James Hawes: Die kürzeste Geschichte Deutschlands, Berlin: Propyläen 2018. 336 S., 18 €
Deutschlands Osten sei kolonisiert, und das über Jahrhunderte. Dagegen begehrten die Kolonisierten auf – unter anderem, indem sie heute die AfD wählen. Um diese knallige, einprägsame These zu begründen, beginnt der englische Germanist Hawes einen Parforceritt durch 2000 Jahre deutscher Geschichte.
Für den Autor gibt es zwei Deutschlands. Grenzlinie sei die Rhein-Limes-Linie, später die Elbe. Der südwestlich davon liegende Teil ist geprägt durch den römischen Einfluß, nahm in der Spätantike den christlichen Glauben an, dem anderen fehle diese frühe zivilisatorische Prägung. Die Elbe wurde die Grenze zwischen dem nach Rom orientierten wir und dem ihr der anderen. Unter Otto dem Großen wurden jenseits des Flusses Befestigungen angelegt: Havelberg, Brandenburg, Magdeburg, und er erweiterte den ostfränkischen Machtbereich bis an die Oder.
Die Ostsiedlung macht bei Hawes aus Ostelbien Kolonialgebiete mit deutschen Herrschern und unterdrückten Slawen, die dort weiterhin lebten. Er verkennt, daß es nach Übernahme des Christentums durch die Slawen keinerlei Unterschied zwischen den Menschen gab. Die Bevölkerungen vermischten sich.
Was für Hawes bei den Römern eine zivilisatorische Errungenschaft war – aus befestigten Militärsiedlungen (Xanthen, Köln, Bonn, Koblenz, Mainz) entstanden Städte –, belegt er in bezug auf die östlich der Elbe gelegenen Territorien mit dem negativ befrachteten Begriff Kolonialismus. In Ostelbien hätten sich die Siedler das Land mit Gewalt genommen. Kein Wort davon, daß örtliche slawische Herrscher die Deutschen aufgefordert hatten, ins Land zu kommen und unbewohnte Wildnis urbar zu machen, Wälder zu roden und Sümpfe trockenzulegen. Stattdessen schreibt Hawes, hier sei eine »abwehrend-aggressive, koloniale Weltsicht des ›sie gegen wir‹« entstanden. »Sie«, die anderen, waren die Heiden. Dieses »sie« wurde mit Bekehrung zum Christentum jedoch zum »wir«. Die Sprache der Untertanen spielte keine Rolle. Im Osten des Reiches waren es slawische Idiome, im Süden italienische, im Westen französische, im Norden dänische. Das verbindende Element blieb das Latein der Kanzleien und Herrscher. Nationalismus gab es im Mittelalter nicht.
Er entstand erst als Folge der Französischen Revolution. Hawes projiziert politische Vorstellungen des 19. Jahrhunderts ins Mittelalter, ohne die gesellschaftspolitischen Unterschiede zu berücksichtigen. Vieles wird ausgespart, noch mehr falsch dargestellt. Statt den Machtkampf zwischen Kaiser Barbarossa und Heinrich dem Löwen zu erwähnen, habe für Hawes die Machtteilung zwischen beiden »prächtig funktioniert«. Die religiös motivierten Hussitenkriege werden zum slawischen Volksaufstand. Junker habe es – wegen des kolonialen Charakters Ostelbiens – nur dort gegeben, außerdem betrachteten sie sich nicht als Deutsche. In Preußen hätten nur Adelige Offizier werden können – in Rußland, Österreich und Frankreich war es jedoch nicht anders. Napoleon wird zum »Befreier« Westdeutschlands hochstilisiert, die französische Vorherrschaft sei dort willkommen geheißen worden. Berlin habe Krieg gegen Frankreich führen wollen – der zaudernde König Friedrich Wilhelm III. bleibt außen vor –, weil Preußens »Hegemonialpläne« im Norden gefährdet waren. Preußen »kollabierte« 1806 / 07 und richtete sich – im Gegensatz zu Österreich – nicht wieder auf. Der Sieg in den Befreiungskriegen über Napoleon sei allein den Briten zu verdanken.
Es ist müßig, hier allen von Hawes präsentierten Unsinn aufzuzählen. In beinahe jedem zweiten Satz des Buches steckt eine Unrichtigkeit, eine Auslassung, eine Boshaftigkeit, eine Fehlinterpretation. Er liefert ein Zerrbild von Deutschland. Hawes interessiert sich nicht dafür, wie es gewesen ist. Ihn scheint ein antipreußischer Furor anzutreiben. Er meint, der 1947 scheinbar ausgerottete preußische Geist erhebe heute östlich der Elbe wieder sein Haupt. Dagegen schreibt er an – und gegen die Wahrheit.
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