Chantal Mouffe: Für einen linken Populismus, Berlin: Suhrkamp 2018. 112 S., 14 €
Die Flüchtlingsproblematik veranschaulicht, daß es dem rot-rot-grünen Milieu erstens an konkreter Lageanalyse, zweitens an Realismus mangelt. Nils Heisterhagen, Grundsatzreferent einer SPD-Landtagsfraktion, fordert beide Bausteine für eine erneuerte Linke. Ihm springen zwei aktuelle Publikationen bei, die nach Bernd Stegemanns Gespenst des Populismus (Berlin 2017) als Wegweiser für Sahra Wagenknechts »Aufstehen« interpretiert werden können.
Peter Singers Streitschrift Linke, hört die Signale! erreicht den deutschen Leser dabei mit fast 20 Jahren Verspätung. Ein Umstand, der nicht ins Gewicht fällt, denn die Thesen des australischen Philosophen bleiben für die linke Misere frappierend aktuell. Singers Ausgangspunkt ist die Beanstandung eines Marxschen Grundfehlers, wonach der Mensch als »das ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse« gelte und man mit einer fundamentalen Änderung der Gesellschaft zugleich den Menschen fundamental ändern könne.
Singer plädiert entgegengesetzt für ein Menschenbild, das evolutionäre und verhaltensspezifische Kontinuitäten einbezieht; er spricht von einer »darwinistischen Linken«.
Drei Aspekte sind von besonderem Interesse: Erstens fordert Singer die Aufgabe des linken Traums der »Vervollkommnung des Menschen«: »Wer blind gegenüber den Tatsachen über die menschliche Natur ist, muss mit einer Pleite rechnen«. Zweitens erinnert Singer daran, daß unsere Gesellschaft, der die neoliberale Selbstoptimierungsidee zu Grunde liege, keine Gesellschaft sei, in der »Glück und Erfüllung« für die große Mehrheit zu finden sind. Singer fordert einen kooperativen Neubeginn auf Basis realistischer Ausgangsprämissen.
Drittens bezieht Singer den Umstand ein, daß Altruismus nicht die Regel ist. Daher müßten Strukturen entwickelt werden, in denen der (natürliche) Wettbewerb auf »sozial wünschenswerte Ziele« gelenkt würde. Wegweisend wäre es, »an den traditionellen Werten der Linken« anzudocken. Sascha Benjamin Fink faßt Singers Plädoyer in einem Nachwort damit zusammen, daß es dem Australier »um die direkte Solidarität der Starken mit den Schwachen einer Gesellschaft« gehe. Singer und Fink (und damit auch »Aufstehen« und Co.) werden indes Probleme mit dem linken Mehrheitslager bekommen, wenn von menschlicher »Evolutionsgeschichte in Kleinstgruppen« gesprochen wird, die dafür ursächlich sei, daß wir »nur in geringem Maße zu Fernstenliebe in der Lage« sind.
Ähnliches mag man für Chantal Mouffes Aufruf Für einen linken Populismus konstatieren. Die belgische Politikwissenschaftlerin arbeitet seit 1985 (bis 2014 mit Ernesto Laclau) an einer popularen Wende des linken Milieus; nun fordert sie offener denn je »Linkspopulismus« als Antwort auf die Krise der liberalen Hegemonie und der technokratischen »Postpolitik« in Westeuropa. Linken Populismus versteht Mouffe als »diskursive Strategie«, welche auf eine Betonung der Dichotomie Volk – Oligar-chie abziele.
Rechtspopulismus sei der zentrale Gegenspieler, denn »die zentrale Achse der politischen Auseinandersetzung« der kommenden Jahre verlaufe zwischen beiden Populismen. Mouffe sieht den entscheidenden Unterschied eher in der finalen Stoßrichtung, nicht in der Lageanalyse. Man könnte Mouffes Kritik des »Besitzindividualismus« der liberalen Gesellschaft samt ihrer marktgläubigen und konsumistischen Ideologie als materialistische Liberalismuskritik deuten, die Berührungspunkte mit rechter Liberalismuskritik aufweist. Doch die Scheidelinie verläuft nach Mouffe dort, wo der linke Populismus Gleichheit und Volkssouveränität vertiefen wolle, während sein rechter Widersacher bei aller Betonung der Souveränität eines Volkes die egalitäre Dimension negiere.
Anschließend wird die (in der 85. Sezession analysierte) »Lücke« im Denken der Linkspopulisten offenkundig: Die permanente Bezugnahme auf ein »Volk« und dessen demokratische Souveränität verschleiert kaum, daß Mouffe nicht erklären kann, was ein »Volk« ausmache. Ihr Gerede über eine zu konstruierende »Äquivalenzkette« zwischen Arbeitern, Einwanderern und der »LGBT-Gemeinde« bleibt intellektualistisch und irreal. Aufschlußreicher sind Mouffes Überlegungen zur Umformung des Bestehenden. Ihre Wortschöpfung »radikaler«, weil grundlegender »Reformismus« als Mittelweg zwischen »reinem Reformismus« und dem »totalen Bruch« erinnert an die Dialektik aus Nah- und Fernziel, an eine Politik der kleinen Schritte auf dem Weg zur großen Transformation.
Mouffes an Schmitt geschulte Scheidung zwischen Liberalismus und Demokratie sollte auch rechts ernstgenommen werden. Jedenfalls sind Mouffes Ausführungen hinsichtlich der zu kritisierenden liberalkapitalistischen Ordnung und der Wiedereinsetzung wirklich demokratischer Verhältnisse für »rechte Populisten« anschlußfähig. Dasselbe gilt für Mouffes Forderung, die Menschen dort abzuholen, wo sie stehen und ihre Gefühlslage zu berücksichtigen. Berufsmäßige Arroganz und elitistische Bevormundungsagenda werden Mouffes Vorhaben auf der Linken wohl unmöglich machen: zum Vorteil einer popularen Rechten. Die nämlich vermeidet liberale Denkfallen und entwendet die von Mouffe (neu) beanspruchte soziale Frage nicht nur strategisch der Linken, sondern entwickelt mittlerweile auch inhaltlich kohärente Konzepte.
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