Auch bei mißtrauischem Blick auf die Szene nicht nur der Bundesrepublik, sondern der westlichen Welt überhaupt, kann man ernsthafte Anzeichen einer konservativen Besinnung kaum übersehen.
Wenn angesichts der Gefahr einer Ökokatastrophe und der Lehren von zwei Jahrhunderten Revolution nicht mehr die progressive Entfesselung der industriellen Produktivkräfte, die stetige Steigerung des Lebensstandards und die Verwirklichung einer sozialen Utopia zeitgemäß sind, sondern die Verhütung des Weltunterganges, die Bewahrung der Natur und die umsichtige Verwaltung der immer knapper werdenden Bestände, dann ist schwer einzusehen, wie diese von den »Grenzen des Wachstums« uns auferlegten Notwendigkeiten durch eine progressistisch-emanzipatorische Theorie und Praxis bewältigt werden könnten.
Dazu bedarf es vielmehr einer Ehrenrettung und Erneuerung von Grundsätzen, Einsichten und Tugenden, die man in einem sehr bestimmten Sinn für konservativ erklären kann. Die seit dem Zeitalter der Aufklärung entstandenen linken Ideologien – vom klassischen Liberalismus bis zum Marxismus – waren durchweg davon ausgegangen, daß sich durch zunehmende Gütererzeugung unweigerlich auch die Lebensqualität verbessere und daß das Ziel der Menschheit in ununterbrochen fortschreitender Industrialisierung, Technisierung, Urbanisierung, Homogenisierung und Ausbeutung der Natur bestehe.
Wer das bezweifelt (und die Zahl der Zweifler wächst von Jahr zu Jahr), der kann sich in einem geistespolitischen Sinne schwerlich als »links« oder »progressiv« einordnen. Denn er stellt mit diesem Zweifel die gesamte progressistische Philosophie der letzten zwei Jahrhunderte in Frage, um sich, wenngleich bisweilen unbewußt, Prinzipien und Ideen zu nähern, denen von jeher konservative Kritiker sowohl des Kapitalismus als auch des Sozialismus gehuldigt haben.
Er wird schließlich den Verdacht hegen, daß die großen Aufgaben des zu Ende gehenden 20. Jahrhunderts nur von einem konservativen Ansatz her zu bewältigen sind. Konservatismus war zu keiner Zeit ein in dem Maße systematisch geklärter Begriff wie seine Gegenspieler auf der linken Seite, also Liberalismus, Sozialismus, Anarchismus etc. Die Besinnung auf die Etymologie des vom lateinischen conservare (bewahren) kommenden Wortes hilft nicht viel, denn jedermann, auch der Anarchist, will irgend etwas bewahren.
Es gibt keine politische Richtung, einschließlich der revolutionärsten, die nicht irgendeine primäre Bejahung, ein bestimmtes Bewahrenwollen voraussetzt. Insofern hat alles politische Denken zumindest auch konservative Elemente, wie Ernst Nolte und Martin Puder etwa für den Marxismus nachgewiesen haben. Es gibt aber auch niemanden, der alles, genauso wie es ist, bewahren will. Auch der konservativste Mensch ist mit der Wirklichkeit, dem Status quo, nicht völlig einverstanden, auch er will durchaus vieles verändern.
Wäre die konservative Denkweise und Lebenshaltung nur eine graduelle Angelegenheit, dann lohnte es sich kaum, sie ausführlicher darzustellen. Sie wäre dann einfach das Negativ der »Linken«. Doch in Wirklichkeit ist Konservatismus mehr als eine Sache des Grades. Er hat seine eigenen Grundmotive, Gehalte und Thesen, aus denen allein er verstanden werden kann. Er bedeutet eine unverwechselbare geistige Attitüde zu Welt und Leben, die sich vielleicht in sieben Grundannahmen zusammenfassen läßt.
Erstens: Menschen sind begrenzte, ungleiche, endliche und deshalb auf Disziplin und Bindung angewiesene Wesen.
Der Konservative ist – aus welchen Gründen immer, aus angeborener Skepsis, aus Erfahrung oder aus schmerzlicher Ernüchterung – nicht davon überzeugt, daß der Mensch ein von Natur aus gutes, nur durch außer ihm liegende Umstände verdorbenes Wesen sei. Er glaubt, daß der Mensch nicht ohne äußere Ordnungen, die stets auch ein gewisses Ausmaß an Zwang und Repression mit sich bringen, jene Gerechtigkeit und Freiheit erreichen und bewahren könne, die die Linke als gesellschaftlichen Endzustand verkündet.
Die Linke jeder Spielart – von den Liberalen über die Sozialisten bis zu den Anarchisten – hält den Menschen für von Natur aus gut. Der Mensch ist für sie vielleicht noch nicht erzogen, doch immerhin zum Guten erziehbar. Der Konservative hingegen hält den Menschen wenn schon nicht für erbsündig, so doch für erbschuldig. Seine Anthropologie kann sich nicht nur auf Arnold Gehlen und Konrad Lorenz stützen, und sie ist auch nicht als säkularisierter Ableger einer einseitigen Erbsündenlehre abzutun.
Es lassen sich für sie durchaus außerchristliche Belege finden. »In der Regel tun die Menschen einander Unrecht, wann immer sie Macht dazu haben«, heißt es schon bei Aristoteles. »Viel des Furchtbaren gibt es, doch nichts ist furchtbarer als der Mensch«, beginnt eine Chorstrophe in der sophokleischen »Antigone«, welche Aussage der chassidische Baalschem auf seine Weise dahin abkürzt: »Der Mensch ist furchtbar.«
Und Pestalozzi, der alles andere als ein Misanthrop war, liefert dazu die nähere Begründung: »Der Mensch … ist von Natur, wenn er, sich selbst überlassen, wild aufwächst, träg, unwissend, unvorsichtig, unbedachtsam, leichtsinnig, leichtgläubig, furchtsam und ohne Grenzen gierig und wird dann noch durch die Gefahren, die seiner Schwäche, und die Hindernisse, die seiner Gierigkeit aufstoßen, krumm, verschlagen, heimtükkisch, mißtrauisch, gewaltsam, verwegen, rachgierig und grausam.
Das ist der Mensch, wie er von Natur, wenn er, sich selbst überlassen, wild aufwächst, werden muß; er raubt, wie er ißt, und mordet, wie er schläft. Das Recht seiner Natur ist sein Bedürfnis, der Grund seines Rechts ist sein Gelüst, die Grenze seiner Ansprüche sind seine Trägheit und die Unmöglichkeit, weiter zu gelangen. In diesem Grad ist es wahr, daß der Mensch, so wie er von Natur ist und wie er, wenn er, sich selbst überlassen, wild aufwächst, seiner Natur nach notwendig werden muß, der Gesellschaft nicht nur nichts nützt, sondern ihr im höchsten Grad gefährlich und unerträglich ist.«1
So ist, fürwahr, der Mensch beschaffen. Er ist der geborene Wilde. Er bedarf der ihn disziplinierenden Gegenkräfte, die man nach der mehr subjektiven Seite Erzieher, nach der mehr objektiven Gehäuse nennen kann. Er kann nicht Mensch im Vollsinn werden, wenn er sich selbst, seiner ursprünglichen Wildheit, seinem stets lauernden Drang zum Ungeheuren überlassen bleibt.
Zweitens: Menschen sind angewiesen auf Einsichten und Orientierungen, die sie weder aus dem angeborenen Instinktvorrat noch durch rationales Kalkül und subjektive Erfahrung gewinnen können. Das Arsenal dieser Einsichten und Orientierungen ist die Überlieferung, die durch die Geschichte sich hindurch haltende Tradition.
Der Konservative verteidigt das Menschenrecht auf Vergangenheit. Eine erinnerungslose Freiheit ist leer.2 Der Mensch kann nicht ohne Erinnerung menschlich sein. Er bedarf der Überlieferung. Seine Identität und Integrität findet er durch die Einwurzelung in geschichtlich tradierte Bestände, durch die Annahme einer »Geschichte«, der er seine Loyalität entgegenbringt. Tradition ist eine kunstvolle Ausdehnung und Vertiefung unseres Gedächtnisses, eine überbiologische Weise von Fortpflanzung und Vererbung.
»Wie weniges haben und sind wir«, sagte Goethe, »was wir im reinsten Sinne unser Eigentum nennen! Wir müssen alle empfangen und lernen, sowohl von denen, die vor uns waren, als von denen, die mit uns sind. Selbst das größte Genie würde nicht weit kommen, wenn es alles seinem eigenen Innern verdanken wollte.«
Und Gilbert Keith Chesterton fügt dieser Einsicht ganz im Sinne Burkes hinzu: »Tradition bedeutet, der tiefsten und verkanntesten aller Klassen, unseren Vorfahren, Stimmrecht einzuräumen. Sie bedeutet Demokratie für die Toten. Tradition lehnt es ab, der anmaßenden Oligarchie der zufällig heute Herumlaufenden das Feld allein zu überlassen.«
So dachten auch Görres, Savigny, Jacob Grimm, Bachofen und in unserem Jahrhundert Whitehead. Denken so bloße Romantiker und Traditionalisten, von Haus aus Unmündige, Zurückgebliebene oder starrsinnige Emanzipationsverweigerer, die zäh an verjährten Vorstellungen hängen? Sehr leicht stellt sich in diesem Zusammenhang das Wort von den »Ewig Gestrigen« ein, das Schiller nicht ohne Anzüglichkeit einem Manne in den Mund legt, der damit die Treue gegen den Kaiser vor sich selbst verächtlich machen will … Disraeli, der genialste konservative Praktiker, warnte vor der Zerstörung der überlieferten Substanz und prophezeite eine Rache der »erzürnten Tradition«.
Tradition aber, so können wir ergänzen, ist nur institutionell zu garantieren. Nur Institutionen vermögen das Kapital an Einsichten, Erfahrungen und Lebensregeln zu repräsentieren, das jedes Zeitalter für das nachkommende treuhänderisch verwalten muß. Sie stehen für das Urfaktum fundamentaler Autorität; in ihnen verkörpern sich, nach einem Wort von Whitehead, die durchgängigen Züge unserer Erfahrung.
Drittens: Erst in den großen Institutionen finden die Menschen vor sich selbst Schutz; nur in ihnen gewinnen sie überhaupt erst Gestalt, Standort und Handlungsspielraum.
Der Konservative ist Institutionalist. Institutionen sind, wie Gehlen gegenüber Adorno betonte, »Bändigungen der Verfallsbereitschaft des Menschen«, soziale Artefakte und Formen, die von uns asketische Akte der Selbstzucht, der Einschränkung und Unterwerfung erheischen. Institutionen sind jene stabilisierenden Stützen und Formen, mittels derer ein seiner Natur nach riskiertes, extrem korrumpierbares, zum Verfall bereites, unstabiles, affektüberlastetes und an instinktiven Regulierungsmechanismen armes Wesen sich gleichsam von außen her versteht, hochhält und hochschwingt, um sich selbst und seinesgleichen überhaupt erst erträglich, zu einem kultivierten Wesen zu machen.
In den Institutionen kosmisiert sich der Mensch, bändigt er seine erste »wilde« Natur. Die Institutionen – Recht, Eigentum, Familie, Kult, Staat und so weiter – sind die Gehäuse des Menschen. In ihnen findet er Schutz und Geborgenheit, seinen Ort und Status in der Gesellschaft. Sie verkörpern ihm gegenüber jedoch auch das Realitätsprinzip; sie bedeuten Grenze, Verpflichtung und Zwang. Institutionen sind Artefakte, sie sind »künstliche« Einrichtungen, wie die wörtliche Übersetzung des lateinischen Wortes lautet. In ihnen richtet der Mensch sich auf dieser Welt ein, an ihnen richtet er sein Leben aus.
Wo progressive Geister bloß das Abschneiden alter Zöpfe oder menschenfreundliche Reformen sehen wollen, neigt deshalb der Konservative eher dazu, einen Schwund an menschlicher Substanz, ein Verschleudern kulturellen Erbes, ein Niederreißen von schützenden und stützenden Schranken wahrzunehmen. Dann wird der Mensch, so fürchtet er, schnell primitivisiert, zurückgeschleudert in die chaotische »Natürlichkeit« seiner unsicher gewordenen Antriebe. Das ist, um es in einem mythologischen Bilde zu sagen, der apollinische Wesenszug des Konservativen.
Er bejaht die überlieferten Institutionen nicht, weil sie alt, sondern weil sie Ordnungen sind. Er bejaht die überlieferten Institutionen nicht aus einer nostalgie du passé heraus, sondern weil sie Formen sind, die »das Leben ordnen, ausrichten und grammatikalisieren.« Er bejaht die überlieferten Institutionen nicht, weil er sie für »natürlich« hält, sondern weil sie soziale Kunstwerke sind und weil, wie Burke in einer genialen Maxime sagt, »art is man’s nature«.
Ist der Konservative, der als Institutionalist ein gewisses Ausmaß an Entfremdung sowie den Primat der großen sozialen und politischen Formen vor dem Bedürfnis nach Emanzipation bejaht, deshalb ein bornierter Reaktionär, der sich gegen jeden Wandel mit Ingrimm sträubt und den jeweiligen Status quo unverändert erhalten will?
Ist er notwendig ein Apologet der Oberklasse, die, wie Max Scheler behauptet,4 dankbar und ehrfürchtig auf die Vergangenheit, die gute alte Zeit, dagegen angstvoll und trübsinnig in die Zukunft zu blicken pflegt? Kaum ein Vorurteil ist so verbreitet wie jenes, daß Konservatismus und Wandel sich ausschließen, daß der Konservative grundsätzlich entwicklungsfeindlich sei und, wie von Metternich berichtet wird, über gesellschaftliche Veränderungen hinaus sogar noch jeden Jahreswechsel instinktiv verabscheue.
Wie wenig diese Unterstellung der konservativen Denkweise gerecht wird, beweist schon ein flüchtiges Studium einiger konservativer Klassiker. Burke sagte zwar maliziös: »Der Geist der Neuerungen ist gewöhnlich das Attribut kleiner Charaktere und eingeschränkter Köpfe. Leute, die hinter sich auf ihre Vorfahren blicken, werden auch nie vor sich auf ihre Nachkommen sehen.«
Doch unmittelbar darauf rühmt er gerade an der englischen Nation ihr Verständnis dafür, »that the idea of inheritance furnishes a sure principle of conservation, and a sure principle of transmission; without at all excluding a principle of improvement« – »daß die Idee der Erblichkeit – wir können auch sagen: der Überlieferung – ein sicheres Prinzip der Erhaltung und auch der Weitergabe bietet, ohne im geringsten ein Prinzip der Verbesserung auszuschließen.«5
Von Disraeli stammt das Wort: »Assist progress, resist revolution.« Und eben weil er sich, wie Burke, bewußt war, daß die Institutionen geschichtliche Schöpfungen menschlicher Praxis sind (»A nation is a work of art and a work of time«), sah er auch keinen Grund, weshalb die Entwicklung bei den momentan bestehenden sozialen Gebilden stehenbleiben sollte.
Disraeli hat daraus auch als Staatsmann die praktischen Konsequenzen gezogen, indem er die englischen Konservativen zu einer Partei aktiver Sozialreform umwandelte, die vor radikalen Umgestaltungen nicht zurückgeschreckt und im Zeichen der »Tory Democracy« auch große Teile der Arbeiterschaft für sich zu gewinnen vermochte.6 Deshalb lautet ein weiteres konservatives Prinzip:
Viertens: Die Welt, soweit wir sie kennen, befindet sich in ständigem Wandel, und Ordnung ist in einem solchen evolutiven Universum nur möglich als Prozeß, als fluktuierende Ordnung.
»Bei einem Fluß ist es nicht möglich, zweimal hineinzusteigen in denselben – auch nicht ein sterbliches Wesen zweimal zu berühren und zu fassen im gleichen Zustand – es zerfließt und wieder strömt es zusammen und kommt her und geht fort.« Dieses Wort stammt von Heraklit, dem ersten Konservativen unter den Philosophen. Das Universum ist flüssig und flüchtig, das Leben eine Reihe von Überraschungen, und Dauer nur ein relativer Begriff.
Stabilität ist nicht Stillstand. Was so aussieht, ist nur die Atempause eines Augenblickes, die temporäre Plattform einer zur Reife gediehenen Lebensgestalt. So wie unsere Stimmungen beständig wechseln, gibt es auch in der Weltgeschichte kein Gleichgewicht. Wir türmen mühsam Stein um Stein aufeinander und wissen doch, daß wir am Ende hinab müssen, daß kein Stein auf dem anderen bleibt, daß Statik gleichbedeutend wäre mit dem Ende der Evolution, daß Ungleichgewicht, Unabgeschlossenheit, Vorläufigkeit zu den bestimmenden Kennzeichen alles Lebens gehören.
Das scheinbar stabile Universum zerbröckelt unter unseren Füßen, unaufhaltsam zerstreut sich die Energie, die Quellen der natürlichen Prozesse werden schwächer, und sogar die Materie löst sich auf. Zugleich aber spüren wir in uns eine gegenläufige Tendenz, einen élan vital, einen Durst nach Dauer und Verewigung, fühlen wir uns im Bunde mit den aufwärtsgerichteten, mutierenden Bewegungen, die dem physikalischen Verfall entgegengesetzt sind, wie sie im alljährlichen Frühlingserwachen und in der Evolution immer komplexerer Organismen zum Ausdruck kommen.
In solcher Perspektive, die wir getrost heraklitisch nennen dürfen, gewinnt ein apokryphes Jesus-Wort einen tiefen Sinn: »Werdet Wanderer!« Wanderer ist, wer der Versuchung widersteht, sich in dieser Welt endgültig einrichten zu wollen. Diese Haltung des homo viator unterscheidet den echten Konservativen vom Reaktionär. Der Reaktionär hängt an einer bestimmten geschichtlichen Gestalt, die er fixieren oder, wenn sie bereits vergangen ist, unverändert repetieren will.
Reaktion ist unschöpferisch. Sie verharrt in einer rein negativen Anti-Haltung gegenüber dem Wandel und vermag deshalb auch nicht als Korrektiv desselben zu wirken. So war die klerikale Reaktion in Frankreich auf nichts anderes aus als auf die Wiederherstellung des Ancien régime; so wollten die Deutschnationalen in der Weimarer Republik eine Rückkehr der Hohenzollern und verbündeten sich aus Haß gegen den kaiserlosen Staat lieber mit Hitler, anstatt zu versuchen, die konservativen Grundsätze unter den neuen Bedingungen zu erproben.
Ebenso reaktionär war die Haltung überwiegend frühliberaler Unternehmer, für die der proletarische Sozialismus keine Herausforderung von Gewissen, Phantasie und sozialem Gerechtigkeitssinn darstellte, sondern bloß eine Angelegenheit der Polizei, deren Aufgabe es sei, die Arbeiter niederzuknüppeln. Der Konservative ist sich, anders als der Reaktionär, der Tatsache bewußt, daß Tradition nicht einfach erhalten werden kann, sonder vertieft und vermehrt werden muß. Der Konservative weiß, daß Entwicklung ohne Erhaltung des Bestehenden nur ein Übergang von einem Nichts zu einem anderen ist, daß Fortschritt vor allem in der schöpferisch verjüngenden Übernahme der Vergangenheit besteht.
Der Konservative weiß aber auch, daß die für den Menschen lebensnotwendige Stabilität nicht gleichbedeutend mit Wandellosigkeit ist. Stabilität ist die Bedingung nichtkatastrophischen Wandels: künftiger Entwicklung ebenso wie künftiger Bewahrung.
Instabil hingegen ist ein Zustand, in dem die Art und das Tempo des Wandels die Schaffung von Ordnung unmöglich machen; oder ein Zustand, in dem eine scheinbar stabile Ordnung, die in Wirklichkeit verkalkt und hohl ist, ihren eigenen Untergang herbeiruft; oder eine Ordnung, die vielleicht auf den ersten Blick schöpferisch und progressiv scheint, tatsächlich aber sich nur um den Preis einer ökologischen, kulturellen und wirtschaftlichen Hinterlassenschaft zu verwirklichen vermag, die kommende Generationen aller Wahrscheinlichkeit nach verfluchen werden.7
Man kann nicht zweimal in denselben Fluß steigen, sagte Heraklit. Aber er sagte auch: Sich wandelnd ruht das All. Es gibt durchgängige Züge der Erfahrung und Konstanten gleichsam übergeschichtlicher Art, die dem geschichtlichen Wandel trotzen. Wir können den Wandel erkennen, weil es Bestände, Strukturen und Wirkungszusammenhänge gibt, die in ihm durchhalten.8
In einer sich permanent wandelnden Welt, einer world in process, die der technologische Mensch zunehmend durch in der Schöpfung gleichsam nicht vorgesehene Eingriffe – bis hinein in die psycho-physische Integrität und die Erbanlagen des Individuums – zu verändern vermag, lautet ein weiteres konservatives Prinzip:
Fünftens: Der Mensch muß regiert werden.
Das vorrangige Problem unserer Zeit liegt nicht darin, daß wir uns von allen Autoritäten emanzipieren (wie uns die sogenannten Progressiven einreden wollen), sondern in der Gewinnung von regierbaren Ordnungen mit regierbaren Menschen. Der neuzeitliche Mensch des Westens hat manche Tyrannen beseitigt – Unwissenheit, Hunger und frühen Tod –, nicht aber die Notwendigkeit, regiert zu werden.9 Alle revolutionären Bewegungen, die jene Notwendigkeit außer Kraft setzen wollten, sind gescheitert.
Und alles spricht dafür, daß ihr Scheitern bei der Errichtung einer herrschaftslosen Gesellschaft nicht durch historische Zufälle bedingt, sondern bereits im Anspruch selbst angelegt ist. Der Liberalismus ging davon aus, daß die unter der Devise »Laisser-faire« stattfindende technologisch-ökonomische Expansion unbegrenzt weitergehen könne. Er vertraute darauf, daß dieses von ihm als Fortschritt gedeutete Wachstum sich von selbst, wie von einer »unsichtbaren Hand« gelenkt, stabilisieren und harmonisieren würde.
Es gäbe, so meinte er, einen Zustand prästabilisierter Harmonie unter den individuellen Interessen, der sich sozusagen automatisch verwirkliche, wenn man nur diesen Interessen freien Lauf gäbe. Diese Überzeugung bestimmte auch das liberale Staatsverständnis. Sie ist durch die Entwicklung seit dem 19. Jahrhundert überholt. Und die Erfahrungen des 20. Jahrhunderts sprechen nicht dafür, daß sich auf der Ebene gesellschaftlicher Gruppen jene Harmonie einstellen könne, die im Zeitalter des Frühliberalismus unter den als ihren eigenen Glückes Schmiede verstandenen Individuen mißlang.
Angesichts der ökologischen Krise, des zunehmenden Mangels an Rohstoffen, der Kernspaltung und der Möglichkeit genetischer Manipulation stehen nämlich die Interessen auf dem Spiel, die keinen Anwalt unter den verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen haben. Diese Interessen können nicht auf das interne Kräftespiel der partikularen Kollektive der Industriegesellschaft verwiesen werden; auch ein unter dem mißverständlichen Begriff Demokratisierung forciertes Wachstum an Selbstverwaltung der in den wirtschaftlichen, kulturellen und sonstigen Organisationen Tätigen bietet keine Gewähr dafür, daß Interessen, die faktisch alle teilen, auch mit Nachdruck wahrgenommen werden.
Dieser allgemeinen Interessen kann sich nur der Staat annehmen – und zwar in dem Maße, in dem er fähig und willens ist, auch den Erpressungen organisierter partikularer Interessen zu widerstehen. Er kann sich dann nicht damit begnügen, bloß als Vollzugsorgan der divergierenden gesellschaftlichen Kräfte tätig zu sein, und sich darauf verlassen, daß die notwendigen Voraussetzungen und Rahmenbedingungen individueller Freiheit, ökologischen Gleichgewichts usw. sich als Resultat der konkurrierenden Interessengruppen von selbst ergeben.
Arbeitgeber, Gewerkschaften, Industrie, Handel, Landwirtschaft, Massenmedien stellen überaus wirksame Organisationen je bestimmter Gruppeninteressen dar, aber sie sind nicht imstande, jene Interessen konkret-allgemeiner Art, die allen partikularen Interessen vorausliegen, zu ihrer eigenen Sache zu machen. Patron und Repräsentant dieser Interessen, die andernfalls sich nicht wirksam artikulieren könnten, vermag nur der Staat zu sein, ein Staat, der eine gewisse Eigenständigkeit gegenüber den in der Gewerkschaft wirksamen Mächten zu erhalten oder zu erringen in der Lage ist.10
Es mag sein, daß diese Forderung nach einem starken Staat angesichts der zunehmenden Unregierbarkeit der westlichen Länder und des verbreiteten Ressentiments gegen Herrschaft überhaupt utopisch wirkt. Für diese Utopie der Konservativen spricht freilich, daß die entgegengesetzte Utopie eines Absterbens von Staat und politischer Herrschaft keine mögliche Alternative darstellt, da sie zu einem Totalitarismus der gesellschaftlichen Mächte und damit zum Ende der okzidentalen politischen Kultur führen würde.11
Die haltend-aufhaltende Macht gegenüber jener Macht, in der »alles gemischt ist ordnungslos und wiederkehrt uralte Verwirrung«, ist gewiß nicht der Staat allein. Denn der Staat lebt von Voraussetzungen, die vielleicht sogar Privatsache sind, doch eine Privatsache von allergrößter Bedeutung für die öffentliche Sache eines geordneten politischen Gemeinwesens.
Und wenn diese nur vom einzelnen zu leistenden Bedingungen nicht gegeben sind, vermag der Staat keine haltende, daseinsschützende und ‑stabilisierende Macht zu sein. Er ist dann ein Koloß auf tönernen Füßen oder gar, um an ein anderes düsteres Bild aus der Bibel zu erinnern, das apokalyptische Tier, der allfeindliche Abgott-Drache mit den sieben Köpfen aus der Tiefe, dem der Satan Macht, Thron und Gewalt verleiht. Deshalb lautet ein weiterer konservativer Grundsatz:
Sechsten: Obwohl Teil der Natur, biogenetisch in tiefsten Vergangenheiten verwurzelt und gesellschaftlich geprägt, wird der Mensch unter seinem ihm möglichen Niveau begriffen, wenn er nicht als ein von Natur zur Freiheit berufenes Wesen verehrt wird.
Freiheit wird vom Konservativen in ihrer dialektischen Spannung zur Bindung gesehen. Aufgrund seiner realistischen Anthropologie weiß er die individuelle Freiheit besser gesichert, wenn sie nicht einlinig emanzipatorisch verstanden wird, sondern ein Gegengewicht in Gestalt institutioneller Bedingungen und Grenzen erhält.
Im konservativen Freiheitsbegriff ist allemal auch das Moment des Gehorsams gegenüber Bindungen enthalten, deren Urheber nicht die partikulare Subjektivität ist, ohne daß er deshalb, wie anscheinend Hegels Philosophie, Freiheit auf bloße Unterwerfung unter das Gesetz der Institutionen zurückführen würde. Vielmehr verhält es sich so, daß die Institutionen ihrerseits auf Leistungen angewiesen sind, die nur der einzelne als freies Wesen vollbringen kann.
Gegenüber jedem sozialen Monismus oder Kollektivismus, der das Heil von der Gesellschaft erwartet, wird damit auf konservativer Seite die alte Lehre hochgehalten, daß das menschliche Individuum Selbstbestand hat, daß es, obwohl verflochten in mannigfaltige Abhängigkeiten, und sich in diesen verwirklichend, doch auch »Zweck seiner selbst« ist, wie Aristoteles, Thomas von Aquin und Kant übereinstimmend sagen.
Eine solche Lehre hat durchaus auch praktische Konsequenzen in politischer Hinsicht. Der für einen starken, über den gesellschaftlichen Gruppen stehenden Staat eintretende Konservative ist keineswegs der Meinung, daß die Regierung das Recht oder die Pflicht habe, sich in alles und jedes einzumischen. Eine von einem starken Staat geschützte freie Gesellschaft, ein »System der relativen Selbständigkeit«,12 kann nicht bestehen, wenn man alle Verantwortung dem Staat zuschiebt.
Individuelle Verantwortlichkeit ist die unabdingbare Grundlage der politischen Kultur des Westens, zu der Jerusalem, Athen und Rom auf verschiedene Weise beigetragen haben. Es wäre freilich zynisch, individuelle Verantwortung einer armen Gesellschaft zu predigen. In einer relativ reichen Gesellschaft sollte sich das von selber verstehen. Wir haben uns daran gewöhnt, daß der Staat immer mehr zum Versorgungsstaat wird und darüber hinaus seine im strengen Sinne des Wortes staatlichen Aufgaben vernachlässigt.
Wir haben uns daran gewöhnt, daß der Staat zunehmend Dienstleistungen übernimmt – von der Erziehung über die Gesundheitspflege bis zur Altersfürsorge –, für die verantwortungsbewußte Menschen in hohem Maße durchaus selber aufkommen könnten. Dem menschlichen Individuum wird trotz steigenden Lebensniveaus weniger Selbsterhaltungssinn zugemutet als einem Eichkätzchen oder einem Biber. Eine solche versorgungsstaatliche Haltung ist, wie gesagt, in einer armen und ungebildeten Gesellschaft durchaus zweckmäßig.
Doch ist es wirklich zu viel verlangt, daß mündige Menschen, die heute mehr verdienen als der alte Mittelstand, auch Verantwortung für sich und ihre Angehörigen übernehmen und zum Beispiel Kindererziehung, Altersversorgung und Sicherung für den Krankheitsfall weitestgehend in eigener Regie treiben? Es ist eine kaum zu leugnende Tatsache, daß wir auf die Dauer das weniger zu würdigen wissen, was wir durch anonyme Apparate scheinbar gratis zugewiesen erhalten. Deshalb geht auch die Rechnung nicht auf, daß die Loyalität der Bürger in dem gleichen Maße zunimmt, in dem sie versorgungsstaatlich betreut werden. Im Gegenteil.
Der administrativ betreute Mensch verfällt gegenüber dem Staat immer mehr in eine passiv fordernde, »orale« Haltung, in jene »grenzenlose Pleonexie«, die bereits Max Scheler als einen beherrschenden Zug unseres Jahrhunderts bezeichnet hat.13 Das Wort Pleonexie bedeutet Begehrlichkeit, Anmaßung, eine Grundhaltung infantil-regressiven Glücksverlangens. Auf diesen Begriff kann in einer sozialpsychologisch fundierten Theorie der entwickelten westlichen Industriegesellschaften kaum verzichtet werden.
Zwar wird gewohnheitsmäßig immer noch von »Vater Staat« gesprochen; faktisch behandeln ihn jedoch immer weitere Kreise als unerschöpfliche Milchkuh: »Man legt sich ihm an wie einer Muttergottheit mit unzähligen Brüsten«, schreibt der des Konservatismus gewiß nicht verdächtige Psychoanalytiker Alexander Mitscherlich.14 Selbstverantwortung und Selbstbestimmung bedeutet immer auch Selbstbegrenzung, Selbstbeherrschung, Distanz zu sich selbst und zumindest den Gedanken an seine »Submission unter das Höhere« (Schelling). Deshalb lautet ein weiterer Grundsatz konservativer Philosophie:
Siebentes: Der Mensch ist nicht nur ein gesellschaftliches, sondern auch ein kosmisches Wesen.
Zu den Ordnungen, in denen der Mensch lebt, und auf die er unaufhebbar angewiesen ist, gehört auch die Natur, die Ordnung des Kosmos. Das Gebot der Demut, das den meisten Religionen eigentümlich ist, läßt sich in Hinblick auf diese Naturverhaftetheit des Menschen, der selber ein Teil der Natur ist, auch ohne direkten Bezug auf religiöse Offenbarungen begründen. Das Wesen einer solchen Haltung, die der Hybris, der hochmütigen Überheblichkeit, entgegengesetzt ist, besteht darin, die eigene Größenordnung im Universum nicht zu verkennen.
In einer solchen kosmischen Perspektive erscheint der Mensch primär als Erbe und Schuldner. Angemessen ist ihm dann nicht das Betragen eines imperialistischen »maître et possesseur de la nature« (Descartes), sondern das eines Hüters einer ihn tragenden und umgreifenden ökologischen Friedensordnung, der sich, nach einem Wort Martin Heideggers, als »Hirt des Seins« versteht.
Die Expansion der neuzeitlichen Naturbeherrschung durch Technik und Industrie ließ sich von dem Gedanken leiten, daß alle durch menschliche Eingriffe verursachten Schäden durch weitere Eingriffe wieder ausgeglichen werden können. An die Stelle des symbiotischsympathetischen Verhältnisses zwischen Mensch und Natur, das die außereuropäischen Kulturen auszeichnete, sollte das despotische Verhältnis totaler Verfügbarkeit treten.
Heute wissen wir, daß die unseren eigenen Fortbestand als Gattung gefährdende Instabilität aller Lebensverhältnisse umso größer wird, je mehr wir als angeblich autonome, kein anderes Maß als das der beliebigen Machbarkeit anerkennende Herren in unserer Umwelt eingreifen. Je mehr wir machen, was wir aufgrund unserer technologischen Macht können, desto weniger vermögen wir das Feld unserer Eingriffe zu steuern.
Wenn wir uns in technischer, politischer und ökologischer Hinsicht nicht uneinsichtiger stellen wollen, als wir sind, dann ergibt sich angesichts der Tatsache, daß heute zum ersten Mal die menschliche Umwelt in planetarischem Umfang zu einer abhängigen Variablen geworden ist, die unbedingte Forderung, daß jeder manipulative Eingriff in die Natur beweislastpflichtig ist.
Die expansionistischen Neuerer haben die Beweislast dafür zu tragen, daß ihre Eingriffe die ökologischen Bedingungen nicht verschlechtern. Das ist eine erzkonservative Forderung, die sowohl für die kapitalistische als auch die sozialistische Organisation der Wirtschaft in ihrer bisherigen Gestalt eine radikale Provokation bedeutet. Denn beider Legitimationsideologie ist ein anthropozentrisches Menschenbild, das in seinen extremen Ausprägungen einen zur puren Wut gesteigerten Naturhaß verrät.
Diese kosmische Perspektive, dem Konservatismus von jeher eigentümlich, bietet gewiß nicht die Garantie für ein konkretes natur- und menschengerechtes Gesellschaftsprogramm. Doch immerhin vermag sie zumindest eine gewisse Sensibilität dafür zu vermitteln, wie die Dinge nicht angegangen werden können und sollen. Wie sie konkret bewältigt werden sollen, ist eine Frage spezieller fachwissenschaftlicher Kenntnisse, technischer Möglichkeiten und politischer Durchsetzbarkeit.
In kosmischer Perspektive geht es keineswegs bloß um etwas mehr Umweltschutz, sondern um das grundsätzlich neue Konzept einer Ordnung, die sich nicht selbst zerstört: einer ökologischen Friedensordnung, die die außermenschliche Natur nicht länger als bloßen Rohstoff oder als Sklavin ansieht, sondern als Partner mit eigenem Anspruch. Eine konservative Theorie, die diese Einsichten ernst nimmt, ist nicht romantisch, sondern vernünftig und lebensgerecht.
Sie steht vor der paradoxen Aufgabe, ein Konzept revolutionärer Bewahrung zu entwickeln, den Entwurf einer Ordnung, in der Bewahren möglich und sinnvoll ist. Eine solche konservative Theorie könnte in einer gewandelten Sprache zum Ausdruck bringen, was auch die alt-neue Botschaft der mythischen Überlieferung des Menschengeschlechts ist: »… daß eine wohl geordnete Humanität nicht mit sich selbst beginnt, sondern die Welt vor das Leben setzt, das Leben vor die Menschen und die Achtung der anderen Wesen vor die Selbstliebe; und daß selbst ein Aufenthalt von ein oder zwei Millionen Jahren auf dieser Erde … nicht als Entschuldigung dafür dienen kann, sie sich gleich einem Ding anzueignen und sich darin schamlos und rücksichtslos zu verhalten.«15
In einer solchen Perspektive wird der Zwang zur permanenten Rebellion ebenso durchbrochen wie die Versklavung unter die Despotie quantitativen Wachstums. Prometheus verliert den ersten Platz im Heiligenkalender. Das Gefühl der Entfremdung, der Isoliertheit und der Furcht vor Sinnlosigkeit und Vergänglichkeit weicht dann der mythischen Ahnung, die Anzensgrubers Steinklopferhanns so formuliert hat: »Du g’hörst zu den Allen und dös Alls g’hört zu Dir. Es kann Dir nix g’schehn.«
Die letzten zehn Jahre standen im Zeichen eines utopischen »Prinzips Hoffnung«. Weltfremde Hoffnungen sind jedoch besonders gefährlich, wenn sie sich mit protestlerischer Gereiztheit gegen alles Bestehende und einer Neigung zu üblen Vereinfachungen verbinden. Sie locken dann auf Abwege, die zu beschreiten weit Schlimmeres als Zeitvergeudung bedeuten kann. Um überhaupt wissen zu können, was wir in dieser Welt vernünftigerweise erhoffen dürfen, bedarf es der Rehabilitierung eines anderen Prinzips: des »Prinzips Wirklichkeit«.
Die Konservativen der siebziger Jahre haben nur dann eine heilsame Funktion, wenn sie die Entdeckung der Wirklichkeit, ich wage es zu sagen: die Konversion zur Wirklichkeit als ihre Aufgabe annehmen. Dem wäre noch hinzuzufügen, daß zur Wirklichkeit nicht nur der Alltag, die Arbeit und der technische Umgang mit den Dingen, sondern auch das Ästhetische, das Gegensätzliche und das Geheimnisvolle, die Tiefendimension des Seienden gehören.
Dazu gehören auch die Erleuchtungen und Überlieferungen, der Schatz der individuellen und sozialen Erkenntnisse, Sinngebungen und Lebensformen, deren wir nicht entraten können, wenn wir den Rückfall in die Barbarei vermeiden wollen. Es gilt heute eine ganze Reihe von Normen, Hoffnungen und Leitbildern zu begraben – und einige vergessene wieder zu entdecken. Unter den Trümmer- und Schrotthalden des Fortschrittsglaubens finden wir Einsichten und Maßstäbe, die uns zu alt-neuen Kraftquellen werden können.
Es geht, paradox gesprochen, um eine Philosophie revolutionärer Bewahrung auf der Grundlage einer umfassenden politischen Ökologie und einer sowohl realistischen als auch großherzigen Anthropologie, die sich nicht um die Doppelstrebigkeit, Gegensätzlichkeit und Zwieseligkeit des Menschen, seine schwankende Stellung zwischen Schicksal und Machbarkeit, Gegenwärtigkeit der Vergangenheit und Gegenwärtigkeit der Zukunft betrügt. Ein Aspekt dieser Widersprüchlichkeit ist auch der Gegensatz zwischen konservativ und progressiv, links und rechts. Ich halte diesen Gegensatz für »ewig«.
Es handelt sich um zwei nicht weiter aufzulösende Grundhaltungen, die sich in den verschiedenen Gestalten – religiösen, philosophischen, künstlerischen und politischen – durch die Jahrtausende hin nachweisen lassen. Beide gehören, wie Systole und Diastole, zu den Konstituenten der menschlichen Geschichte. Sie haben einander ergänzende Funktionen, und jede von ihnen hat ihre eigenen Fragwürdigkeiten und Entartungen.
Die Frage lautet deshalb nicht, welche der beiden Funktionen »wahr« ist – beide entsprechen der menschlichen Natur, auf keine von ihnen kann verzichtet werden: eine Einsicht freilich, zu der sich eher Konservative denn Radikal-Progressive oder Revolutionäre bequemen. Die Frage lautet vielmehr, welche der beiden antagonistischen Funktionen heute und in absehbarer Zukunft verstärkt werden muß, und wie diejenige, der für eine bestimmte Zeit der Vorrang zukommt, vor Entartung, Verfall und Schande bewahrt werden kann.
Ich glaube, daß heute und in absehbarer Zukunft eine konservative Erneuerung not tut, und daß eine Kultur, ein Staat oder sonst ein großes Gemeinwesen umso fortschrittlicher (im Sinne von: reicher an Offenheit, an Vielfalt, an Chancen, an Erkenntnis‑, Orientierungs- und Korrekturmöglichkeiten) sind, je mehr konservative Elemente sie aufweisen, sofern sie auch die großen Errungenschaften des durch Antike und Christentum in Gang gesetzten okzidentalen Emanzipationsprozesses zu sichern verstehen.