Ich war Anfang zwanzig und mitten im Studium, als der Hype um Rammstein begann. Meine jüngere Schwester war damals im Teenie-Alter. Ich hatte große Freude, an ihr rumzuerziehen: »Sitz gerade! Mach mal was Anständiges in deiner Freizeit! Das Leben ist nicht nur Party!«
Sie hörte damals Musik der »Neuen deutschen Härte« und hing mit Leuten ab, die sich als Straight edge bezeichneten – also muskulöse Typen, die mindestens vegetarisch lebten und keinen Alkohol konsumierten. Mir war gleich klar, daß das unauthentisch war. Die Muskeln rührten ja nicht von schwerer Arbeit her, sondern kamen aus der Dose und dem »Gym«, und das Asketentum war ein Fake. Diese Typen waren in Wahrheit domestizierte Heulsusen.
Mit fünfzehn besuchte meine Schwester ihr erstes Rammstein-Konzert, da traten sie als Vorband der Ramones auf. Sie war enthusiasmiert und spielte mir Lieder vor. Ich hingegen wußte, daß »RAMMSTEIN« dieser Schriftzug war, den Hauptschüler auf ihrer Heckscheibe spazierenfuhren. Ich senkte den Daumen und schüttelte mitleidig den Kopf. Etwas später, um 1997, hatte ich einen erbärmlich schwachen Nachhilfeschüler.
Auf dessen Rechner fand sich folgender Bildschirmschoner; ein lodernder Schriftzug »WOLLT IHR DAS BETT IN FLAMMEN SEHEN?« Ein Rammstein-Titel. Der Knabe war dreizehn – alles klar. Musik für präpotente Gernegroße! Martialisches Gegröle, möchte-gern-gedankenschwer und schicksalsbeladen. Mitgenommen hatte ich, daß diese Truppe mit Fascho-Charme liebäugelte, um sich zugleich davon zu distanzieren. Wie billig!
Unsereins kannte und schätzte recht ähnliche Musik, die sich »Industrial« oder EBM (Electronic Body Music) nannte, die aber ohne Schwulst, ohne Pyrotechnik und weitaus arkaner auftrat. Eine der populäreren Nummern war Laibach, die slowenische Rätseltruppe, die ungleich subtiler mit rammsteinähnlichen Versatzstücken spielte. Unsereins besuchte Laibach-Konzerte: War es nicht herrlich und tiefgründig, wie diese Männer in dunklen Mänteln, unangreifbar zwischen Pathos und Ironie, mit der deutschen, mit der Weltgeschichte hantierten?
Laibach, so schien mir, war für Studenten, Rammstein hingegen eher für Schulabbrecher mit Provokationsbedarf. Schon die Musik: marschähnlicher Technosound, Gitarrenriffs, schlagzeuglastig, Wahnsinnsbühnenshow, überall Feuer, Lichter und Explosionen. Rammstein hatten 2016 sowohl in Barcelona als auch in Tallinn ganze Stadtteile von der Stromversorgung abgeschnitten, weil die Show dermaßen … klimaunfreundlich war.
Die Texte? Einmal in die große Kiste aus dem andeutungsvollen Schattenreich gegriffen, daneben dann einige kontradiktorische Einsprengsel und eine markige Teutonenstimme mit rollendem r. Hilfe! Till Lindemann, die Hauptfigur, wir sehen ihn hier im Bild, Jahrgang 1963, erschien mir als ausgebuffte Businessfigur.
Wenn ich gelegentlich in Ärztewartezimmern Illustrierte lesen mußte, erfuhr ich von seinem Liebesleben und davon, daß er Gedichte schreibt. Ich las einige davon. Sie waren effekthascherisch, aber ganz in Ordnung. Schwarze Romantik. Lindemann, gebürtiger Leipziger (die Band besteht ausschließlich aus ostdeutschen Männern), olympische Schwimm-Hoffnung zu DDR-Zeiten, gelernter Bautischler, daneben Korbmacher, Zimmermann, Pyrotechniker und über Jahre alleinerziehender Vater, ruft in seinen Versen, seinen Liedtexten und in seiner Bühnenshow Bilder einer kollektiven Zerrissenheit auf.
Klar, daß das heute, im Globalzeitalter, ankommt, gerade bei den sub-elitären Schichten. Zuletzt ging es heiß her um Rammstein: Das im Frühjahr 2019 veröffentlichte Video »Deutschland« wurde bis ins Feuilleton diskutiert. An »Schnellroda« stellten Journalisten brennende Fragen. »Ist das Ihre Ästhetik? Halten Sie Rammstein für eine Gruppe Ihres Milieus? Wie gefällt Ihnen das Video? Warum singt Lindemann: Deutschland – meine Liebe kann ich dir nicht geben?« Wie lächerlich! Diese poppigen Niederungen – und wir?!
Nun, im Juli 2019, schwärmte meine Schwester in höchsten Tönen vom Rammsteinkonzert in Frankfurt. Sie war froh, ein Ticket ergattert zu haben. Und auch für das Tourneejahr 2020 waren sämtliche Konzertkarten (rund 500 000) binnen weniger Stunden ausverkauft. Die Schwester: Man könne sich das nicht vorstellen! Ein reiner Rausch! »Wetten, Ellen: Du guckst Dir mal ein paar Videos an. Du wirst schon sehen, was ich meine.«
Was soll ich sagen – sie hatte recht. Ich pflege YouTube-Abstinenz. Nur wegen der Wette habe ich mir zwei Rammstein-Videos angeschaut. Dann noch zwei. Und noch zwei. Weil’s so schön war, noch … Meine Schwester hat gewonnen. Die »Germania« in jenem berüchtigten Deutschland-Video ist eine Frau of colour. Die Rammsteinleute weiden ihren Körper aus – zugleich tritt diese schwarze Imperatorin als Domina auf.
Letztlich als eine schwarze, weibliche, behinderte (Rollstuhl!) Dominatrix. Liebe Güte, wer kann so was in Szene setzen, ohne sich peinlich zu machen? Rammstein. Die Rammsteins selbst tragen in diesem Video gelegentlich Häftlingskleidung, Strick um den Hals: Wir sind die Verfolgten!
Till Lindemann trägt, wie so oft, ein charakteristisches Oberlippenbärtchen und Seitenscheitel. Nicht zu vergessen, der »Nasenring« (Armin Mohler)! Oder das Video zu Ohne Dich. Oder, von der Prüfstelle auf den Index genommen, das riefenstahllastige Video zu Stripped. Sind die nun rechts? Seit über zwanzig Jahren wird im Feuilleton darüber gestritten.
Bandmitglieder verneinen, sie seien vielmehr klar links. Nur: Sie traten (anders als die ebenfalls übel beleumundeten Kollegen von Freiwild) auf keinem einzigen Gegen-Rechts-Festivals auf. Kommentare zu ihren auf YouTube präsentierten Videos sind deaktiviert; eine schöne Arroganz.
Es gibt ein Lied, das als klares Bekenntnis zur guten Gesinnung gewertet wird: Links, 2,3,4:
»Sie wollen mein Herz am rechten Fleck
Doch sehe ich dann nach unten weg
Da schlägt es links
Links«
Doch, ohweh, am Liedende schlägt die Dialektik weithin unbeachtet zurück:
»Sie wollen mein Herz am rechten Fleck
Doch sehe ich dann nach unten weg
Da schlägt es in der linken Brust
Der Neider …«
In der FAZ vom 15. Juli 2019 hat der Schriftsteller Andreas Maier genial und gültig die Rammstein-Performance beschrieben: »Bei Helene Fischer gibt es Sex und Liebe, Sauberkeit und Sport, hier dagegen Deutschlands tiefstes Wesen und Deutschlands tiefste Bilder. Nur eben als Pop und Show.
Uneigentlich. Als uneigentlich haben viele auch immer die Politik Merkels gesehen. Dennoch hat sich das Land kollektiv für eine ganze Epoche unter ihren schützenden Muttermantel begeben. Die Jungs aus dem Osten bieten uns etwas sehr Ähnliches an. Jetzt lassen sie ihr Fan-Volk sogar Deutschland schreien (…).
Nicht zuletzt darin sind Merkel und Rammstein einander verwandt: Beide arbeiten sich pädagogisch an diesem Land ab. Beide erklären nicht, warum sie tun, was sie tun. Gut so, nur so kann es funktionieren. Das haben beide begriffen.«
Ja. So ist es. Dann bin ich jetzt halt Rammstein-Fan. Das T‑Shirt mit dem Aufdruck »Manche führen« (Vorderseite), »Manche folgen« (Rückseite) ist im Rammsteinshop derzeit nur in Übergrößen erhältlich. Wieder so ein Quatsch.