Zauberlehrlinge und Winkeladvokaten

von Siegfried Gerlich
PDF der Druckfassung aus Sezession 91/August 2019

In ihrem Buch Die Zau­ber­lehr­lin­ge erin­nern die Jour­na­lis­ten Maxi­mi­li­an Stein­beis und Ste­phan Det­jen an jenen ver­häng­nis­vol­len Tag, der »Deutsch­land ver­än­dert hat«, da an ihm die Spal­tung des Staats­vol­kes in zwei poten­ti­el­le Bür­ger­kriegs­par­tei­en ihren Anfang nahm.

Dabei haben die Autoren jedoch nicht den 4. Sep­tem­ber 2015 im Sinn, an dem die Bun­des­kanz­le­rin Ange­la Mer­kel Mas­sen von ille­gal ein­strö­men­den Zuwan­de­rern die deut­schen Gren­zen offen­hielt, son­dern den 10. Febru­ar 2016, an dem Horst See­ho­fer in Anbe­tracht einer ver­ste­tig­ten und wei­ter­hin unkon­trol­liert fort­lau­fen­den Mas­sen­zu­wan­de­rung die »Herr­schaft des Unrechts« anprangerte.

Damit näm­lich habe der Bun­des­in­nen­mi­nis­ter einen »Kampf um das Ver­ständ­nis von Staat, Recht und die inne­re Ver­fas­sung des Lan­des« eröff­net, der alle »Brü­cken zur Ver­stän­di­gung« abbre­chen und »Wege zu Kom­pro­mis­sen« zwi­schen Gut­men­schen und Wut­bür­gern ver­bau­en soll­te. Erst das Schlag­wort vom »Rechts­bruch« sei es gewe­sen, was die ledig­lich »von Sep­tem­ber 2015 bis zum März 2016« viru­len­te Flücht­lings­kri­se »auf Dau­er gestellt« habe.

Aller­dings habe See­ho­fer nur die lau­tes­te Stim­me, sei­ne Bot­schaft hin­ge­gen »vie­le Väter« gehabt. Ihnen allen, die gleich­sam den Geist aus der Fla­sche gelas­sen hät­ten, ist der Buch­ti­tel zuge­dacht, denn vor­sätz­lich oder fahr­läs­sig spül­ten sie nur »Was­ser auf die Müh­len der AfD und der natio­nal­po­pu­lis­ti­schen Rech­ten« und füg­ten so der »Herr­schaft des Rechts« alle­mal sel­ber Scha­den zu.

Die­sen poli­ti­schen Anwür­fen ver­lei­hen Stein­beis und Det­jen in ihrem Buch weni­ger mora­li­schen als viel­mehr juris­ti­schen Nach­druck, indem sie die The­se, die Bun­des­re­gie­rung habe mit der Grenz­öff­nung einen Rechts­bruch began­gen, mit der Anti­the­se zu parie­ren suchen, sie habe ledig­lich bereits offe­ne Gren­zen nicht geschlos­sen, weil gera­de die Grenz­schlie­ßung einen Rechts­bruch bedeu­tet hätte.

Im Unter­schied zu Huma­ni­ta­ris­ten, die Ange­la Mer­kel dafür loben, daß sie Gna­de vor Recht erge­hen ließ (und damit nur das strei­ti­ge Unrecht ein­räu­men), aber auch zu Skep­ti­kern, die in der Offen­hal­tung der Gren­zen eine nicht unbe­dingt zustim­mungs­wür­di­ge, aber zumin­dest recht­lich gedeck­te Ent­schei­dung sehen, wer­ben die Autoren für die Auf­fas­sung, es habe sich hier­bei um eine recht­lich gera­de­zu gebo­te­ne und somit alter­na­tiv­lo­se Ent­schei­dungs­ver­mei­dung gehandelt.

Ins­be­son­de­re gegen Robin Alex­an­der, der die Regie­ren­den als unver­ant­wort­lich tak­tie­ren­de und lavie­ren­de »Getrie­be­ne« vor­führ­te, die nicht zuletzt aus Angst vor »häß­li­chen Bil­dern« die bereits beschlos­se­ne Grenz­schlie­ßung umzu­set­zen sich nicht getraut hät­ten, bestehen Stein­beis und Det­jen auf deren bes­se­rer juris­ti­scher Ein­sicht. Nur fol­ge­rich­tig rügen sie die Bun­des­re­gie­rung ein­zig dafür, sich vor einer juris­ti­schen Recht­fer­ti­gung ihrer offe­nen Grenz­po­li­tik zu lan­ge »gedrückt« und durch sol­che »Lei­se­tre­te­rei« den »Mythos des Rechts­bruchs« noch genährt zu haben, obschon sie in gar kei­ner recht­li­chen Ver­le­gen­heit gewe­sen sei.

Aber bereits der Autoren eige­ne Schil­de­rung der ers­ten Kri­sen­kon­fe­renz in jenen chao­ti­schen Sep­tem­ber­ta­gen macht deut­lich, daß die Staats­füh­rung sich über die Rechts­la­ge voll­kom­men im Unkla­ren war: Wäh­rend der Chef der Bun­des­po­li­zei Die­ter Romann als bewähr­ter Ver­wal­tungs­ju­rist eine Schlie­ßung der Gren­ze als recht­mä­ßig befür­wor­te­te, um eine »Schub­um­kehr« der Migra­ti­ons­be­we­gung zu bewir­ken, hiel­ten dage­gen die Juris­ten des Aus­wär­ti­gen Amtes Zurück­wei­sun­gen an der Gren­ze für rechtswidrig.

Das Jus­tiz- und das Innen­mi­nis­te­ri­um wie­der­um gelang­ten erst, nach­dem die Ent­schei­dung zur Offen­hal­tung der Gren­ze längst gefal­len war, zu der »gemein­sa­men Rechts­auf­fas­sung«, daß eine Grenz­schlie­ßung durch­aus zuläs­sig gewe­sen wäre. Und die wei­ter­hin rat­los wir­ken­de Bun­des­re­gie­rung selbst soll­te in der Fol­ge gleich meh­re­re Recht­fer­ti­gungs­ver­su­che für ihren unab­än­der­li­chen Ent­schluß anbie­ten, wel­che indes­sen nicht alle Zeit­ge­nos­sen so gründ­lich zu über­zeu­gen ver­moch­ten wie die juris­tisch geschul­ten Autoren Stein­beis und Detjen.

Schon die unab­läs­sig wie­der­hol­te Behaup­tung, das Grund­recht auf Asyl ken­ne kei­ne Ober­gren­ze, konn­te kei­ne abso­lu­te Gel­tung bean­spru­chen, da das Asyl­recht wie jedes Leis­tungs­recht unter dem »Vor­be­halt des Mög­li­chen« steht. Das eigent­li­che Pro­blem aber, von dem die frag­li­che Ober­gren­ze nur abge­lenkt hat, bestand in der unge­klär­ten Fra­ge der völ­ker­recht­li­chen Zustän­dig­keit der Bun­des­re­pu­blik für Asyl­ge­su­che über­haupt, denn nach einer die aus dem »Asyl­kom­pro­miß« von 1992 her­vor­ge­gan­ge­nen »Dritt­staa­ten­re­ge­lung« betref­fen­den Ent­schei­dung des Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richts ist jeder »auf dem Land­weg in die Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land ein­rei­sen­de Aus­län­der« von der Beru­fung auf das Asyl­recht »aus­ge­schlos­sen«.

Um gleich­wohl eine deut­sche Für­sor­ge­pflicht rekla­mie­ren zu kön­nen, nahm die Bun­des­re­gie­rung sodann das »Selbst­ein­tritts­recht« gemäß Art. 17 der Dub­lin-III-Ver­ord­nung in Anspruch, obwohl die­ses nur auf aty­pi­sche Ein­zel­fäl­le bei geklär­ter Iden­ti­tät des Antrags­stel­lers, kei­nes­wegs aber auf Mas­sen von angeb­li­chen oder tat­säch­li­chen Syrern anwend­bar ist. In die­sen recht­li­chen Sack­gas­sen gelan­det, schlug die Bun­des­re­gie­rung schließ­lich den bis dahin juris­tisch unge­pflas­ter­ten Weg ein, ihre »Poli­tik der offe­nen Gren­zen« unter Beru­fung auf die unan­tast­ba­re »Wür­de des Men­schen« zu verteidigen.

Zwar läßt die­ses höchs­te ethi­sche Ach­tungs­ge­bot kaum kon­kre­te recht­li­che Nutz­an­wen­dun­gen zu, aber gera­de in sei­ner seman­ti­schen Unbe­stimmt­heit ver­führt es zu Grund­rechts­neu­schöp­fun­gen nach Lai­en­art. Als sich selbst das Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richt bei sei­ner Ent­schei­dung zur Anhe­bung der Sozi­al­leis­tun­gen für Flücht­lin­ge auf Hartz-IV-Niveau auf die­sen Art. 1 Abs. 1 GG berief, stell­te es damit jeden­falls klar, daß die »Men­schen­wür­de« nun­mehr auch für die obers­ten deut­schen Rich­ter zu einem Mäd­chen für alles gewor­den war.

Ins­ge­heim räu­men auch Stein­beis und Det­jen ein, daß die der­zei­ti­ge Asyl­rechts­la­ge sich ange­sichts eines immer undurch­dring­li­cher gewor­de­nen Para­gra­phen­di­ckichts kaum mehr ein­deu­tig klä­ren läßt. Sie glau­ben jedoch, die größ­ten juris­ti­schen Kon­fu­sio­nen auf Nor­men­kol­li­sio­nen zwi­schen dem deut­schen und dem euro­päi­schen Recht zurück­füh­ren und nach Maß­ga­be der Vor­rangsstel­lung des Uni­ons­rechts auf­lö­sen zu können.

Aller­dings han­delt es sich hier­bei um kei­nen »Gel­tungs­vor­rang«, son­dern um einen blo­ßen »Anwen­dungs­vor­rang«; und sobald sich die zuwei­len selbst­wi­der­sprüch­li­chen euro­päi­schen Rechts­nor­men als unan­wend­bar erwei­sen, fällt schwer ins Gewicht, daß die deut­schen Rechts­nor­men durch ihre Nicht­an­wen­dung kei­nes­wegs ungül­tig oder »nich­tig« gewor­den sind.

So wur­de das die Zustän­dig­keit der Erst­ein­rei­se­staa­ten für Asyl­ver­fah­ren fest­le­gen­de Dub­lin-III-Abkom­men durch die man­gel­haf­te Umset­zung des Schen­ge­ner Abkom­mens fak­tisch sabo­tiert, da die offe­nen Bin­nen­gren­zen eine Sekun­där­mi­gra­ti­on bis zum Letztein­rei­se­staat Deutsch­land beför­der­ten, dem sei­ner­seits Rück­schie­bun­gen wegen der in vie­len Erst­auf­nah­me­la­gern deso­la­ten Men­schen­rechts­la­ge ver­wehrt sind.

Und nach­dem »Dub­lin« und »Schen­gen« als Eck­stei­ne des euro­päi­schen Regel­werks gefal­len sind, wer­fen die Autoren selbst die Fra­ge auf, ob nicht »die Sub­stanz die­ses Rechts« im Zuge der Über­be­las­tung Deutsch­lands »pul­ve­ri­siert« wor­den sei. Dies bleibt indes­sen eine rein rhe­to­ri­sche Fra­ge, denn mit den von ihnen auf­ge­ru­fe­nen Rechts­wis­sen­schaft­lern Chris­toph Möl­lers und Dani­el Thym haben sich Stein­beis und Det­jen Gewährs­män­ner gesucht, die die­se Fra­ge migra­ti­ons­freund­lich ver­nei­nen, um gegen all jene Staats- und Ver­fas­sungs­recht­ler, die sich mit einer beja­hen­den Ant­wort zu Wort gemel­det haben, bes­ser gerüs­tet zu sein.

Zu den pro­mi­nen­te­ren zäh­len der ehe­ma­li­ge Prä­si­dent des Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richts Hans-Jür­gen Papier, der ange­sichts des »ekla­tan­ten Poli­tik­ver­sa­gens« in der Flücht­lings­kri­se die »Herr­schaft des Rechts« auf dem Spiel sah; sowie Udo Di Fabio, der als vor­ma­li­ger Rich­ter des Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richts anmahn­te, daß die »Staat­lich­keit als Vor­aus­set­zung der demo­kra­ti­schen Selbst­be­stim­mung des Vol­kes« nicht »ver­letzt oder gefähr­det wer­den« dürfe.

Zu den argu­men­ta­tiv gefähr­lichs­ten Staats­recht­lern gehört frei­lich Ulrich Vos­ger­au, der den von See­ho­fer bloß popu­la­ri­sier­ten Topos der »Herr­schaft des Unrechts« recht eigent­lich geprägt hat. In einem unter die­sem Titel ver­öf­fent­lich­ten Cice­ro-Arti­kel vom Herbst 2015 ging Vos­ger­au noch här­ter als die zuvor Genann­ten mit der offe­nen Grenz­po­li­tik der Bun­des­re­gie­rung ins Gericht, wobei er neben dem »staat­lich initi­ier­ten Rechts­bruch« auch die »Ver­än­de­rung des Rechts­ge­fühls« durch Poli­tik und Medi­en ins Spiel brachte.

Es ist bezeich­nend, daß Stein­beis und Det­jen den inter­es­san­tes­ten Teil ihrer Aus­ein­an­der­set­zung mit die­sem zumal euro­pa­recht­lich ver­sier­ten Juris­ten in die Fuß­no­ten ver­ban­nen und im Haupt­text vor­nehm­lich bio­gra­phi­sche Anek­do­ten zum bes­ten geben sowie üble Nach­re­de wei­ter­ver­brei­ten, um Vos­ger­au leich­ter als »exzen­tri­schen und ideo­lo­gisch über­dreh­ten Außen­sei­ter« erle­di­gen zu können.

Zum Mit­tel der per­sön­li­chen Ridi­küli­sie­rung grei­fen die der Über­zeu­gungs­kraft ihrer juris­ti­schen Argu­men­te offen­bar sel­ber nicht immer trau­en­den Autoren aber auch noch gegen ande­re kon­ser­va­ti­ve Staats­rechts­wis­sen­schaft­ler. Diet­rich Murs­wiek etwa, der sich über das »tota­le Staats­ver­sa­gen« in der Asyl­kri­se bestürzt gezeigt hat­te, wird schon wegen sei­nes nicht nur der Ver­fas­sung, son­dern auch dem Vater­land gel­ten­den Patrio­tis­mus als »Ein­zel­gän­ger und Son­der­ling« abge­stem­pelt; und sogar renom­mier­te Ver­tre­ter des Staats­rechts alter Schu­le wie Josef Isen­see und Otto Depen­heu­er wer­den dafür belä­chelt, die Grenz­öff­nung mit »fieb­rig glän­zen­den Augen« zum »Ernst­fall« empor­sti­li­siert zu haben.

Von einer »Infi­zie­rung der west­li­chen Demo­kra­tien mit einem laten­ten Aus­nah­me­zu­stand« hat­te letz­te­rer tat­säch­lich bereits nach den prä­ze­denz­lo­sen Ter­ror­an­schlä­gen vom 11. Sep­tem­ber gespro­chen, und damit war Depen­heu­er noch nicht ein­mal so weit gegan­gen wie Gior­gio Agam­ben, dem sich ange­sichts der Per­ma­nenz der ter­ro­ris­ti­schen Gefah­ren­la­ge »der Aus­nah­me­zu­stand in der Poli­tik der Gegen­wart immer mehr als das beherr­schen­de Para­dig­ma des Regie­rens« aufdrängte.

Wie rea­li­täts­blind Stein­beis und Det­jen sind, wenn sie die tra­di­ti­ons­rei­che deut­sche Staats­rechts­leh­re ins­ge­samt als eine »deut­sche Marot­te« abtun und ins­be­son­de­re den Topos des Aus­nah­me­zu­stands als ein obso­le­tes Stück deut­scher Schau­er­ro­man­tik ver­ab­schie­den, hät­te sie frei­lich schon ein Sei­ten­blick nach Frank­reich leh­ren kön­nen, das sich nach den Anschlä­gen in Paris vom 13. Novem­ber 2015 für zwei Jah­re offi­zi­ell im Aus­nah­me­zu­stand befand.

Aber auch in den seit­her nach Deutsch­land ein­ge­reis­ten isla­mi­schen Ter­ro­ris­ten wol­len die Autoren par­tout kei­ne poli­ti­schen »Fein­de«, son­dern ledig­lich gewöhn­li­che »Kri­mi­nel­le« sehen, obschon allein der Anschlag am Ber­li­ner Breit­scheid­platz in einem Augen­blick mehr Men­schen in den Tod beför­dert hat als der NSU in einem gan­zen Jahr­zehnt. Und voll­kom­men uner­wähnt las­sen sie, daß es auch unter den zivi­len Schutz­su­chen­den zuneh­mend sol­che gibt, vor denen Ein­hei­mi­sche ihrer­seits Schutz suchen müs­sen. Dabei hat gera­de die Ernüch­te­rung dar­über, wie wenig der Staat sei­ner Schutz­pflicht fak­tisch noch nach­kom­men kann, vie­le Bür­ger an ihrer Gehor­sams­pflicht zwei­feln lassen.

Zur Ehren­ret­tung jener viel­ge­schmäh­ten »besorg­ten Bür­ger«, die noch nicht ein­mal zivi­len Unge­hor­sam leis­ten muß­ten, um gleich­wohl die vol­le Wucht des »Kamp­fes gegen Rechts« zu spü­ren zu bekom­men, bie­tet sich eine nüch­ter­ne Gegen­über­stel­lung aus dem aktu­el­len »Lage­bild zur Kri­mi­na­li­tät im Kon­text von Zuwan­de­rung« des Bun­des­kri­mi­nal­amts an: 2018 fie­len ins­ge­samt 8455 Zuwan­de­rer einer von (min­des­tens) einem Deut­schen began­ge­nen Straf­tat zum Opfer, aber 46 336 Deut­sche wur­den in die­sem Jahr zum Opfer einer von (min­des­tens) einem Zuwan­de­rer ver­üb­ten Straftat.

Dabei wur­de ein ein­zi­ger Zuwan­de­rer zum Opfer eines von einem Deut­schen voll­ende­ten Tötungs­de­likts, wohin­ge­gen 102 Deut­sche von Zuwan­de­rern gewalt­sam zu Tode gebracht wur­den. Und bei Sexu­al­straf­ta­ten ste­hen den 89 Zuwan­de­rern, die zum Opfer von deut­schen Tätern wur­den, 3261 Deut­sche gegen­über, die Zuwan­de­rern zum Opfer fie­len. Den Rea­li­täts­schock, der von die­sen Zah­len aus­ge­hen kann, wol­len Stein­beis und Det­jen dem Leser frei­lich nicht zumu­ten; sie sor­gen sich lie­ber um das »Recht« der Bun­des­re­gie­rung, die­se von ihnen vor­nehm aus­ge­blen­de­ten Rea­li­tä­ten her­auf­be­schwo­ren und unbe­wäl­tigt gelas­sen zu haben.

Dabei hal­ten sich die Autoren metho­disch an den vor­herr­schen­den Rechts­po­si­ti­vis­mus, dem Carl Schmitt bekannt­lich eine »nor­ma­ti­vis­ti­sche Beschlag­nah­me des Rechts­be­griffs« zum Vor­wurf mach­te: die Redu­zie­rung von Recht auf Gesetz sowie die Dis­pen­sie­rung der Poli­tik von allen Gestal­tungs­auf­ga­ben, die über blo­ße Nor­men­an­wen­dung hin­aus­ge­hen. Nicht umsonst legen die Autoren größ­ten Wert dar­auf, daß die Bun­des­kanz­le­rin mit der Offen­hal­tung der Gren­ze nur der Geset­zes­la­ge ent­spro­chen und kei­ne eigent­lich poli­ti­sche Ent­schei­dung getrof­fen habe.

Wie wenig ein sol­ches posi­ti­vis­tisch hal­bier­tes Rechts­den­ken der Rede von der »Herr­schaft des Unrechts« bei­kommt, gab aller­dings See­ho­fer selbst zu ver­ste­hen, als er auf eine jour­na­lis­ti­sche Nach­fra­ge, wor­in der von ihm behaup­te­te »Rechts­bruch« denn genau bestan­den habe, nicht umständ­lich aus dem von ihm in Auf­trag gege­be­nen Rechts­gut­ach­ten Udo Di Fabi­os zitier­te, son­dern schlicht und ein­fach zur Ant­wort gab: »Kon­troll­ver­lust«.

Stein­beis und Det­jen aber, die die­sen sehen­den Auges zuge­las­se­nen Kon­troll­ver­lust als »rech­tens« aus­zu­wei­sen suchen, legen damit eine »Ver­fas­sungs­in­tro­ver­tiert­heit« an den Tag, vor der Ernst Forst­hoff schon früh­zei­tig warn­te, und die nach Depen­heu­er längst in einen staats­po­li­tisch desas­trö­sen »Ver­fas­sungsau­tis­mus« umge­schla­gen ist. Den Nie­de­run­gen der Erde und ihres Nomos abge­wandt, hal­ten es die nur in den höchs­ten Sphä­ren resi­die­ren­den Rechts­nor­ma­ti­vis­ten noch immer mit dem klas­si­schen Spruch: »Fiat ius­ti­tia, pere­at mundus.«

Die abseh­bar irrever­si­blen demo­gra­phi­schen Aus­wir­kun­gen die­ser im Namen der »Men­schen­wür­de« begrüß­ten Mas­sen­zu­wan­de­rung soll­ten wie­der­um Josef Isen­see dazu ver­an­las­sen, die­sen alten Spruch iro­nisch zu aktua­li­sie­ren: »Fiat digni­tas, pere­at popu­lus.« Schließ­lich wür­de selbst eine »ver­fas­sungs­pa­trio­ti­sche Stim­me im Chor der Will­kom­mens­kul­tur« heu­te ver­mel­den, »das deut­sche Volk kön­ne getrost in der Migra­ti­ons­flut ertrin­ken, wenn nur die Demo­kra­tie des Grund­ge­set­zes überlebe«.

Hier spit­zen Stein­beis und Det­jen ungläu­big ihre Ohren, denn von einem eta­tis­ti­schen Rechts­phi­lo­so­phen wie Isen­see hät­ten sie sol­che volks­kon­ser­va­ti­ven Töne gewiß nicht erwar­tet. Ihre Erwi­de­rung aber, daß das Grund­ge­setz nir­gends auf eine »natür­li­che, eth­nisch-kul­tu­rel­le Volks­zu­ge­hö­rig­keit« ver­wei­se, wider­le­gen sie sel­ber mit dem bei­läu­fi­gen Hin­weis auf Art. 116, wel­cher den ost­deut­schen »Flücht­lin­gen und Ver­trie­be­nen« aus­drück­lich ihre »deut­sche Volks­zu­ge­hö­rig­keit« bescheinigt.

In der Tat bestimm­te der 1948 mit der Schaf­fung des Grund­ge­set­zes beauf­trag­te Par­la­men­ta­ri­sche Rat nicht die »deut­schen Län­der« und kei­ne »west­deut­sche Nati­on«, son­dern das »gesam­te deut­sche Volk« zur »ver­fas­sungs­ge­ben­den Gewalt«. Und sofern das in der Prä­am­bel des Grund­ge­set­zes sogar groß­ge­schrie­be­ne »Deut­sche Volk« als rechts­iden­tisch mit dem Staats­volk des völ­ker­recht­lich fort­be­stehen­den Deut­schen Rei­ches auf­ge­faßt wur­de, blieb das nach Maß­ga­be eines eth­no­gra­phi­schen Volks­be­griffs defi­nier­te Reichs- und Staats­an­ge­hö­rig­keits­ge­setz von 1913 auch in der Bun­des­re­pu­blik in Geltung.

Vor allem aber bedeu­te­te das Grund­ge­setz eine kla­re Ent­schei­dung für einen Natio­nal­staat, mit dem eine eth­nisch grun­dier­te, aber nicht zu einer blo­ßen Eth­nie natu­ra­li­sier­te, son­dern maß­geb­lich durch Spra­che, Kul­tur und Geschich­te gepräg­te Nati­on sich wie­der eine poli­ti­sche Exis­tenz­form gab. In die­sem Sin­ne ent­schied das Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richt in sei­nem Teso-Urteil vom 21. Okto­ber 1987, daß es »die ver­fas­sungs­recht­li­che Pflicht« der Staats­or­ga­ne der Bun­des­re­pu­blik sei, »die Iden­ti­tät des deut­schen Staats­vol­kes« sowie »die Ein­heit des deut­schen Vol­kes als des Trä­gers des völ­ker­recht­li­chen Selbst­be­stim­mungs­rechts nach Mög­lich­keit zukunfts­ge­rich­tet auf Dau­er zu bewahren«.

Anders als Stein­beis und Det­jen mei­nen, hat sich die­se noch in der Nach­kriegs­la­ge der deut­schen Tei­lung for­mu­lier­te Ver­pflich­tung mit der deut­schen Wie­der­ver­ei­ni­gung aber kei­nes­wegs erle­digt, denn ange­sichts der pre­kä­ren Lage, in wel­che Deutsch­land im Zuge der euro­päi­schen Inte­gra­ti­on und einer auch außer­eu­ro­päi­schen Immi­gra­ti­on gera­ten ist, hat der Staat sei­ne »ver­fas­sungs­recht­li­che Pflicht« zur Ein­heits- und Iden­ti­täts­si­che­rung nun­mehr in der Wei­se zu erfül­len, daß er einer mul­ti­kul­tu­rel­len Iden­ti­täts­dif­fu­si­on des Staats­vol­kes und des­sen eth­no­plu­ra­lis­ti­scher Des­in­te­gra­ti­on in tri­ba­lis­ti­sche Volks­grup­pen ent­schie­den entgegenwirkt.

Tri­ba­lis­ti­sche Züge trü­ge aller­dings auch ein rein eth­ni­zis­ti­scher Volks­staat, des­sen Idee das Karls­ru­her NPD-Urteil vom 17. Janu­ar 2017 für ver­fas­sungs­wid­rig erklärt hat. In der merk­wür­dig zwei­deu­ti­gen Urteils­be­grün­dung heißt es aber nicht nur, daß das Grund­ge­setz einen »aus­schließ­lich« an eth­ni­schen Kate­go­rien ori­en­tier­ten Begriff des Vol­kes nicht ken­ne und dar­um der Gesetz­ge­ber bei sei­ner Kon­zep­ti­on des Staats­an­ge­hö­rig­keits­rechts nicht »streng« an den Abstam­mungs­grund­satz gebun­den sei; es fin­det sich hier auch die weit dar­über hin­aus­ge­hen­de Beleh­rung, das älte­re Teso-Urteil bedeu­te nicht, daß sich der Volks­be­griff des Grund­ge­set­zes »vor allem oder auch nur über­wie­gend« nach eth­ni­schen Zuord­nun­gen richte.

Nicht von unge­fähr hat Thor v. Wald­stein die­se Ent­schei­dung als einen »Ver­fas­sungs­damm­bruch« beur­teilt, der in sei­ner Fata­li­tät der »Grenz­auf­lö­sung« vom 4. Sep­tem­ber 2015 kaum nach­ste­he. Weni­ger ver­zwei­felt zeig­te sich Murs­wiek, der schon wegen des grund­ge­setz­lich garan­tier­ten Kom­pe­tenz­vor­rangs der ver­fas­sungs­ge­ben­den Gewalt vor dem Ver­fas­sungs­recht die Bun­des­re­gie­rung für »nicht berech­tigt« hält, »die Iden­ti­tät des Vol­kes, das sie reprä­sen­tiert und des­sen Wohl zu wah­ren sie geschwo­ren hat, ein­wan­de­rungs­po­li­tisch aufzulösen«.

Und nach Vos­ger­au steht einer sol­chen migra­ti­ons­po­li­ti­schen Auf­lö­sung des deut­schen Natio­nal­staa­tes in einen Viel­völ­ker­staat nicht zuletzt das Lis­sa­bon-Urteil des Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richts vom 30. Juni 2009 ent­ge­gen, dem­zu­fol­ge »eine sol­che Ver­fas­sungs­neu­schaf­fung nur durch eine Volks­ab­stim­mung zustan­de­kom­men« kön­ne. Umso eif­ri­ger arbei­ten sich Stein­beis und Det­jen dar­an ab, die »ver­fas­sungs­ge­ben­de Gewalt« juris­tisch zu eska­mo­tie­ren und zu einem »Mythos« für »Dich­ter und Erzäh­ler« zu fiktionalisieren.

Ist der demo­kra­ti­sche Sou­ve­rän als letz­te Appel­la­ti­ons­in­stanz erst ein­mal aus­ge­schal­tet, las­sen sich die deut­schen Grund­rech­te leich­ter zu euro­päi­schen Wer­ten oder uni­ver­sa­len Men­schen­rech­ten umin­ter­pre­tie­ren und zugleich die staat­li­chen Gel­tungs­vor­aus­set­zun­gen des Grund­ge­set­zes selbst kas­sie­ren. Unter genüß­li­cher Beru­fung auf Andre­as Voß­kuh­le, den amtie­ren­den Prä­si­den­ten des Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richts, ver­wei­sen die Autoren die his­to­risch­kon­kre­te Leh­re des aus Staats­volk, Staats­ge­walt und Staats­ge­biet bestehen­den Natio­nal­staa­tes zurück ins 19. Jahr­hun­dert, um die uni­ver­sa­lis­tisch-abs­trak­te Idee des Staats­ver­tra­ges an des­sen Stel­le zu set­zen, die wie­der­um aus dem 18. Jahr­hun­dert stammt.

Wer danach zum »Volk« gehö­re, ent­schei­de »nicht die Natur, nicht die Kul­tur und nicht die Tra­di­ti­on, son­dern ein­zig die Ver­ant­wor­tung des Demos für sich selbst«. Und da auch das Volk der Bun­des­re­pu­blik allein »mit der Bin­dung an uni­ver­sel­le Men­schen­rech­te« über sich selbst bestim­me, hal­ten die Autoren die »Abgren­zung von Nicht­zu­ge­hö­ri­gen«, die ihre pri­mä­re Bin­dung an Land und Leu­te nicht auf­ge­ben wol­len, für demo­kra­tisch geboten.

Sol­che Mora­li­sie­rung des Poli­ti­schen kann wohl Volks­fein­de erschaf­fen, aber erst die Juri­di­fi­zie­rung der Poli­tik erlaubt es, das demo­kra­ti­sche Volk selbst zum Ver­fas­sungs­feind eines nomo­kra­ti­schen Staa­tes zu erklä­ren. Daß damit »nicht etwa die Poli­tik juri­di­fi­ziert, son­dern die Jus­tiz poli­ti­siert« wer­de, hat­te aller­dings schon Carl Schmitt angemerkt.

Und wirk­lich nimmt sich der gegen­wär­ti­ge poli­ti­sche Kampf gegen den Popu­lis­mus nicht zuletzt dank sei­ner juris­ti­schen Ver­schär­fung wie eine far­cen­haf­te Wie­der­kehr der Met­ter­nich­schen Dem­ago­gen­ver­fol­gun­gen aus. Wäh­rend aber das dama­li­ge Anci­en régime wenigs­tens für eine gewis­se Zeit eine alt­eu­ro­päi­sche Ord­nung zu sta­bi­li­sie­ren ver­moch­te, gerät die vor der Zeit geal­ter­te Euro­päi­sche Uni­on nur immer mehr aus den Fugen.

In ihrem Bemü­hen, sie zumin­dest juris­tisch wie­der ein­zu­ren­ken, kamen Stein­beis und Det­jen frei­lich nicht umhin, die Rol­le des »Zau­ber­lehr­lings« gran­di­os fehl­zu­be­set­zen. In Goe­thes klas­si­scher Bal­la­de heißt es: »Die ich rief, die Geis­ter werd ich nun nicht los.« In neu­deut­scher Pro­sa klingt das so: »Ist mir egal, ob ich schuld am Zustrom der Flücht­lin­ge bin, nun sind sie halt da.«

Indem die Autoren die­ser Gleich­gül­tig­keit kaum den Anschein von Huma­ni­tät, wohl aber den Schein des Rechts ver­lei­hen wol­len, bezie­hen sie im übri­gen nicht nur zur Flücht­lings­kri­se, son­dern zur Legi­ti­ma­ti­ons­kri­se deut­scher und euro­päi­scher Staat­lich­keit über­haupt Stel­lung. In der Bun­des­re­pu­blik nahm Ernst-Wolf­gang Böcken­för­de bereits vor der Jahr­hun­dert­wen­de einen »glei­ten­den Über­gang vom par­la­men­ta­ri­schen Gesetz­ge­bungs­staat zum ver­fas­sungs­ge­richt­li­chen Juris­dik­ti­ons­staat« wahr, der auf Kos­ten von Demo­kra­tie und Gewal­ten­tei­lung zu einem »Durch­bruch des Pri­mats des Rechts gegen­über der Poli­tik« füh­ren werde.

Für den jün­ge­ren Staats­recht­ler Chris­ti­an Hill­gru­ber aber hat sich die­ses »gou­ver­ne­ment des juges« im Zuge der Euro­päi­sie­rung des Rechts längst »ubi­qui­tär« aus­ge­brei­tet. Stein­beis und Det­jen jeden­falls begrü­ßen die­se Ent­wick­lung, wes­halb sie über das klei­ne »Karls­ru­her Kon­troll­häus­chen« nur noch müde lächeln können.

In dem gro­ßen Haus Euro­pa mit sei­nen drei höchs­ten Gerichts­hö­fen kann sich eine post­de­mo­kra­ti­sche Jus­tiz­staat­lich­keit näm­lich weit effek­ti­ver ent­fal­ten und bei­na­he wie eine ver­fas­sungs­ge­ben­de Gewalt »von oben« wir­ken. In der letz­ten, dys­to­pi­schen Kon­se­quenz wür­de der deut­sche Natio­nal­staat zur Vasal­len­ein­heit eines euro­päi­schen Zen­tral­staa­tes ver­küm­mern und die depoten­zier­te Demo­kra­tie in einer sou­ve­rä­nen Nomo­kra­tie auf­ge­hen, in der dann wuseln­de Win­kel­ad­vo­ka­ten ihre kaf­ka­es­ken Pro­zes­se füh­ren und heroi­sche Him­mels­bü­ro­kra­ten per­emp­to­ri­sche Urtei­le fällen.

Aber nur über­spann­te Ver­schwö­rungs­theo­re­ti­ker kämen wohl auf die Idee, es könn­te man­chem, der wei­ter­hin treu­her­zig auf die Prä­am­bel des Grund­ge­set­zes pocht, schon bald so erge­hen wie Josef K., der, ohne daß er etwas Böses getan hät­te, eines Mor­gens ver­haf­tet wurde.

Nichts schreibt sich
von allein!

Das Blog der Zeitschrift Sezession ist die wichtigste rechtsintellektuelle Stimme im Netz. Es lebt vom Fleiß, von der Lesewut und von der Sprachkraft seiner Autoren. Wenn Sie diesen Federn Zeit und Ruhe verschaffen möchten, können Sie das mit einem Betrag Ihrer Wahl tun.

Sezession
DE58 8005 3762 1894 1405 98
NOLADE21HAL

Kommentare (0)