf den tiefsten Grund ausleuchten will.
Dennoch bildet dessen immer noch grundlegende Theorie des Krieges den Hintergrund seiner Argumentation, auch wenn er die Anlehnung an den General nie wirklich explizit macht. Vor allem die von Sieferle als »sehr allgemein« bezeichnete Definition von Krieg als der »kooperativen gewaltsamen Austragung von Konflikten zwischen politisch selbständigen Menschengruppen« läßt dies erkennen.
Die Definition geht davon aus, daß sich die Menschen in vielen unterschiedlichen, sich voneinander abgrenzenden Kooperationsverbänden organisieren, die eine mehr oder minder umfassende Daseins- und Überlebensvorsorge betreiben oder betreiben wollen.
Dabei kann es sich um moderne Nationalstaaten handeln, aber auch politische Herrschaftsgebilde und Gemeinschaften aller Art: Häuptlings- und Stammesfürstentümer, Stadtstaaten und antike Imperien, Lehnsreiche sowie politische Zusammenschlüsse und Amalgamierungen aller Art, und letztlich auch um Gruppen, die erst zu einem selbständigen politischen Verband werden wollen.
Solange es aber mehrere unterschiedliche politische Verbände gibt, sind Konflikte zwischen ihnen nicht auszuschließen. Krieg ist dabei keineswegs die einzige Art des Konfliktaustrags, wie Sieferle feststellt:
Dem Krieg liegen Konflikte zugrunde, mit denen auf unterschiedliche Weise umgegangen werden kann.
Wenn dieser Umgang aber die Anwendung von »tötungsbereiter Gewalt« einschließt, »kann von Krieg gesprochen werden«.
Der Krieg kombiniert somit die Kooperation nach innen, unter den Angehörigen der einen Kriegspartei, mit dem gewaltsamen Konflikt nach außen, gegenüber genau definierten Feinden, die bekämpft und getötet werden sollen, um ihnen den eigenen Willen aufzuzwingen.
Auch gemäß Clausewitz’ allgemeinem Begriff des Krieges stellt dieser einen »Akt der Gewalt, um den Gegner zur Erfüllung unseres Willens zu zwingen«, dar. Sieferles »sehr allgemeine Theorie« des Krieges paßt diese simple, aber sehr präzise Definition nur an die moderne Terminologie an.
Ähnliches geschieht mit der Schlußfolgerung des preußischen Generals, daß der Krieg »nicht bloß ein politischer Akt, sondern ein wahres politisches Instrument, eine Fortsetzung des politischen Verkehrs, eine Durchführung desselben mit anderen Mitteln« sei.
Für beide stellt Krieg kein eigenständiges Phänomen, sondern nur eine von mehreren Formen der Konfliktaustragung zwischen selbständigen Gruppen, des »politischen Verkehrs«, dar, bei dem nur, wie es der General formulierte, die »Feder mit dem Degen« getauscht wird.
Der noch vom klassischen Staatsbegriff ausgehende Militär Clausewitz, der unter »Politik« das Aktionsfeld einer eindeutig definierten kleinen Staatsspitze verstand, widmete sich in seinem Werk vornehmlich der Eigenlogik des politischen Instruments Krieg, die diesen vorantreiben und von seinem politischen Zweck durchaus entfernen kann.
Der Sozialwissenschaftler Sieferle setzt hingegen nicht bei der Politik von Entscheidungseliten, sondern bei den gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Grundvoraussetzungen ihres Agierens an, anders ausgedrückt: bei der im historischen Prozeß jeweils entwickelten Form von »Zivilisation«.
Das ist unter der »Strukturgeschichte des Krieges, bei der auch technische und politische Faktoren zur Sprache kommen«, zu verstehen. Daß Sieferle auf Clausewitz kaum eingeht, dürfte – seine wenigen beiläufigen Erwähnungen des Generals lassen dies jedenfalls vermuten – damit zu tun haben, daß er ihn, allerdings nicht ganz korrekt, als Theoretiker des Krieges in der Zeit der klassischen Staatlichkeit versteht.
Faktisch steht sein Verständnis von Krieg aber auf dem Boden von dessen theoretischen Grundannahmen. Sieferle hebt als ein wichtiges Merkmal des Krieges »die Kooperation zwischen Individuen« hervor, »die eben nicht nur zu friedlichen Zwekken, sondern auch zur Gewaltanwendung bei der Jagd auf Tiere, aber auch beim Krieg gegen andere Menschen stattfinden kann.«
Er muß sich deshalb die Frage stellen, »ob Krieg (oder generell ›Aggression‹) in der Natur des Menschen liegt, oder ob es sich hierbei um kulturelle ›Konstrukte‹ handelt, die nur unter bestimmten Bedingungen entstehen«. Die Frage nach den Ursprüngen des Krieges lassen sich auf jene zwei kontroversen Positionen zurückführen, die die Philosophen Thomas Hobbes (1588 – 1679) (Krieg als Naturzustand) und Jean-Jacques Rousseau (1712 – 1778) (der von Natur gute, durch gesellschaftliche Verhältnisse aber deformierte Mensch) vertraten.
Sie prägten in wandelnder Form seit dem 18. Jahrhundert die Diskussion und präsentieren sich heute, wie Sieferle feststellt, als »paradigmatischer Gegensatz zwischen einer eher rousseauistischen Kulturanthropologie und einer hobbessianischen Soziobiologie«.
Sieferle beginnt mit den schon bei Schimpansen zu beobachtenden Formen rudimentärer Kriegführung. Daß der Krieg der Menschen »ein phylogenetisches Erbe der Primaten« sei, hält er indes für unwahrscheinlich. Plausibler sei es, ihn als Ergebnis einer in der menschlichen Evolution herausgebildeten »spezifischen Kooperationsstrategie der Spezies Homo Sapiens« zu sehen.
Der Mensch ist aus evolutionsbiologischer Sicht nicht nur ein zur innerartlichen Aggression, sondern auch ein, verglichen mit anderen Primaten, vergleichsweise soziales, zur Kooperation mit seinesgleichen hochgradig befähigtes Lebewesen.
Evolutionär erfolgreich kann eine auf teilweise selbstloser Kooperation Nicht-Verwandter beruhende Strategie indes nur sein, wenn Außenseiter und Trittbrettfahrer effektiv vom Genuß der kooperativ erlangten Ressourcen ausgeschlossen werden.
Dieses »Ausschließen« von sich nicht an die Regeln haltenden sowie nicht durchfütterbaren Anderen muß, vor allem wenn es sich dabei um größere Gruppen von Individuen handelt, die ihrerseits aggressiv auf Teilhabe oder gar Beute drängen, wiederum kooperativ organisiert werden.
Und sie muß unter Umständen aggressiv, gewaltsam erfolgen. Die evolutionär stark entwickelten kooperativen Fähigkeiten beim Menschen bedeuten also nicht, daß er auf umfassende Kooperation mit allen Mitgliedern seiner Art angelegt ist.
Sie versetzen ihn vielmehr in die Lage, seine Aggressionsfähigkeit durch intensive Zusammenarbeit mit anderen Mitgliedern seiner Gruppe zur Abwehr oder zum Angriff auf andere Gruppen zu nutzen. »Menschliche Kriegsführung« hat sich gerade »als Element der sozialen Kooperation« evolutionär entwickelt und stellt nicht nur eine Erweiterung des Aggressionstriebes dar.
»Aggression und Kampfbereitschaft« sind für Sieferle somit evolutionär herausgebildete »Taktiken des Überlebens«, allerdings solche, zu denen es »auch Alternativtaktiken« geben kann wie Ausweichen, Flucht oder Unterwerfung. In den meisten historischen Fällen lasse sich deshalb ein situationsgebundener Mix von Tauben- und Falkentaktiken feststellen (Nebenher erklärt Sieferle so auch auf aparte Weise den Geschlechterunterschied in der Gewaltbereitschaft).
Wir müssen also davon ausgehen, daß das Auftreten des Phänomens Krieg von den jeweiligen konkreten Situationen abhängt und historisch immer wieder Schwankungen in der Form und Häufigkeit unterworfen ist. Sieferle schließt sich zwar jenen Forschern an, die das Potential zum aggressiven Verhalten im Menschen als tief verankert und leicht zu aktualisieren ansehen, nicht aber der beispielsweise von Martin van Creveld vertretenen These, daß es die Lust junger Männer auf gefahrvolle Bewährung sei, die unsere Spezies immer wieder zum Krieg treibt.
Er verneint explizit die Möglichkeit eines Aggressionsstaus oder des Freudschen Todestriebes, der irgendwann zur kriegerischen Entladung treibe. Ein langer Friede ist demnach, jedenfalls auf der affektiven Seite der menschlichen Natur, nichts Unerträgliches.
Sieferles Erklärungsmodell beansprucht, sowohl den »Fallen des kulturellen Konstruktivismus (›alles erlernt‹)« wie auch des »biologischen Determinismus (›alles angeboren‹)« zu entgehen. Krieg kann nicht als bloß kulturell erlernte und genau so wieder abschaffbare »Erfindung« betrachtet werden, auch wenn er jeweils »kulturell« geprägte Dimensionen hat.
Krieg stellt auf der anderen Seite auch kein unabwendbares Schicksal dar, zu dem seine Biologie den Menschen über kurz oder lang unweigerlich zwingt. Wenn man dies denn für nötig hält, könnte man Sieferles Position am besten als gemäßigten Hobbesianismus klassifizieren: Krieg ist eine menschliche Möglichkeit, mit der immer gerechnet werden und auf den man sich deshalb vorbereiten muß.
Sieferle entwickelt in seinem Buch plausible Hypothesen (wie er sie bescheiden nennt) zur Koevolution von Krieg und Zivilisation. Zum einen geht er davon aus, daß es bei kriegerischen Akten in der Regel um die Aneignung oder Verteidigung von Ressourcen geht, worunter nicht nur materielle Güter, sondern etwa auch Vermehrungschancen (Zugang zu Frauen) und Raumbeherrschung verstanden werden können.
Daneben könne, wie er einräumt, das Streben nach Ruhm und sozialem Rang auf motivationeller Ebene einen gewissen selbständigen Wert erlangen, auch wenn dieses objektiv dem besseren Zugang zu Ressourcen dient. Insbesondere auf der Zivilisationsstufe der Jäger und Sammler spiele das Ruhm-Motiv eine gewisse Rolle, allerdings auch der Kampf um Jagdgründe als handfesteres Kriegsmotiv.
Da indes die Besiedlungsdichte noch gering ist, Ausweichmöglichkeiten bestehen und niemand viele materielle Güter angehäuft hat, die als Beute lohnenswert erscheinen, bleibt es auf dieser Stufe bei meist wenig intensiven, allerdings auf Dauer unter Umständen doch recht verlustreichen kriegerischen Auseinandersetzungen.
Dies ändert sich mit der neolithischen Revolution, also dem Übergang zu Ackerbau und Viehzucht und der dadurch bedingten Vergrößerung sozialer Verbände. Der Erwerb und die Verteidigung von Ressourcen bilden seither eindeutig die Hauptziele des Krieges.
In einfachen »tribalen Agrargesellschaften«, in der kleine, sozial noch weitgehend egalitär organisierte Dörfer die wichtigsten Kooperationsverbände bildeten, war Grund und Boden die wichtigste Ressource. Um sie wurde schonungslos gekämpft, gut 30 Prozent aller Männer kamen durch Krieg ums Leben.
Unterlegene konnten dem Tod nur durch Flucht entgehen. (Die im Buche Josua beschriebene Inbesitznahme des Gelobten Landes, die unter dem von Gott gegebenen und meist exekutierten Motto »Rottet aus« stand, scheint insoweit eine angemessene Beschreibung der damaligen Kriegführung gewesen zu sein).
Der »Krieg zwischen den Dörfern« ist nach Sieferles Überzeugung die »wohl verlustreichste Epoche der Menschheitsgeschichte gewesen, jedenfalls in Relation zur Bevölkerungszahl«. Mit der Ausbildung der größeren »komplexen, staatlich organisierten Agrargesellschaften« in historischer Zeit änderte sich das Beuteschema und damit Funktion und Art der Kriegführung.
Es handelt sich nunmehr um zwar ökonomisch immer noch von der Landwirtschaft stark abhängige, aber »stratifizierte«, also sozial geschichtete, von großen sozialen Rangunterschieden geprägte Verbände. Für die selbst nicht mehr auf dem Feld arbeitenden Oberschichten bildete die Kontrolle über Ackerland weiterhin ein lohnendes Ziel, nun kam aber die Kontrolle über dessen Bebauer hinzu, um diesen ein Surplus abnehmen zu können, von dem die Herren möglichst »herrlich« leben konnten.
Die Kontrolle über Boden und Menschen zu behaupten oder zu erobern war nun das Ziel kriegerischer Aktivitäten. Die von einem sich sozial ausdifferenzierenden professionellen Kriegerstand geübte Kriegführung wurde tendenziell rationaler und weniger zerstörerisch, die potentiellen Arbeitskräfte unter den Feinden galten als wertvolle Beute, sei es als neue Untertanen oder als Sklaven, ihr Leben sollte möglichst geschont werden.
Etwas unterbelichtet bleibt bei Sieferle, daß dies lange Zeit oft mehr Anspruch als Wirklichkeit war. Erst durch die Herausbildung eines zentralisierten und bürokratischen Staatswesens im 18. Jahrhundert konnte die »Hegung« und insoweit »Humanisierung« des Krieges (klare Unterscheidung von Kombattanten und Nichtkombattanten sowie von Krieg und Frieden, Herausbildung eines ausdifferenzierten Kriegsvölkerrechts) »breitenwirksam« werden.
Einerseits erlaubte erst jetzt das Vorhandensein eines modernen Staatswesens eine feste Kontrolle und Disziplinierung der Truppe und die effektive Unterbindung von Ausschreitungen gegen die Zivilbevölkerung. Andererseits hatte der monarchische Charakter dieser Staaten zur Folge, daß der Krieg weiterhin als Auseinandersetzung zwischen Königen aufgefaßt werden konnte, die dafür eingeschworene treue Diener und gegen Sold angeheuerte Hilfskräfte verwendeten, aber die Masse der Untertanen nicht (oder nur als Steuerzahler) in Anspruch nahmen.
Mit der Herausbildung der modernen Industrie ab dem 19. Jahrhundert wird Kriegführen zunehmend »ökonomisch dysfunktional«, zumindest zwischen entwickelten Industriestaaten.
Die komplexen wirtschaftlichen Strukturen, auf denen ihr Funktionieren beruht, können nach der Überzeugung Sieferles nicht einfach in Besitz genommen, sondern nur zerstört werden, was dem Sieger in Relation zum eigenen Aufwand keinen nennenswerten Nutzen verschafft (Man mag dagegen einwenden, daß die Ausschaltung eines Konkurrenten durch seine Zerstörung als Industrieland immerhin ein wirksames Motiv sein kann. Allerdings bedeutet dies in der Regel auch seine Ausschaltung als kaufkräftiger Kunde).
Der Verlust ihres ökonomischen Nutzens führte dazu, daß im 19. und 20. Jahrhundert Kriege zwischen Industriestaaten tatsächlich weniger häufig waren als in den Jahrhunderten davor zwischen Agrarstaaten. Die Kriege zwischen industriell entwickelten Staaten, die dennoch geführt wurden, insbesondere die beiden Weltkriege in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, waren dafür um so zerstörerischer und verlustreicher.
Als eine wichtige Ursache benennt Sieferles die »Retribalisierung«. Die neuen modernen zentralisierten Staaten wurden seit dem Ende des 18. Jahrhunderts schrittweise demokratisiert. In der Konsequenz, bildete sich der Staat, wie Sieferle feststellt, »als pseudotribaler Staat aus, d. h. er okkupiert eine Reihe von Merkmalen, die sich sonst nur in Tribalgesellschaften finden.«
Als Nationalstaat verstand er sich wie die frühen tribalen Gesellschaften als unverbrüchlicher Loyalitätsverband. Durch die allgemeine Wehrpflicht wurden wieder alle gesunden Männer zu seinen potentiellen Kriegern. Indem das »Volk« in die Stellung des Souveräns einrückte, wurde es auch zum Träger jenes »Willens«, dessen Brechung im Kriegsfall das zentrale Ziel der kriegführenden Parteien darstellte.
Der »Krieg zwischen den Staaten« konnte wieder zum »Volkskrieg« werden, der »rasch totalen Charakter annimmt und in seiner Vernichtungswut wieder dem tribalen Krieg ähnelt«. Sieferles Wahl der Begriffe »Retribalisierung« und »Pseudotribalisierung« für eine wichtige Tendenz in der Entwicklung von Krieg und staatlich verfaßter Gesellschaft im 19. und 20. Jahrhundert ist nicht ganz glücklich.
Die »pseudotribalen« Nationalstaaten waren weiterhin zentralisierte und bürokratische politische Einheiten. Diese Staaten organisierten ihre Kriege weiterhin als rationale und insoweit auch »gehegte« Veranstaltung. Doch konnten sie und ihre extrem vergrößerten Gewaltinstrumente nun von politischen Eliten zu »pseudotribalen« Zwecken bis hin zum Völkermord instrumentalisiert werden.
Die auf ein hohes Niveau steigenden Verlustzahlen in den Weltkriegen verdankten sich allerdings weniger einer wieder besonders grausam gewordenen, weil »retribalisierten« Form der Kriegführung, sondern vor allem der umfassenden Indienstnahme der von einem gigantischen industriellen Apparat bereitgestellten Vernichtungsmittel, der Kriege zu einer jeweils langdauernden Serie von Abnutzungskämpfen werden ließ.
Die Soldaten selbst verwandelten sich in der Regel nicht in blutgierige, skalpjagende Stammeskrieger. Das massenhafte Töten von Zivilisten erfolgte eher weniger im Zuge militärischer Operationen und dann meist in einer abstrakten Form beispielsweise durch Flächenbombardements.
Die Morde wurden zum großen Teil von nicht in die militärischen Kämpfe eingebundenen gesonderten Formationen, und oft in anonymisierter, »industrialisierter« Form durchgeführt. Sieferles Warnung, daß der »pseudotribale« Nationalismus, der im Rahmen der Ausbildung der Nationalstaaten unweigerlich entstand, völkermörderische Energien entfesseln kann, ist daher zwar nicht unberechtigt, aber es war nicht die Kriegsgewalt, sondern die in ihrem Schatten operierende Gewalt der Schergen, die dieses Potential realisierte.
Die Möglichkeiten einer nuklearen Kriegführung mit »garantierter wechselseitiger Zerstörung« führten ab 1945 Kriege zwischen entsprechend gerüsteten Industriemächten endgültig ad absurdum. Solche Kriege konnten angesichts ihrer immensen Kosten kein rationales Mittel zur Eroberung fremder Ressourcen mehr sein.
In den Industriestaaten des Westens verlor der bellizistisch konnotierte »Pseudotribalismus« massiv an Plausibilität. Stattdessen gewann eine »postheroische Mentalität« an Boden, die nach dem Ende des Kalten Krieges endgültig dominiert.
Das Militär wurde nun wieder zu einem kleinen professionellen Segment der Bevölkerung, auch, wie man ergänzen muß, weil das komplexer werdende technische Instrumentarium der Kriegführung nur noch von gut ausgebildeten Fachleuten gehandhabt werden kann.
Die Streitkräfte der Industriestaaten dienen nun faktisch nicht mehr dem Kampf gegen große, auf gleicher Augenhöhe stehende Gegner, sondern nur noch gegen minderwertige »Schurkenstaaten«, Guerillas und »Terroristen«. Bewaffnete Auseinandersetzungen zwischen militärischen Formationen finden nur noch in der Form von »Neuen Kriegen« (Münkler) an der Peripherie statt.
Der technologisch-militärischen Dominanz der westlichen Armeen stellen ihre Gegner asymmetrische Kampfformen entgegen, vom Guerilla-Krieg bis zu Terroranschlägen, bei denen die Trennung von Zivil und Militär sowie von Krieg und Frieden zunehmend unterlaufen wird, und denen mit den herkömmlichen militärischen Mitteln nur schwer beizukommen ist.
Was Sieferle indes noch mehr umtreibt, ist die Entstehung einer völlig neuen Methode der Kriegführung, mit der eine massive Einwirkung auf den »Willen« eines Feindes möglich wird, ohne daß herkömmliche Waffen und Vernichtungsmittel zum Einsatz kommen müssen: der Cyberkrieg.
Die umfassende Vernetzung per Internet im 21. Jahrhundert läßt es zu, daß von jedem Punkt auf der Erde aus in die Steuerung bestehender technischer Systeme an jedem andern Punkt eingegriffen werden kann. »Damit stehen aber letztlich die gesamte Infrastruktur, die gesamte Industrie sowie der größte Teil der zivilen Haushalte dem zerstörerischen Zugriff von außen offen«, sofern es den »Störern« gelingt, die entsprechenden »Schutzwälle« zu überwinden.
Diese »Störer« selbst sind hingegen meist kaum identifizierbar und noch schwerer angreifbar. Mit dem in gewissem Umfang schon längst im Gang befindlichen Cyberkrieg sieht Sieferle eine »neue Phase des totalen Kriegs [aufziehen], weniger, was die zu mobilisierende Bevölkerung betrifft, sondern eher, was die Objekte des Angriffs angeht.«
Eine Epoche der Zivilisation entsteht, in der Krieg und Frieden praktisch nicht mehr unterscheidbar sind. Sieferle hegt starke Zweifel, ob die postheroisch gesinnten Mitglieder der westlichen Gesellschaft den neuen Formen der Kriegführung gewachsen sind.
In asymmetrischen Kriegen und gegenüber eingewandertem Terrorismus auf jede Hegung der eigenen Kriegführung und alle rechtsstaatlichen Maßstäbe zu verzichten, um beispielsweise zur Abschreckung massiv Vergeltung an Zivilisten zu üben, sei undenkbar geworden.
Da zudem die heutigen Gesellschaften in naivem Vertrauen auf die Unfehlbarkeit der Computer-Systeme »physisch auf einem Dementi des Ausnahmezustandes« (im Sinne einer Vorhaltung von Reserven und »Ersatzsystemen« beim Ausfallen der zentralen Großsysteme wie Elektrizität oder Wasserversorgung) beruhen, können durchschlagende Cyberangriffe auf die zivile Infrastruktur »im Ernstfall rasch zum Zusammenbruch« führen.
Die »kalte« Logik Sieferles mag erschrecken, entzieht sich jedoch jeder Widerlegbarkeit.
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