Der Entzug

von Marcel Kehlberg
PDF der Druckfassung aus Sezession 91/August 2019

Der Sui­zid ist der unzu­gäng­lichs­te Akt des Men­schen. Medi­zi­nisch, psy­cho­lo­gisch, sozio­lo­gisch, theo­lo­gisch, phi­lo­so­phisch und nicht zuletzt lite­ra­risch ist er hin­rei­chend beschrie­ben oder bes­ser umschrie­ben wor­den und wur­de trotz­dem nie zur Gän­ze erfaßt. Genau­so ist er durch die Zei­ten hin­durch von den Leben­den bewer­tet wor­den, als radi­kals­ter Aus­druck der Ver­zweif­lung, der Feig­heit, der Zurück­wei­sung oder der Hingabe.

Sie, die Leben­den, stan­den und ste­hen oft fas­sungs­los vor die­ser zutiefst indi­vi­du­el­len, ja inti­men Ent­schei­dung, die den Allein­ver­tre­tungs­an­spruch des Lebens so kom­pro­miß­los in Fra­ge zu stel­len scheint, so sehr, daß man­cher sich die­sen Akt nur als eine Art »Selbst­über­rum­pe­lung« vor­stel­len konn­te (etwa Lud­wig Wittgenstein).

Auf­ge­kün­digt ist da der Gehor­sam gegen­über den Geset­zen der Ver­nunft, der Sit­ten, der Gefüh­le, des Lebens schlecht­hin mit­samt sei­ner Trieb­struk­tur: Das Leben ist nicht län­ger der ers­te und letz­te Wert und die Todes­angst als sonst all­mäch­ti­ge Auto­ri­tät kein Ver­hand­lungs­part­ner mehr.

Die­se ein­sa­me Inti­mi­tät, in wel­cher der Sui­zi­dant sei­nen Ent­schluß erringt und erlei­det, ver­bie­tet sowohl Spe­ku­la­ti­on als auch Wert­ur­teil oder wie der hl. Tho­mas von Aquin gemahn­te: »quia in occul­tis non est homo iudex« (»für das Ver­bor­ge­ne ist der Mensch nicht zum Rich­ter bestellt«).

Gleich­wohl sind dem per­sön­li­chen Arca­num Vor­hö­fe vor­ge­la­gert, die aus den Erfah­run­gen der Gene­ra­ti­on und des Zeit­geis­tes errich­tet wor­den sind. Mishi­ma Yukio, Jan Palach, Domi­ni­que Ven­ner, Rolf Peter Sie­fer­le, Paul Celan, Pierre Drieu la Rochel­le, Wal­ter Ben­ja­min, Hein­rich von Kleist, Sene­ca, Cato, König Saul, um nur eini­ge zu nen­nen, spie­geln in ihren so unter­schied­li­chen per­sön­li­chen Lebens­ab­brü­chen immer auch das Gebro­che­ne ihrer jewei­li­gen Gene­ra­ti­on wider.

Die­se Vor­hö­fe las­sen sich respekt­voll betre­ten. Kei­ne Apo­lo­gie soll damit bezweckt wer­den, son­dern viel eher eine Art von »Pflicht­ver­tei­di­gung« einer uner­hör­ten Mög­lich­keit (oder Frei­heit), die immer wie­der gewählt wor­den ist und von der zu befürch­ten steht, daß sie in fer­ner Zukunft wie­der gewählt wer­den wird. Aus­ge­klam­mert aus der Betrach­tung bleibt das Phä­no­men der isla­mi­schen Selbst­mord­at­ten­tä­ter und ihre sehr spe­zi­fi­sche wie per­fi­de »felix culpa«.

Der indi­vi­du­el­le »Sprung nach einem Etwas, das kein Etwas ist«, wie Jean Amé­ry den Sui­zid genannt hat, ist nie völ­lig zu lösen vom kul­tu­rel­len Umfeld, in dem er getan wird. Wir ken­nen die Kul­tur der grie­chisch­rö­mi­schen Anti­ke mit ihren Phi­lo­so­phen, Feld­her­ren und Kai­sern, die sich mehr oder weni­ger sto­isch entleibten.

Als regel­rech­ter Pre­di­ger des Sui­zids darf der grie­chi­sche Phi­lo­soph Hege­si­as gel­ten, den man auch Pei­sitha­na­tos, den »zum Tod Über­re­den­den« genannt hat. Im drit­ten vor­christ­li­chen Jahr­hun­dert brach­te er es zum umstrit­te­nen Haupt der Schu­le des Kyre­nais­mus, benannt nach der Stadt Cyre­ne in Nord­afri­ka. Der Tod war die­ser Leh­re gemäß als Ende allen dies­sei­ti­gen Leids gera­de­zu anzu­stre­ben. Nur im Tod sei kein Man­gel, nur er kön­ne nicht ent­täu­schen. Spä­ter fin­det man sol­cher­art Stoi­zis­mus in Cice­ros Tus­cu­lanae dis­pu­ta­tio­nes wieder.

Weit­aus beein­dru­cken­der war der Platz des Sui­zids in der Kul­tur des feu­da­len Japans, von wo der umgangs­sprach­li­che Begriff Hara-Kiri oder Hara-Kere (»den Bauch auf­schlit­zen«) es bis in den west­li­chen Wort­schatz geschafft hat. In Japan selbst bedien­te man sich des ele­gan­te­ren Aus­drucks Seppu­ku für die ritu­ell voll­zo­ge­ne Selbst­tö­tung. 1868 ist in der Per­son des Bri­ten Lord Redes­da­le zum ers­ten Mal ein west­li­cher Augen­zeu­ge zugegen.

Er beschreibt den fei­er­lich-nüch­ter­nen »Rubri­zis­mus« des Seppu­ku, das als ehren­vol­le Todes­stra­fe ver­hängt wur­de und das alle Betei­lig­ten, vor­an der Ver­ur­teil­te, mit einem Höchst­maß an Samm­lung und Hygie­ne in einem Tem­pel durch­führ­ten. Der ent­blöß­te Bauch wird ohne Zögern mit dem Kurz­schwert von links nach rechts auf­ge­trennt. Der anwe­sen­de Sekun­dant ent­haup­tet auf ein Zei­chen hin den Delin­quen­ten sogleich, wobei er dar­auf ach­tet, den Kopf nicht ganz vom Rumpf zu tren­nen (Ent­haup­tung galt als schänd­li­che Stra­fe), was eine meis­ter­haf­te Beherr­schung der Schwert­kunst voraussetzte.

Seppu­ku ist mit dem rigo­ro­sen Ehren­ko­dex des Krie­ge­ra­dels der Samu­rai zutiefst ver­bun­den und fin­det sei­ne Ver­or­tung in der Hal­tung des Bushi­do, einer fort­wäh­rend medi­tier­ten Todes­be­reit­schaft. Hin­zu tritt das bud­dhis­ti­sche Moment, das in der Vari­an­te des Zen-Bud­dhis­mus Ein­gang in die Kas­te der Samu­rai gefun­den hat­te. Dem­nach ist der Bauch das Zen­trum des Kör­pers, in wel­chem sich auch die See­le befindet.

Im Seppu­ku wer­den somit Kör­per und See­le glei­cher­ma­ßen bestraft wie befreit. Man sag­te sich, daß durch ihn augen­blick­li­che »Bud­dha­schaft« zu erlan­gen sei. Die Art, sich dem Tod gegen­über zu ver­hal­ten war für den Samu­rai eine wesent­li­che Fra­ge sei­ner Iden­ti­tät. Er trach­te­te stets danach, selbst­be­stimmt zu ster­ben. Die gene­rel­le Bereit­schaft, den Tod anzu­neh­men, erstreck­te sich auch auf eine radi­kal ver­stan­de­ne Loya­li­tät, in der die Gefolgs­leu­te eines Sho­gun die­sem nach sei­nem Able­ben durch Selbst­mord nachfolgten.

Ähn­li­ches berich­tet Albert Camus in sei­nem gro­ßen Essay Der Mensch in der Revol­te von rus­si­schen Sozi­al­re­vo­lu­tio­nä­ren in einem sibi­ri­schen Lager, die sich aus Soli­da­ri­tät mit einem zu Tode gefol­ter­ten Kame­ra­den rei­hen­wei­se selbst töte­ten. Mit der Öff­nung Japans zum west­li­chen Aus­land und damit zur Moder­ne wur­de das Seppu­ku zuerst aus der Straf­ge­setz­ge­bung ver­bannt und mit dem Ver­schwin­den der Samu­rai auch aus dem Bewußt­sein vie­ler Japaner.

In iro­ni­schen Rede­wen­dun­gen wie »Seppu­ku-mono«, was eine Situa­ti­on meint, die gleich­sam nach Selbst­mord schreit, ist er noch zuge­gen. Pri­vat wur­de er gleich­wohl wei­ter­hin ver­übt. So voll­zog im Zwei­ten Welt­krieg ein jun­ger japa­ni­scher Mari­ne­of­fi­zier nach Ver­sa­gen im Dienst Seppu­ku und wur­de dar­auf­hin mit allen mili­tä­ri­schen Ehren bestattet.

Des­glei­chen ver­üb­ten eine Rei­he hoher Offi­zie­re der kai­ser­lich-japa­ni­schen Armee nach der Kapi­tu­la­ti­on ihres Lan­des im August 1945 den ritu­el­len Selbst­mord, mit Flü­chen gegen die US-Ame­ri­ka­ner auf den Lip­pen. Unver­ges­sen ist auch der letz­te bekann­te Seppu­ku des Schrift­stel­lers Mishi­ma Yukio im Jah­re 1970.

In sei­nem Klas­si­ker Der Selbst­mord von 1897 unter­stell­te einer der Patri­ar­chen der Sozio­lo­gie, Émi­le Durk­heim, gera­de der deut­schen Kul­tur eine inhä­ren­te Nei­gung zum Selbst­mord, vor allem in pro­tes­tan­ti­schen Gebie­ten und hier beson­ders in den Städ­ten. Tat­säch­lich hat das moder­ne Deut­sche Reich Pha­sen ver­mehr­ten Sui­zids gekannt, aber dies teil­te es mit den ande­ren tech­ni­sier­ten Groß­stadt­ge­sell­schaf­ten der Moderne.

Gleich­wohl präg­te Deutsch­land um 1906 die Bezeich­nung »Frei­tod«, die zugleich auch eine Wer­tung trans­por­tiert und dem sozi­al­dar­wi­nis­ti­schen Milieu ent­stamm­te. Eine der ers­ten enga­gier­ten Apo­lo­gien des frei­wil­li­gen Schei­dens aus dem Leben lie­fer­te der Natur­for­scher Ernst Hae­ckel. Eine Son­der­form bil­de­te frei­lich die Selbst­mord­wel­le am Ende des Zwei­ten Welt­krie­ges, die in neue­ren Publi­ka­tio­nen wie­der ins Blick­feld gerückt ist.

Hat­te schon einer der ers­ten Weg­ge­fähr­ten Hit­lers und nach­ma­li­ge Dis­si­dent Her­mann Rausch­ning im Natio­nal­so­zia­lis­mus eine Revo­lu­ti­on des Nihi­lis­mus erblickt, wel­che ihre Anhän­ger über kurz oder lang in die Selbst­ver­nich­tung trei­ben wür­de, so hat­te der NS-Staat zunächst eine klar ableh­nen­de Ein­stel­lung zum Sui­zid. Als Erbe der Wei­ma­rer Repu­blik, in der die Mit­tel­lo­sig­keit brei­ter Schich­ten die Selbst­mord­ra­te erhöh­te, tat er alles, um die Grund­lo­sig­keit des Selbst­mor­des nach der natio­na­len Revo­lu­ti­on von 1933 zu bekräftigen.

Ein­zig in der SS war der Sui­zid bei schwer­wie­gen­der Ehr­ver­let­zung gestat­tet, wenn nicht sogar vor­ge­schrie­ben. Ihren Geg­nern lie­ßen die Natio­nal­so­zia­lis­ten oft genug kei­nen ande­ren Aus­weg. Doch auch hier bleibt fest­zu­hal­ten, daß in den Kon­zen­tra­ti­ons­la­gern nach Berich­ten von Zeu­gen rela­tiv weni­ge Selbst­mor­de auf­tra­ten. Die Stra­fen beim Ver­such waren all­zu dra­ko­nisch und die extre­men Bedin­gun­gen bewirk­ten eher eine Stär­kung des Wil­lens zum Über­le­ben, mit Aus­nah­me von Treb­linka, das als rei­nes Ver­nich­tungs­la­ger geführt wur­de und wo Sui­zi­de unter den Häft­lin­gen häu­fi­ger vorkamen.

An den Fron­ten kam es den Sani­täts­stä­ben zufol­ge ab 1943 zu einem deut­li­chen Anstei­gen der Selbst­mor­de unter den Sol­da­ten der Wehr­macht, was sogar Mar­tin Bor­mann auf den Plan rief, der in einem wüten­den Dekret den Selbst­mord mit Deser­ti­on gleich­setz­te. Eine Wen­de in der öffent­li­chen Bewer­tung der Selbst­tö­tung durch das Regime trat mit Aus­ru­fung des Tota­len Krie­ges ein. Die Bevöl­ke­rung wur­de von nun an in ihrem Wider­stands­wil­len radi­ka­li­siert und hier­für auf einen unbarm­her­zi­gen, alles ver­nich­ten­den Feind aus dem Osten vorbereitet.

Die »Kul­tur einer selbst­mör­de­ri­schen Ver­tei­di­gung« (Chris­ti­an Goe­schel) präg­te die Lebens­welt der meis­ten Deut­schen, bis hin­ein in die kol­lek­ti­ve Psy­che. Die Ein­satz­pla­nun­gen von Wehr­macht und SS schlos­sen ver­mehrt das Selbst­op­fer der Sol­da­ten mit ein. Ideen von bemann­ten V1-Rake­ten oder Tor­pe­dos wur­den eben­so erwo­gen, wie soge­nann­te Total­ein­sät­ze der Luftwaffe.

Letz­te­re war auf­ge­ru­fen, in selbst­mör­de­ri­schen Ramm­jä­ger-Mis­sio­nen ins­be­son­de­re stra­te­gi­sche Zie­le der Roten Armee an der Oder­front anzu­grei­fen. Die legen­dä­re Staf­fel »Leo­ni­das« aus dem geheim­nis­um­wit­ter­ten Kampf­ge­schwa­der 200 soll sich dabei beson­ders her­vor­ge­tan haben. Die­se Ein­sät­ze waren Him­mel­fahrts­kom­man­dos und wur­den tun­lichst vom Selbst­mord geschie­den, der nach wie vor ein Tabu darstellte.

Auch der Sui­zid Hit­lers am 30. April 1945 wur­de nicht als sol­cher benannt. Was als Selbst­mor­d­epi­de­mie bezeich­net wor­den ist, begann ganz im Osten des Rei­ches, als die Rote Armee im Janu­ar 1945 Ost­preu­ßen und Schle­si­en betrat. Das, was im ost­preu­ßi­schen Ort Nem­mers­dorf bereits im Okto­ber 1944 an Greu­eln der Zivil­be­völ­ke­rung gegen­über gesche­hen war, brann­te sich vor allem bei den Deut­schen im Osten tief in das Erle­ben ein und führ­te bei Näher­rü­cken der Front zu panik­ar­ti­gen Reak­tio­nen. Schät­zun­gen gehen davon aus, daß etwa 1,9 Mil­lio­nen deut­sche Frau­en in der End­pha­se des Krie­ges und danach von Rot­ar­mis­ten ver­ge­wal­tigt wurden.

Der ers­te bekann­te Mas­sen­selbst­mord trug sich dann im pom­me­ri­schen Ort Dem­min zu. Zwi­schen Ende April und Anfang Mai 1945 sahen an die tau­send Men­schen, unter ihnen vie­le Frau­en mit ihren Kin­dern, als ein­zi­gen Aus­weg nur noch den Gang in den Fluß Pee­ne. Die­se Selbst­mor­de oder erwei­ter­ten Sui­zi­de von Zivil­per­so­nen gin­gen denen der Par­tei- und Funk­tio­närs­pro­mi­nenz des unter­ge­hen­den Drit­ten Rei­ches voraus.

Zur »Iko­ne« des frei­wil­li­gen Todes von NS-Kadern wur­den die Fotos der toten Fami­lie Lis­so in einem Büro des Neu­en Rat­hau­ses von Leip­zig. Dort hat­ten sich der Stadt­käm­me­rer Dr. Kurt Lis­so, sei­ne Frau Rena­te und die 20-jäh­ri­ge Toch­ter Regi­na mit­hil­fe von Zya­nid am 18. April 1945 das Leben genom­men. Die Fotos, geschos­sen von US-Sol­da­ten, wur­den im US-Maga­zin Life ver­öf­fent­licht. Sie doku­men­tier­ten die Bereit­schaft der mitt­le­ren wie unte­ren Funk­tio­närs­schicht dem Bei­spiel der obe­ren Rän­ge zu fol­gen (oder ihnen voranzugehen).

Wahr­schein­lich wur­de im frei­wil­li­gen Tod, ähn­lich wie schon bei den Samu­rai, eine radi­ka­le Gefolg­schaft umge­setzt, die noch ein­mal eine beson­de­re Bezie­hungs­in­ti­mi­tät zum Staat wie zu sei­nem Ober­haupt Adolf Hit­ler her­stell­te, die das glei­che Emp­fin­den zu Leb­zei­ten nun ins Abso­lu­te stei­gern soll­te. Selbst­mor­de die­ser Art tra­ten auch in ande­ren Lan­des­tei­len auf, aller­dings in gerin­ge­rer Anzahl.

Und kei­nes­wegs nur Regime-Anhän­ger wähl­ten die­sen Weg, auch Abseits­ste­hen­de und Geg­ner waren mit dem, was spä­ter »Stun­de Null« genannt wer­den soll­te, kör­per­lich wie see­lisch über­for­dert – mit ver­hee­ren­den Aus­wir­kun­gen auf den Lebens­wil­len. »Vie­le, die Selbst­mord begin­gen, hat­ten Poli­tik, Krieg und All­tags­le­ben nicht als getrenn­te Phä­no­me­ne erlebt, son­dern deren Inein­an­der in einer extrem schwe­ren Zeit«, so das Fazit des His­to­ri­kers Chris­ti­an Goeschel.

Unter sei­nen Kame­ra­den im Geschwa­der mach­te bei Ver­lus­ten immer das Wort von den »Weg­ge­hen­den« die Run­de, so erzähl­te es ein­mal der Fern­seh­pas­tor und Theo­lo­ge Jörg Zink, als er an sei­ne Sol­da­ten­zeit im Zwei­ten Welt­krieg zurück­dach­te. Das Leben währ­te in der Regel kurz, und der Tod wur­de zum all­täg­li­chen Beglei­ter der jun­gen Pilo­ten, ein Weg­gang eben (Ernst Jün­ger sprach ein­mal vom Ausfall).

Vie­le Men­schen sind 1945 frei­wil­lig weg­ge­gan­gen, aus einem Land, das kei­ne Hei­mat mehr war oder sein konn­te sowie aus einem Leben, das zu leben sie die Kraft nicht mehr hat­ten oder das zu leben ihnen nicht mehr wert erschien. Selbst­mör­der sind Ort­lo­se. Sie haben ihren Ort im Leben ver­lo­ren oder fin­den ihn erst gar nicht. Sie zie­hen das Ort­lo­se, gleich­sam die Uto­pie (griech. ou-topos »kein Ort«), vor und bekun­den damit eine grau­sa­me Kom­pro­miß­lo­sig­keit, in wel­cher das Leben nicht län­ger ver­mit­teln kann. Selbst­mör­der sind dar­in konsequent.

Im Ent­zug set­zen sie noch das radi­kals­te Zei­chen der Selbst­be­haup­tung, hin­auf ins Unper­sön­lich-Über­per­sön­li­che, aus dem die Legen­den für die Nach­welt gestrickt sind. Man mag dies letz­te Blind­heit oder über­schar­fes Sehen, ver­sper­ren­de Bewußt­lo­sig­keit oder einen erschre­cken­den Grad an Bewußt­heit nen­nen. Was einem zum Sui­zid Ent­schlos­se­nen dazu treibt, sei­nem Leben ein Ende zu set­zen, ent­zieht sich allen Erklärungsmustern.

Die­se stam­men ohne­hin noch aus dem Leben und gel­ten nur für Leben­de, wie Jean Amé­ry (Sui­zid 1978) in sei­nen Gedan­ken zum Sui­zid fest­ge­hal­ten hat. 1945 stan­den vie­le vor dem Nichts und sahen vor sich nur Trüm­mer, mate­ri­el­le wie see­li­sche. Übri­gens das ande­re deut­sche Schick­sals­jahr, 1989, zog kei­ne der­ar­ti­ge Spur des Todes durch die Land­schaft. Rela­tiv weni­ge Selbst­mor­de wur­den aus die­ser Zeit der unter­ge­hen­den DDR gemel­det. Wohin­ge­gen der Pro­zent­satz an Sui­zi­den im Arbei­ter-und-Bau­ern-Staat die Jah­re zuvor signi­fi­kant hoch war.

Laut Émi­le Durk­heim kommt es in Gesell­schaf­ten, in denen Dyna­mi­ken der Unord­nung ein­bre­chen, zu jäh stei­gen­den Selbst­mord­ra­ten, sei es Unord­nung auf­grund von Pro­spe­ri­tät oder von Nie­der­gang (Aus­nah­me: Krieg). War der Sep­tem­ber 2015 auch so eine »Stun­de Null«, frei­lich ohne sicht­ba­re Trüm­mer? Ist hier am Ende einer Ket­te radi­ka­ler Abbie­gun­gen sei­tens der Poli­tik ein Land nach­hal­ti­ger zer­stört wor­den, als es im Augen­blick noch den Anschein hat? Las­sen sich die­se Trüm­mer über­haupt noch weg­räu­men? Wird man auf ihnen eines Tages noch auf­bau­en können?

Soll­te es über die kom­men­den Jah­re hin nicht gelin­gen, die gewoll­te und bereits pro­pa­gier­te Ver­ein­ze­lung vie­ler Lands­leu­te zu durch­bre­chen und die immer wei­ter sich durch­fres­sen­de Aggres­si­on sinn­voll zu kana­li­sie­ren, so könn­ten Ohn­macht und Aggres­si­on sich eines fer­nen Tages zu einem Cock­tail ver­mi­schen, der einen neu­en Schier­lings­be­cher ergibt.

Vie­le wer­den ihn dann zu sich neh­men, um sich so einer dürf­ti­gen Helo­ten-Exis­tenz auf fremd gewor­de­ner Erde zu ent­zie­hen – definitiv.

Nichts schreibt sich
von allein!

Das Blog der Zeitschrift Sezession ist die wichtigste rechtsintellektuelle Stimme im Netz. Es lebt vom Fleiß, von der Lesewut und von der Sprachkraft seiner Autoren. Wenn Sie diesen Federn Zeit und Ruhe verschaffen möchten, können Sie das mit einem Betrag Ihrer Wahl tun.

Sezession
DE58 8005 3762 1894 1405 98
NOLADE21HAL

Kommentare (0)