Wenn der geschichtspolitische Blick in diesem Jahr nach Westen, nach Versailles, gerichtet ist, so setzt sich damit etwas fort, was die Erinnerung an den Ersten Weltkrieg schon seit langem dominiert. Das Kriegsgeschehen im Osten steht völlig im Schatten der Ereignisse am westlichen Kriegsschauplatz.
Die Ursachen dafür liegen auf den ersten Blick auf der Hand: Die verlustreichen Materialschlachten, die zum Symbol des Ersten Weltkriegs wurden, fanden an der Westfront statt, der Waffenstillstand wurde im Westen unterzeichnet, und der Westen dominierte das Versailler Diktat.
Demgegenüber trat die Tatsache, daß Deutschland zum Zeitpunkt des Waffenstillstands riesige Gebiete im Osten beherrschte und dort anschließend die größten Gebietsverluste erlitt, völlig in den Hintergrund. Dieses schiefe Bild ist vor allem eine Folge des Zweiten Weltkrieges und der Vergangenheitsbewältigung.
Die Westbindung der Bundesrepublik führte zu einer rituellen Überhöhung des deutsch-französischen Verhältnisses – und die Geschichts- und Erinnerungspolitik sorgte dafür, daß dieser Abschnitt der Geschichte nur noch aus dem Blickwinkel des spätgeborenen Moralisten betrachtet wurde.
Das Verdienst, den östlichen Kriegsschauplatz in Deutschland wieder in Erinnerung gerufen zu haben, gebührt Jörg Friedrichs 14/18. Der Weg nach Versailles (2014) (hier bestellen). Was Friedrich damals im Rahmen einer Großerzählung des Weltkrieges zum Thema machte, steht ausdrücklich im Mittelpunkt einer umfangreichen Neuerscheinung, die sich unter dem Titel Der vergessene Weltkrieg dem Geschehen in Osteuropa zuwendet und dabei weit über die engeren zeitlichen Grenzen des Krieges hinausgeht.
Der behandelte Zeitraum reicht von 1912, den Balkankriegen, bis 1923, dem Vertrag von Lausanne, in dem die letzten Nachkriegsregelungen für den Balkan getroffen wurden. Die Autoren sind zwei polnische Historiker, von denen der ältere, Wlodzimierz Borodziej (* 1956), an der Universität Warschau lehrt und sich vor einigen Jahren gegen Vorwürfe zu wehren hatte, daß seine Karriere vor 1990 vom polnischen Geheimdienst befördert worden sei.
Daß diese Angriffe von rechts kamen, erklärt vielleicht auch, daß Borodziej eine für polnische Verhältnisse liberale Position einnimmt und sich mit polnischem Chauvinismus wohltuend zurückhält. Der zweite Autor, der 1976 geborene Maciej Górny, lehrt als außerordentlicher Professor am Historischen Institut der Polnischen Akademie der Wissenschaften Warschau.
Den Hintergrund für das Buch bildete die in den osteuropäischen Staaten vorhandene Ignoranz gegenüber dem Ersten Weltkrieg, der im kollektiven Gedächtnis der Nationen kaum eine Rolle spielt und eher als eine Vorgeschichte zur eigenen Nationalstaatswerdung begriffen wird.
Deshalb haben die Autoren den Zeitraum in zwei Abschnitte eingeteilt. Im ersten Teil, der von 1912 bis 1916 reicht, bestimmen die Imperien das Geschehen. Das sind für Europas Osten das Deutsche Reich, das Russische Reich und die Doppelmonarchie.
Das Osmanische Reich kommt nur am Rande vor, vor allem, wenn es um die Vorgeschichte des Weltkriegs auf dem Balkan geht. Von den drei Reichen konnte nur das deutsche eine überwiegend homogene Bevölkerung aufweisen, während die anderen beiden Vielvölkerstaaten waren, die von Russen und Deutsch-Österreichern dominiert wurden.
Aus der Erbmasse dieser beiden Staaten entwickelten sich zwischen 1917 und 1923 zahlreiche Nationalstaaten, die es vorher entweder nie oder nur in ferner Vergangenheit einmal gegeben hatte.
Einige von ihnen überlebten kaum das Kriegsende (Ukraine), andere verloren ihre Unabhängigkeit im Zuge des Zweiten Weltkriegs wieder (die baltischen Staaten) und wiederum andere konnten ihre staatliche Selbständigkeit wenigstens in verschiedenen Bündnissystemen wahren (Ungarn).
Für alle gilt, daß ihre Völker in den Armeen der drei Reiche Dienst taten, was für das Entstehen einer eigenen Identität nicht unproblematisch war und deshalb ausgeklammert wurde. Die Verheerungen des Zweiten Weltkriegs und die Ideologisierung der Geschichtsschreibung nach 1945 taten ein Übriges, um den Ersten Weltkrieg in Vergessenheit geraten zu lassen.
Da die Autoren mit ihrem Buch keinen rein wissenschaftlichen Zweck verfolgen, sondern vor allem für eine geschichtspolitische Verankerung der Erinnerung an den Weltkrieg sorgen wollen, steht die Erlebnisperspektive im Vordergrund.
Diese durchbrechen die Autoren im Grunde nur in den jeweiligen Einleitungen, wo sie völlig ungeprüft die übliche Litanei über den kriegslüsternen deutschen Kaiser, dem es in »28 Jahren seiner Herrschaft gelungen« war, »alles zu ruinieren, was er nur anfaßte«, wiederholen.
Glücklicherweise bilden diese Ausflüge in die Großdeutung eine Ausnahme (neben die noch die übersetzerische Wunderlichkeit tritt, daß das kaiserliche Deutsche Heer oft als Wehrmacht bezeichnet wird). Die meisten der zahlreichen Zitate sind Zeugnisse von Zeitgenossen, die entweder Erlebtes schildern oder rückblickend eine Einschätzung abgeben.
Der Vorteil dieser Herangehensweise besteht in der prallen Wirklichkeit, die dem Leser die damalige Situation unmittelbar vor Augen stellt. Der Nachteil besteht darin, daß die Bewertung dieser Quellen oftmals sehr vage bleibt, auch wenn sich die Autoren durchaus an einer Quellenkritik versuchen.
Hier ist vor allem der seltene Bezug auf Archivmaterial problematisch, da sich auf diesem Wege vermutlich manche Unsicherheit aufklären ließe. Um des Materials Herr zu werden und die Unzahl von verschiedenen Stimmen zwischen zwei Buchdeckel zu bekommen, machen die Autoren innerhalb der Chronologie thematische Längsschnitte (unterbrochen von interessanten Exkursen).
Dabei bündelt der jeweilige Band Themen, die dann an möglichst vielen Schauplätzen untersucht werden. So werden z. B. unter dem Stichwort »Die Besatzung« die erste Situation nach der Besatzung, die neu errichteten Ordnungen und die ideologischen Konzepte dahinter an verschiedenen Beispielen erläutert.
Der zweite Band, der mit der Februarrevolution in Rußland beginnt, erzählt von dort ausgehend den völligen Umsturz der bis dahin gewohnten Strukturen. Hier kommen die Dinge in Fahrt, die schließlich zu den zahlreichen neuen Nationalstaatswerdungen führen.
Den Beginn macht die sich radikalisierende Ethnisierung der Armeen der beiden multinationalen Großreiche. Die Tatsache, daß Polen und Ukrainer auf beiden Seiten kämpften, wird durch die Selbstbewußtwerdung der eigenen Nationalität zu einem Problem, das den klassischen Krieg unmöglich macht.
In der Folge entwickelt sich ein unübersichtliches Nebeneinander von Kriegsparteien, die alle möglichst ihren eigenen Staat haben wollen, die wildesten territorialen Forderungen stellen und die Zivilbevölkerung erbarmungslos dezimieren.
Daß es schließlich zum Entstehen der Nationalstaaten kommt, hat aber letztlich weniger mit dem Verhalten der einzelnen Völker und ihrer Repräsentanten zu tun, sondern vor allem damit, daß man die Kriegsverlierer Deutschland und Österreich bestrafen wollte.
Man profitierte von einem Zufall, der schnell als Wunder oder Resultat des eigenen Kampfes gedeutet wurde. Eine Problematik, die im Buch immer wieder vorkommt, sind die Konflikte zwischen den Nationalitäten und die Behandlung von Minderheiten im eigenen Machtbereich.
Durch Grenzziehungen zwischen den neuen Staaten war in vielen Gebieten aufgrund der Vermischung von verschiedenen Völkerschaften nicht viel zu erreichen. Vor dem später praktizierten Umsiedeln ganzer Völker schreckte man damals noch zurück, mit der Konsequenz, daß diese Konflikte weiter schwelten, um sich schließlich ein zweites Mal zu entladen.
Auch wenn es die Autoren nicht ausdrücklich erwähnen, so ist mit ihrer Dokumentation doch impliziert, daß ein homogener Staat die Sicherheit seiner Bürger deutlich leichter garantieren kann als ein multiethnischer, der unter demokratischen Bedingungen nirgends lange funktioniert hat.
Auch diese Einsicht dürfte erklären, warum der Blick hierzulande lieber nach Westen geht.
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Der vergessene Weltkrieg kann man hier bestellen.