Auch wenn das Zeitalter, in dem wir leben, insbesondere in geopolitischer Hinsicht ein ergebnisoffenes bleibt, steht doch außer Zweifel: China ist die kommende Weltmacht. Schwerpunkte in Zeitschriften und Magazinen (vgl. auch den Themenblock in Sezession 83) sowie die tägliche Presseberichterstattung zeugen kontinuierlich von dem immensen Veränderungsprozeß, der sich innerhalb wie außerhalb der Volksrepublik, in Asien, Afrika und Europa, angeleitet von Staat, Partei und Wirtschaft des Milliardenreiches, vollzieht.
Helwig Schmidt-Glintzer, vor einem Jahr mit einer apologetischen Mao-Biographie hervorgetreten (vgl. Sezession 78), beschäftigt sich nun nicht mit den aktuellen Projekten im Rahmen des chinesischen Welterschließungsprojekts »Neue Seidenstraße« – ob in Albanien oder Zentralafrika –, sondern tritt zwei, drei Schritte zurück. Der Tübinger Sinologe will zeigen, daß das autoritäre »Reich der Mitte« just keine »Mitte« (geographisch, politisch, historisch, ökonomisch usf.) habe und gerade deshalb die mannigfaltigen inneren Widersprüche besser beherrschen könne, ja daß dieses vielfältige, aus der vollen Geschichte schöpfende China schlechterdings am besten für die globale Moderne gerüstet sei.
Schmidt-Glintzer leistet aber nun – was bedauerlich ist – keine Analyse dieser zeitgenössischen Leistungsfähigkeit, sondern bietet eine essayistisch-historische Überblicksdarstellung chinesischer geistespolitischer Entwicklungen spätestens seit Konfuzius. Dort, wo die zeitgenössische Situation interessant wird und einer tiefer schürfenden Auseinandersetzung bedürfte – etwa hinsichtlich des chinesischen Totalüberwachungsprogramms des sogenannten Sozialkreditsystems – beläßt der Autor es bei Andeutungen und schweift ab; das Geschichtliche ist sein Metier.
Dabei ist Schmidt-Glintzer zuzustimmen, daß Chinas Modernisierungsprozeß Lehren für Europas Zukunft bereithält. Ob neuer Städtebau, Umgestaltung ökonomischer Gefüge oder gigantische (nationale wie internationale) Infrastrukturmaßnahmen – die epochalen Entwicklungskonzepte der chinesischen Regierung zeigen, so der Autor abschließend, »dass ohne weitsichtige Planungen und staatliche Lenkung dieser Prozess durch Marktkräfte alleine weit weniger erfolgreich verlaufen würde«. Erneut wäre es just hier spannend geworden: Wie könnte das liberale Deutschland, wie kann das marktliberale Europa derartige Lehren überhaupt adaptieren oder umsetzen? Allein, der gewiß kluge Essay wird an dieser Stelle bereits beendet. Viele reizvolle Fragen bleiben daher künftigen Publikationen vorbehalten.
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Chinas leere Mitte von Helwig Schmidt-Glintzer kann man hier bestellen.