Der Suizid ist der unzugänglichste Akt des Menschen. Medizinisch, psychologisch, soziologisch, theologisch, philosophisch und nicht zuletzt literarisch ist er hinreichend beschrieben oder besser umschrieben worden und wurde trotzdem nie zur Gänze erfaßt. Genauso ist er durch die Zeiten hindurch von den Lebenden bewertet worden, als radikalster Ausdruck der Verzweiflung, der Feigheit, der Zurückweisung oder der Hingabe.
Sie, die Lebenden, standen und stehen oft fassungslos vor dieser zutiefst individuellen, ja intimen Entscheidung, die den Alleinvertretungsanspruch des Lebens so kompromißlos in Frage zu stellen scheint, so sehr, daß mancher sich diesen Akt nur als eine Art »Selbstüberrumpelung« vorstellen konnte (etwa Ludwig Wittgenstein).
Aufgekündigt ist da der Gehorsam gegenüber den Gesetzen der Vernunft, der Sitten, der Gefühle, des Lebens schlechthin mitsamt seiner Triebstruktur: Das Leben ist nicht länger der erste und letzte Wert und die Todesangst als sonst allmächtige Autorität kein Verhandlungspartner mehr.
Diese einsame Intimität, in welcher der Suizidant seinen Entschluß erringt und erleidet, verbietet sowohl Spekulation als auch Werturteil oder wie der hl. Thomas von Aquin gemahnte: »quia in occultis non est homo iudex« (»für das Verborgene ist der Mensch nicht zum Richter bestellt«).
Gleichwohl sind dem persönlichen Arcanum Vorhöfe vorgelagert, die aus den Erfahrungen der Generation und des Zeitgeistes errichtet worden sind. Mishima Yukio, Jan Palach, Dominique Venner, Rolf Peter Sieferle, Paul Celan, Pierre Drieu la Rochelle, Walter Benjamin, Heinrich von Kleist, Seneca, Cato, König Saul, um nur einige zu nennen, spiegeln in ihren so unterschiedlichen persönlichen Lebensabbrüchen immer auch das Gebrochene ihrer jeweiligen Generation wider.
Diese Vorhöfe lassen sich respektvoll betreten. Keine Apologie soll damit bezweckt werden, sondern viel eher eine Art von »Pflichtverteidigung« einer unerhörten Möglichkeit (oder Freiheit), die immer wieder gewählt worden ist und von der zu befürchten steht, daß sie in ferner Zukunft wieder gewählt werden wird. Ausgeklammert aus der Betrachtung bleibt das Phänomen der islamischen Selbstmordattentäter und ihre sehr spezifische wie perfide »felix culpa«.
Der individuelle »Sprung nach einem Etwas, das kein Etwas ist«, wie Jean Améry den Suizid genannt hat, ist nie völlig zu lösen vom kulturellen Umfeld, in dem er getan wird. Wir kennen die Kultur der griechischrömischen Antike mit ihren Philosophen, Feldherren und Kaisern, die sich mehr oder weniger stoisch entleibten.
Als regelrechter Prediger des Suizids darf der griechische Philosoph Hegesias gelten, den man auch Peisithanatos, den »zum Tod Überredenden« genannt hat. Im dritten vorchristlichen Jahrhundert brachte er es zum umstrittenen Haupt der Schule des Kyrenaismus, benannt nach der Stadt Cyrene in Nordafrika. Der Tod war dieser Lehre gemäß als Ende allen diesseitigen Leids geradezu anzustreben. Nur im Tod sei kein Mangel, nur er könne nicht enttäuschen. Später findet man solcherart Stoizismus in Ciceros Tusculanae disputationes wieder.
Weitaus beeindruckender war der Platz des Suizids in der Kultur des feudalen Japans, von wo der umgangssprachliche Begriff Hara-Kiri oder Hara-Kere (»den Bauch aufschlitzen«) es bis in den westlichen Wortschatz geschafft hat. In Japan selbst bediente man sich des eleganteren Ausdrucks Seppuku für die rituell vollzogene Selbsttötung. 1868 ist in der Person des Briten Lord Redesdale zum ersten Mal ein westlicher Augenzeuge zugegen.
Er beschreibt den feierlich-nüchternen »Rubrizismus« des Seppuku, das als ehrenvolle Todesstrafe verhängt wurde und das alle Beteiligten, voran der Verurteilte, mit einem Höchstmaß an Sammlung und Hygiene in einem Tempel durchführten. Der entblößte Bauch wird ohne Zögern mit dem Kurzschwert von links nach rechts aufgetrennt. Der anwesende Sekundant enthauptet auf ein Zeichen hin den Delinquenten sogleich, wobei er darauf achtet, den Kopf nicht ganz vom Rumpf zu trennen (Enthauptung galt als schändliche Strafe), was eine meisterhafte Beherrschung der Schwertkunst voraussetzte.
Seppuku ist mit dem rigorosen Ehrenkodex des Kriegeradels der Samurai zutiefst verbunden und findet seine Verortung in der Haltung des Bushido, einer fortwährend meditierten Todesbereitschaft. Hinzu tritt das buddhistische Moment, das in der Variante des Zen-Buddhismus Eingang in die Kaste der Samurai gefunden hatte. Demnach ist der Bauch das Zentrum des Körpers, in welchem sich auch die Seele befindet.
Im Seppuku werden somit Körper und Seele gleichermaßen bestraft wie befreit. Man sagte sich, daß durch ihn augenblickliche »Buddhaschaft« zu erlangen sei. Die Art, sich dem Tod gegenüber zu verhalten war für den Samurai eine wesentliche Frage seiner Identität. Er trachtete stets danach, selbstbestimmt zu sterben. Die generelle Bereitschaft, den Tod anzunehmen, erstreckte sich auch auf eine radikal verstandene Loyalität, in der die Gefolgsleute eines Shogun diesem nach seinem Ableben durch Selbstmord nachfolgten.
Ähnliches berichtet Albert Camus in seinem großen Essay Der Mensch in der Revolte von russischen Sozialrevolutionären in einem sibirischen Lager, die sich aus Solidarität mit einem zu Tode gefolterten Kameraden reihenweise selbst töteten. Mit der Öffnung Japans zum westlichen Ausland und damit zur Moderne wurde das Seppuku zuerst aus der Strafgesetzgebung verbannt und mit dem Verschwinden der Samurai auch aus dem Bewußtsein vieler Japaner.
In ironischen Redewendungen wie »Seppuku-mono«, was eine Situation meint, die gleichsam nach Selbstmord schreit, ist er noch zugegen. Privat wurde er gleichwohl weiterhin verübt. So vollzog im Zweiten Weltkrieg ein junger japanischer Marineoffizier nach Versagen im Dienst Seppuku und wurde daraufhin mit allen militärischen Ehren bestattet.
Desgleichen verübten eine Reihe hoher Offiziere der kaiserlich-japanischen Armee nach der Kapitulation ihres Landes im August 1945 den rituellen Selbstmord, mit Flüchen gegen die US-Amerikaner auf den Lippen. Unvergessen ist auch der letzte bekannte Seppuku des Schriftstellers Mishima Yukio im Jahre 1970.
In seinem Klassiker Der Selbstmord von 1897 unterstellte einer der Patriarchen der Soziologie, Émile Durkheim, gerade der deutschen Kultur eine inhärente Neigung zum Selbstmord, vor allem in protestantischen Gebieten und hier besonders in den Städten. Tatsächlich hat das moderne Deutsche Reich Phasen vermehrten Suizids gekannt, aber dies teilte es mit den anderen technisierten Großstadtgesellschaften der Moderne.
Gleichwohl prägte Deutschland um 1906 die Bezeichnung »Freitod«, die zugleich auch eine Wertung transportiert und dem sozialdarwinistischen Milieu entstammte. Eine der ersten engagierten Apologien des freiwilligen Scheidens aus dem Leben lieferte der Naturforscher Ernst Haeckel. Eine Sonderform bildete freilich die Selbstmordwelle am Ende des Zweiten Weltkrieges, die in neueren Publikationen wieder ins Blickfeld gerückt ist.
Hatte schon einer der ersten Weggefährten Hitlers und nachmalige Dissident Hermann Rauschning im Nationalsozialismus eine Revolution des Nihilismus erblickt, welche ihre Anhänger über kurz oder lang in die Selbstvernichtung treiben würde, so hatte der NS-Staat zunächst eine klar ablehnende Einstellung zum Suizid. Als Erbe der Weimarer Republik, in der die Mittellosigkeit breiter Schichten die Selbstmordrate erhöhte, tat er alles, um die Grundlosigkeit des Selbstmordes nach der nationalen Revolution von 1933 zu bekräftigen.
Einzig in der SS war der Suizid bei schwerwiegender Ehrverletzung gestattet, wenn nicht sogar vorgeschrieben. Ihren Gegnern ließen die Nationalsozialisten oft genug keinen anderen Ausweg. Doch auch hier bleibt festzuhalten, daß in den Konzentrationslagern nach Berichten von Zeugen relativ wenige Selbstmorde auftraten. Die Strafen beim Versuch waren allzu drakonisch und die extremen Bedingungen bewirkten eher eine Stärkung des Willens zum Überleben, mit Ausnahme von Treblinka, das als reines Vernichtungslager geführt wurde und wo Suizide unter den Häftlingen häufiger vorkamen.
An den Fronten kam es den Sanitätsstäben zufolge ab 1943 zu einem deutlichen Ansteigen der Selbstmorde unter den Soldaten der Wehrmacht, was sogar Martin Bormann auf den Plan rief, der in einem wütenden Dekret den Selbstmord mit Desertion gleichsetzte. Eine Wende in der öffentlichen Bewertung der Selbsttötung durch das Regime trat mit Ausrufung des Totalen Krieges ein. Die Bevölkerung wurde von nun an in ihrem Widerstandswillen radikalisiert und hierfür auf einen unbarmherzigen, alles vernichtenden Feind aus dem Osten vorbereitet.
Die »Kultur einer selbstmörderischen Verteidigung« (Christian Goeschel) prägte die Lebenswelt der meisten Deutschen, bis hinein in die kollektive Psyche. Die Einsatzplanungen von Wehrmacht und SS schlossen vermehrt das Selbstopfer der Soldaten mit ein. Ideen von bemannten V1-Raketen oder Torpedos wurden ebenso erwogen, wie sogenannte Totaleinsätze der Luftwaffe.
Letztere war aufgerufen, in selbstmörderischen Rammjäger-Missionen insbesondere strategische Ziele der Roten Armee an der Oderfront anzugreifen. Die legendäre Staffel »Leonidas« aus dem geheimnisumwitterten Kampfgeschwader 200 soll sich dabei besonders hervorgetan haben. Diese Einsätze waren Himmelfahrtskommandos und wurden tunlichst vom Selbstmord geschieden, der nach wie vor ein Tabu darstellte.
Auch der Suizid Hitlers am 30. April 1945 wurde nicht als solcher benannt. Was als Selbstmordepidemie bezeichnet worden ist, begann ganz im Osten des Reiches, als die Rote Armee im Januar 1945 Ostpreußen und Schlesien betrat. Das, was im ostpreußischen Ort Nemmersdorf bereits im Oktober 1944 an Greueln der Zivilbevölkerung gegenüber geschehen war, brannte sich vor allem bei den Deutschen im Osten tief in das Erleben ein und führte bei Näherrücken der Front zu panikartigen Reaktionen. Schätzungen gehen davon aus, daß etwa 1,9 Millionen deutsche Frauen in der Endphase des Krieges und danach von Rotarmisten vergewaltigt wurden.
Der erste bekannte Massenselbstmord trug sich dann im pommerischen Ort Demmin zu. Zwischen Ende April und Anfang Mai 1945 sahen an die tausend Menschen, unter ihnen viele Frauen mit ihren Kindern, als einzigen Ausweg nur noch den Gang in den Fluß Peene. Diese Selbstmorde oder erweiterten Suizide von Zivilpersonen gingen denen der Partei- und Funktionärsprominenz des untergehenden Dritten Reiches voraus.
Zur »Ikone« des freiwilligen Todes von NS-Kadern wurden die Fotos der toten Familie Lisso in einem Büro des Neuen Rathauses von Leipzig. Dort hatten sich der Stadtkämmerer Dr. Kurt Lisso, seine Frau Renate und die 20-jährige Tochter Regina mithilfe von Zyanid am 18. April 1945 das Leben genommen. Die Fotos, geschossen von US-Soldaten, wurden im US-Magazin Life veröffentlicht. Sie dokumentierten die Bereitschaft der mittleren wie unteren Funktionärsschicht dem Beispiel der oberen Ränge zu folgen (oder ihnen voranzugehen).
Wahrscheinlich wurde im freiwilligen Tod, ähnlich wie schon bei den Samurai, eine radikale Gefolgschaft umgesetzt, die noch einmal eine besondere Beziehungsintimität zum Staat wie zu seinem Oberhaupt Adolf Hitler herstellte, die das gleiche Empfinden zu Lebzeiten nun ins Absolute steigern sollte. Selbstmorde dieser Art traten auch in anderen Landesteilen auf, allerdings in geringerer Anzahl.
Und keineswegs nur Regime-Anhänger wählten diesen Weg, auch Abseitsstehende und Gegner waren mit dem, was später »Stunde Null« genannt werden sollte, körperlich wie seelisch überfordert – mit verheerenden Auswirkungen auf den Lebenswillen. »Viele, die Selbstmord begingen, hatten Politik, Krieg und Alltagsleben nicht als getrennte Phänomene erlebt, sondern deren Ineinander in einer extrem schweren Zeit«, so das Fazit des Historikers Christian Goeschel.
Unter seinen Kameraden im Geschwader machte bei Verlusten immer das Wort von den »Weggehenden« die Runde, so erzählte es einmal der Fernsehpastor und Theologe Jörg Zink, als er an seine Soldatenzeit im Zweiten Weltkrieg zurückdachte. Das Leben währte in der Regel kurz, und der Tod wurde zum alltäglichen Begleiter der jungen Piloten, ein Weggang eben (Ernst Jünger sprach einmal vom Ausfall).
Viele Menschen sind 1945 freiwillig weggegangen, aus einem Land, das keine Heimat mehr war oder sein konnte sowie aus einem Leben, das zu leben sie die Kraft nicht mehr hatten oder das zu leben ihnen nicht mehr wert erschien. Selbstmörder sind Ortlose. Sie haben ihren Ort im Leben verloren oder finden ihn erst gar nicht. Sie ziehen das Ortlose, gleichsam die Utopie (griech. ou-topos »kein Ort«), vor und bekunden damit eine grausame Kompromißlosigkeit, in welcher das Leben nicht länger vermitteln kann. Selbstmörder sind darin konsequent.
Im Entzug setzen sie noch das radikalste Zeichen der Selbstbehauptung, hinauf ins Unpersönlich-Überpersönliche, aus dem die Legenden für die Nachwelt gestrickt sind. Man mag dies letzte Blindheit oder überscharfes Sehen, versperrende Bewußtlosigkeit oder einen erschreckenden Grad an Bewußtheit nennen. Was einem zum Suizid Entschlossenen dazu treibt, seinem Leben ein Ende zu setzen, entzieht sich allen Erklärungsmustern.
Diese stammen ohnehin noch aus dem Leben und gelten nur für Lebende, wie Jean Améry (Suizid 1978) in seinen Gedanken zum Suizid festgehalten hat. 1945 standen viele vor dem Nichts und sahen vor sich nur Trümmer, materielle wie seelische. Übrigens das andere deutsche Schicksalsjahr, 1989, zog keine derartige Spur des Todes durch die Landschaft. Relativ wenige Selbstmorde wurden aus dieser Zeit der untergehenden DDR gemeldet. Wohingegen der Prozentsatz an Suiziden im Arbeiter-und-Bauern-Staat die Jahre zuvor signifikant hoch war.
Laut Émile Durkheim kommt es in Gesellschaften, in denen Dynamiken der Unordnung einbrechen, zu jäh steigenden Selbstmordraten, sei es Unordnung aufgrund von Prosperität oder von Niedergang (Ausnahme: Krieg). War der September 2015 auch so eine »Stunde Null«, freilich ohne sichtbare Trümmer? Ist hier am Ende einer Kette radikaler Abbiegungen seitens der Politik ein Land nachhaltiger zerstört worden, als es im Augenblick noch den Anschein hat? Lassen sich diese Trümmer überhaupt noch wegräumen? Wird man auf ihnen eines Tages noch aufbauen können?
Sollte es über die kommenden Jahre hin nicht gelingen, die gewollte und bereits propagierte Vereinzelung vieler Landsleute zu durchbrechen und die immer weiter sich durchfressende Aggression sinnvoll zu kanalisieren, so könnten Ohnmacht und Aggression sich eines fernen Tages zu einem Cocktail vermischen, der einen neuen Schierlingsbecher ergibt.
Viele werden ihn dann zu sich nehmen, um sich so einer dürftigen Heloten-Existenz auf fremd gewordener Erde zu entziehen – definitiv.