Immer mal wieder kriege ich die Frage gestellt: »Wie hast du eigentlich das Jahr 1989 erlebt, also den 9. November natürlich?« Logisch, der Mauerfall. Ich muß da stets ausweichen. Ich war zwar schon damals, als Sechzehnjährige, ordentlich politisiert.
Allerdings interessierten mich eher die ganz großen Fragen (natürlich auf, rückblickend, äußerst bescheidenem Niveau): Evola, Nietzsche, und von Benn die Essays; Befreiung oder Niederlage; Christentum als Heils- oder als Untertanenreligion. Hatte die Zeitenwende 1789 stattgefunden oder bereits 1517 oder gar mit Karl dem Großen? Und wie kriegt man das zusammen, wenn man zwar mit vielen Ausländern, ja überwiegend mit Ausländern befreundet, aber trotzdem gegen Zuwanderung ist?
Daneben war ich damals, anno 1989, nicht bloß Möchtegernphilosophin, sondern vor allem von Alltagsdingen aufgerieben: die sogenannte wilde Jugend. Als die Junge Freiheit zu einem Jubiläum ihre Autoren aufforderte, über »ihren 9. November 1989« zu schreiben, hatte ich spaßeshalber in meinen alten Tagebüchern nachgelesen, die ich über Jahre säuberlich führte (Rezension der jeweiligen Lektüre machte den Hauptteil aus).
9. November 1989: »Bojan tut, als wüßte er von nichts. [Der »Jugo« Bojan, wie man damals noch sagte, hatte eine Sonnenbrille von mir einbehalten] Er muß sich entscheiden, ob er ein Freund ist oder nur Assi-Pack! Englisch wieder soo nervig!! Ms Reidel haßt mich. Ihr Pech. SIE hat ein Problem. Dabei … I love this language!! Nachmittags im 51.Store eine Cedixsept gekauft. 49 Mark. Mußte sein.« Cedixsept? Es ging um eine Jeans! Auch in den folgenden Tagen und Wochen: Neben Gossip und gelegentlich juvenilen geschichtsphilosophischen Betrachtungen (Großmäuliges zu Nietzsche) finde ich keinen einzigen Eintrag zum Mauerfall.
Wenn ich je genervt bin vom politischen Desinteresse meiner Kinder, sollte ich mir wohl mein eigenes Tagebuch vor Augen führen. Der 11. November war für mich – bittere Wahrheit – eher nebensächlich. Dabei hatte ich zahlreiche Verwandte und einen engen Brieffreund (Resultat eines Luftballonwettbewerbs) »drüben«, und die regelmäßigen Fahrten in die »Ostzone« zählten zu meinen bedeutendsten Kindheitserinnerungen. Trotz allem war der Mauerfall für mich nicht tagebuchwürdig, Asche auf mein Haupt.
Und doch firmierte ich einst als Vertreterin dieses »Epochenjahrs«. Ich war eine jener seltenen Blüten, die »abseits von Bierhallen-Chauvinisten, rechtsextremen Kadern und kurzhaarigen Gewalttätern das Undenkbare wagten: Rechts zu sein« (Roland Bubik). Das Buch, mit dem die Neue Rechte ins Licht der Öffentlichkeit trat, hieß Wir ’89 er. Wer wir sind und was wir wollen. Neben Dieter Stein und den damaligen JF-Autoren Roland Bubik (der als Herausgeber fungierte), Claus Wolfschlag (bis heute JF-Urgestein), Frank Liebermann (auch heute noch an Bord des Mutterschiffs JF), Manuel Ochsenreiter und sechs weiteren, war ich eine der Beiträgerinnen.
Aus dem Vorwort von Bubik, der damals als äußerst smarter und cooler Redakteur die JF-Rubrik »Zeitgeist und Lebensart« leitete: Heute seien es die alten »68er-Revolteure, die entscheidende Positionen der Gesellschaft besetzen, sie verkörpern die althergebrachte Struktur. Protest und Opposition kommen von rechts.«
Der 89er-Titel kann heute in die Irre führen. Kürzlich traf ich einen verdienten Altpolitiker wieder, der längst bei der AfD untergekommen ist. Damals, vor Jahrzehnten, waren wir über Wir ’89er ins Gespräch gekommen. Er ging nun, heute, davon aus, daß das Buch 1989 erschienen sei. Er wollte mir ein Kompliment machen: daß man mir überhaupt nicht ansähe, daß ich die fünfzig bereits erreicht hätte … Das war peinlich für uns beide.
Wir ’89er ist tatsächlich erst 1995 erschienen. Da war ich einundzwanzig. Meinen eigenen Beitrag, in dem ich mich als Mitglied einer Bewegung ausweise, »die sich durch eine politische Position rechts von der Mitte und links vom extremistischen Lunatic Fringe definiert« (Roland Bubik), lese ich heute mit peinlich roten Wangen, vor allem wegen des Fragebogens, der jedem Autorenartikel vorangestellt war.
Pathetischer ging es nicht. Woran glaubst Du? – An die Flamme, die Licht gibt, verzehrt und niemals erlischt. Deine Vorbilder? – Man sollte nichts nachbilden – voran! … und noch ein paar wildemädchenartige Antworten, an die ich mich nicht mehr gut erinnere. Woran ich mich hingegen sehr gut erinnere, sind Zeitgeist und interne Stimmung damals, anno 1995.
Was den Zeitgeist angeht: Die Betroffenheits- und Schuldstolzwelle erreichte wenige Jahre nach den rassistischen Ausschreitungen in Rostock-Lichtenhagen und Hoyerswerda ihren vorläufigen Höhepunkt. Es war die Zeit, als Zigeunerschnitzel und Negerkuß aus dem kulinarischen Angebot verschwanden, was bei unsereins nur deshalb Unbehagen weckte, weil damit eine übergreifende politische Korrektheit Einzug hielt. In Deutschland wurde das als Gesamtphänomen erst Ende der neunziger Jahre aufgegriffen.
Für das Ursprungsland USA liegen Daten vor, die über Jahre aus den Leitmedien gesammelt wurden. 1990 ging es demnach in 65 Artikeln um »Political correctness«, 1993 in 4914, 1994 in 6985 prominenten Beiträgen. Für irgendwie »problematisch« hielt der Mainstream die politische Korrektheit erst nach der Jahrtausendwende. Insofern waren »Wir 89er« eine Art Avantgarde – zu einer Zeit, als weit und breit (gut: einige wenige unserer Leute verlustierten sich bei den Republikanern) keine politische Alternative in Sicht war.
Roland Bubik (wiewohl er im Hauptfach BWL lernte) hatte bei Rolf Peter Sieferle studiert. Er war enthusiasmiert von diesem Lehrer, den damals (Sieferles Skandalwerk Finis Germania war noch 22 Jahre entfernt) nur genaue, wache Leser »rechts« einordneten. Wenn wir uns trafen, brachte Bubik oft provokante Früchte aus Diskussionen mit Sieferle mit.
Teils erinnere ich mich im Wortlaut daran. Es ging um Mutterschaft, Härte und Sentimentalität, und wir haben abendelang darüber debattiert. Meinen ersten Artikel hatte ich unter Roland Bubiks Ägide in der JF über die damals recht junge »Techno«-Bewegung verfaßt. Heute erscheint mir das kindisch. Als großstädtische Oberstufenschülerin entsprach das aber meinem Erfahrungshorizont.
In der Schule quatschten sie uns voll mit ungefährem Behutsamkeitsgedöns, draußen auf der Straße konnte man in Offenbach als junge blonde Frau unbelästigt kaum ein paar Meter gehen. Und in diesen Technoclubs unter dem Frankfurter Flughafen und im legendären »Omen« in der Innenstadt spielten sie Marschmusik 2.0! Beeindruckende Muskelmänner und Diskothekenwalküren tanzten sich die Seele aus dem Leib, zu harten, zwingenden Rhythmen.
In meiner gutbehüteten Vorstadtwelt – und bevor Techno zur Peace-Kultur wurde – war das eine Ansage! Ich, damals längst noch nicht volljährig, katholisch sozialisiert, Mädchenschulgängerin, war hypnotisiert. Und ich war krude politisiert. Ich stamme aus einer bieder-fleißigen, buchfernen Vertriebenenfamilie, CDU-Wähler. Gefühlsmäßig war ich früh »rechts«.
Ich war trotzig und eine Rebellin und spürte gern überall Tabus auf. Ich, als Jugendliche ohne jeden akademischen Anschluß, schnappte nach jedem Häppchen, was sich mir bot, um dieses Rechtsgefühl zu unterfüttern. Als mein Nachbar (deutlich älter als ich, eine Omnibus-Bekanntschaft) begann, mir Woche für Woche seine ausgelesene Junge Freiheit in den Briefkasten zu stecken, wurde ich eine fleißige Horterin.
Ich sammelte alle Ausgaben dieser faszinierenden Zeitung, ackerte mit Textmarker Grundlagenartikel zu Themen wie »Postmoderne«, »Kommunitarismus«, »heimatverbundene Ökologie« durch und legte mir ein handgeschriebenes Lexikon mit »wichtigen Begriffen« an. Dieser Hausnachbar, Claus Wolfschlag, begleitete meine ersten Artikel für die JF (ich hatte ja noch nicht einmal Abitur) mit einem strengen Lektorat, das mich oft beschämte und mir den Kopf geraderückte.
Als Roland Bubik mich dann fragte, ob ich Interesse hätte, für einen Sammelband mit dem Titel Wir ’89er beizutragen, fühlte ich mich geehrt. Ich hatte ja gerade erst als Noch-nicht-Teilnehmerin in die rechtsintellektuelle Szene hineingeschnuppert. Ich hatte seither (als halb verschüchterte, halb kecke Begleitperson bei Kneipensitzungen) Leute kennengelernt, die in deutschen Leitfeuilletons schrieben, Bücher in großen Verlagen veröffentlicht hatten und heimlich »zu uns« hielten. (Teils halten dieselben immer noch heimlich zu uns. Damals waren das für mich Helden. Heute? Schweigen wir.)
Nebenbei gab es in dieser Zeit auch zahlreiche Bekanntschaften mit Leuten, die gleichwohl irgendwie rechts und auch irgendwie intellektuell, sprich: belesen, aber – oft bewußt – nicht »anschlußfähig« waren. Anschlußfähig woran? Ich würde sagen: an einen druckfähigen Minimalkonsens, an bundesdeutsche Debatten. »Auf dem Boden der FDGO stehend« war ein kategorisierendes und einigermaßen trennscharfes Schlagwort.
Ich hatte Kontakt zu Leuten, die dieser freiheitlich-demokratischen Grundordnung skeptisch gegenüberstanden. Aus höchst unterschiedlichen Gründen. Radikalen (im Wortsinne) Entwürfen stand ich offen gegenüber – das entsprach meinem Alter und meinem Temperament. Bubik erklärte mir damals, was ein lunatic fringe sei und warum man sich (und zwar – wichtig! – nicht aus Opportunitätserwägungen, sondern aus Gründen der geistigen Hygiene) von ihm abgrenzen sollte. Ich verstand. Ich vollzog nach. Er hatte recht.
Bis heute aber tut mir der lunatic fringe, all diese Reichsbürger, Schild & Schwert-Kämpfer, der abgehängte altrechte Rest auf eine gewisse Weise leid. Sie sind so eifrig, so verstrickt in ihren Eifer, sind verbohrt, sind der fleischgewordene Gegenentwurf zu jeder Anschlußfähigkeit. Ein klarer Schnitt, ein Bruch mit diesen Leuten sei aber unabdingbar – diese Devise ging damals auch von Dieter Stein aus.
Die »Alte Rechte« wurde gnadenlos abserviert. Im Grunde war es richtig. Ich hatte ja selbst oft genug gesehen, daß mit diesen Leuten, wie ehrenwert ihre Anliegen (Oder-Neiße-Linie, diverse Geschichtsmythen) auch waren, kein Blumentopf zu gewinnen war. Wie gesagt, das war nur zu einem kleinen Teil ein taktischer Schritt. Geistige Flexibilität, das merkte ich rasch, bedeutete nicht Gegenwartsschläue und rhetorische Geschmeidigkeit.
Der wuchtige Dampfer der alten Rechten hatte schlicht Rost angesetzt und war zudem rettungslos über den Untiefen der Lage auf Grund gelaufen. Die Selbstbewußte Nation, herausgegeben von den Welt-am-Sonntag-Redakteuren Heimo Schwilk und Ulrich Schacht, war damals gerade erschienen: ein erstes Manifest nichtlinker Denker, das für gewaltiges Rauschen im Blätterwald sorgte.
Dieses Buch (1994) mit prominenten Beiträgern wie Botho Strauß, Gerd Bergfleth und Hans-Jürgen Syberberg stellte eine Art Urszene der Neuen Rechten dar und wird weithin bis heute als solche rezipiert. Unser Sammelband ’Wir 89er – toller Nebeneffekt: In der Jahreszahl stand »68« kopf – war gewissermaßen als Jugendfassung dieser Stimmung gedacht.
Bubik schrieb im Vorwort:
»Im Rahmen meiner publizistischen Tätigkeit stieß ich immer wieder auf junge Menschen, die in das allgemein gepflegte Bild vom Rechten nicht paßten. Da kündigte sich etwas Neues an. Nicht nur auf der Ebene der politischen Argumentation oder Polemik, nein, tiefer noch: In der Lebensauffassung, im Bild vom Leben. Wie auf einer Entdeckungsfahrt begegnete ich einer bunten, kreativen Vielfalt von Prägungen, Emotionen, Vorstellungen, Lebensformen.«
Und weiter:
»Die 89er sind, erfreulicherweise, kein Block homogen denkender Ideologen. Unter ihnen sind Liberale, die Meinungsfreiheit und die Pluralität der Lebensstile einfordern. Sie wenden sich gegen die Gleichmacherei von links. Allein dieses Ziel gibt ihnen das Bewußtsein Rechte zu sein. Es treten Konservative auf, die angesichts allgemeiner Auflösung ihrer Wertvorstellungen nicht mehr ›bewahren‹ können, sondern ihnen wieder Geltung verschaffen müssen.«
Das war unerhört – damals. In den Neunzigern, ich muß es betonen für jene Leute, die zu dieser Zeit noch Kleinkinder oder weniger waren, gab es keine Alternative! Es herrschte politische Grabesstille. Man konnte als junger Mensch auf vielfältige Art links sein: Öko, Kiffer, Mitglied bei Amnesty-International oder Greenpeace, Juli, Juso – oder eben unpolitischer Popper mit Lacoste-Shirt.
Wenn man kraß war und in sozialer Hinsicht wenig zu verlieren hatte, ging man in eine Burschenschaft und zum RCDS, das war aber weitgehend Klemmis und Neurotikern vorbehalten. Maximalst war man straight egde, aber diese Typen taten nur streng, waren in Wahrheit aber harmlos und unpolitisch.
Darum löste unser munteres Buch (einem Echo zur Selbstbewußten Nation gleich) ein beträchtliches Nachbeben aus. Hier erklärten sich äußerlich vollkommen normale Leute, fast durchgängig Studenten oder Studierte, für: rechts. Der Band, erschienen bei Ullstein unter der kurzen Ägide Rainer Zitelmanns (der damals nur Lektor war, heute Millionär ist) wurde rundum rezensiert, von den Leitmedien bis zur Titanic. Wir 89er gaben Interviews, wir wurden ins Fernsehen geladen.
Um zu beweisen, daß man über sich selbst lachen können muß, habe ich einen Videomitschnitt aus dem ZDF-Länderjournal unlängst meinen Kindern vorgeführt. Ich hatte ihnen erzählt, wie mich der Moderator damals (hinter den Kulissen) in den Arm nahm und tätschelte (#michauch): »Ihr erster Fernsehauftritt? Keine Sorge, wird total easy!«
Dann saß da die Mama im Studio, mit mächtigem Ohrgehänge, abenteuerlichen Stökkelschuhen, Haargeflecht und grellorangem Kleid, begleitet von Manuel Ochsenreiter, einem damals kaum erwachsenen, grundartigem Burschen, der einen Allgäuer Dialekt sprach. Der Moderator fuhr live gleich von null auf hundert: Wir seien rechtsradikal, antisemitisch und ausländerfeindlich. Dazu mögen wir doch bitte mal Stellung nehmen!
Ochsenreiter beharrte mit freundlichem Lächeln darauf, daß halt eine Moschee nicht in ein bayrisches Dorf passe, und ich betonte meinen literarischen Philosemitismus, brachte dann aber das Wort »Auschwitz« nicht über die Lippen: »Wir dürfen Auswitsch, äh, Auswitsch, verdammt! Aus…« usw. Du liebe Güte! Es war eben die eine Sache, in Schule, Familie und sozialem Umfeld »rechts« zu sein und das cool zu verteidigen – und eine andere, das »im Fernsehen« zu tun.
Unser Buch rangiert heute im Antiquariat deutlich über dem Originalpreis. Das ist bedeutsam, zumal politische Zeitgeistliteratur aus vergangenen Jahrzehnten allermeist zum Centwert zu haben ist. Keinem von jenen, die sich damals als Outlaw positionierten, stand ein Auffangnetz zur Verfügung. Niemand hätte zur Not als Referent, Beigeordneter oder Schreibkraft bei einer Partei andocken können, falls ihm aus dem inopportunen Aufsatz ein beruflicher Strick gedreht worden wäre. Und es wurden Stricke gedreht.
Waren wir Helden? Ach komm, nein. Wir waren kühner, romantischer, ganzheitlicher als die Leute von heute. Wir waren ein Anfang. Wir wollten noch spielen.