Journalisten lesen nicht, sie suchen Stellen. In seinem Gesprächsband Nie zweimal in denselben Fluß findet sich eine Äußerung Björn ¬Höckes, aus der seine politischen Gegner einen winzigen Skandal konstruieren wollten. Es geht um die Frage, ob ein Volk überhaupt in der Lage sei, »sich selbst aus dem Sumpf wieder herauszuziehen«. Höcke antwortet: »Machiavelli bestritt das ja vehement. Er ging von einem ›Uomo virtuoso‹ aus, der nur als alleiniger Inhaber der Staatsmacht ein zerrüttetes Gemeinwesen wieder in Ordnung bringen könne.«
An anderer Stelle liest sich das so: »Unsere Situation ähnelt jener Alt-Ägyptens in einem Intervall zwischen zwei Dynastien: Ein älteres pharaonisches Regime ist zerfallen, ein neues hat sich noch nicht etabliert, der Nil macht unterdessen, was er will (…) Der neue Pharao, der die Kunst besäße, Ströme zu lenken, muß erst geboren werden.« Das stammt nicht von Höcke, sondern von Peter Sloterdijk. Natürlich, es ist eine Binsenweisheit, daß es nicht egal ist, wer etwas äußert. Aber daß man den historischen Vergleich des einen mit Führerutopien gleichsetzt und den des anderen als interessanten und für diesen Kopf typisch plastisch-experimentellen Gedanke wahrnimmt, sagt viel darüber aus, wen man verstehen will und wen nicht.
Sloterdijk wird alle Verstehensbemühung zuteil, die er sich wünschen kann. Ohne Zweifel ist er der präsenteste deutsche Denker der Gegenwart, und seine vor kurzem unter dem Titel Neue Zeilen und Tage erschienenen Notizen aus den Jahren 2011 bis 2013 bestätigen diesen Ruf. Seine Aufzeichnungen umspannen die rechtsalternativen Tauwetter-Jahre nach Sarrazin und vor Pegida, sie streifen die Gründung der Alternative und enden knapp vor dem hysterischen linken Diskurs über die plötzliche Prägekraft von rechts. Das waren die letzten Jahre einer politisch bleiernen Zeit, und seither sind Höcke und viele andere zu Aufbau- und Umsetzungssprintern geworden. Wir fragen uns manchmal, ob wir etwas witterten, und deshalb lesen wir Sloterdijk als einen jener zeitpolitischen Seismographen, von denen Ernst Jünger (sich selbst meinend) sagte, man prügle nach dem Erdbeben auf sie ein.
Auf Sloterdijk wird nicht gerade eingeprügelt, aber einen Schubser und eine Zusammenrottung minder bekannter Sekundärliteraten muß er dann und wann ertragen: »Unabhängig ist böse, und böse ist rechts. Ich bin unabhängig, das gebe ich zu«, sagt Sloterdijk, und er markiert damit den Anfang einer Assoziationskette, die immer dann zusammengelötet wird, wenn eine Diskussion nicht mehr geführt, eine Meinung nicht mehr geduldet, eine Alternative nicht mehr anständig bekämpft werden soll. Dies ist immer dann der Fall, wenn moralische Kategorien in Auseinandersetzungen getragen werden und der Gegner dadurch seine Daseinsberechtigung verliert.
Über Säuberungsaktionen moralischer Instanzen findet sich in Sloterdijks Notizen reichlich Material – beispielsweise dort, wo Sloterdijk auf die erfolgreiche und gezielte Tötung Osama bin Ladens durch eine US-amerikanische Spezialeinheit blickt und über die Aufladung dieses Vorgangs durch die Propaganda und die mediale Verbreitung der Tötungsfeierlichkeiten in den Straßen amerikanischer Orte nachdenkt. »Dem Guten, das den Lauf der Geschichte ändern möchte, muß schlechthin alles erlaubt sein. Unverzeihliches kann verzeihlich werden«, notiert er und meint damit das Töten jenseits jeder Kriegserklärung und die Rache als Staatsakt. Und weiter: »Wer verstehen möchte, warum im 20. Jahrhundert der politische Moralismus mehr Opfer forderte als der politische Biologismus, sollte auf das gute Böse achten, das seinen Agenten die Pflicht zur Auslöschung des Feindes einflüstert.«
Spätestens seit den Ausführung Alexis de Tocquevilles über die Demokratie in Amerika wissen wir, daß die Zivilgesellschaft für ihre Feinde keine Guillotine mehr bereithält, sondern jede denkbare subtile und brachiale Form der sozialen Hinrichtung.
Die moralistischen Treiber sind dabei nicht nur Jäger, sondern auch Getriebene. Das ist der entscheidende Perspektivenwechsel, den Sloterdijk ins Spiel bringt und den die von ihnen Bedrängten, also wir (!) vollziehen sollten: Diese zivilgesellschaftlichen Jäger sind die eigentlich Getriebenen, weil ihnen ständig neue Feinde erwachsen, obwohl sie doch moralisch längst und tatsächlich auch beinahe schon ganz und gar gewonnen haben. Das »Gute« muß jagen, muß ausmerzen, muß alle Neutralen zur Positionierung zwingen, muß hellwach sein. Noch einmal Sloterdijk: »Der Vormacht ist es nicht erlaubt, Provokationen von seiten schwächerer Aggressoren zu ignorieren. Um der Behauptung ihres Ranges willen ist sie dazu verurteilt, ihre rückschlagbereite Haltung in Permanenz zu demonstrieren. Für sie besteht eine ständige Pflicht zur Intervention – anders ausgedrückt: Sie lebt unter dem kategorischen Müdigkeitsverbot.«
Ist es erlaubt, Sloterdijk so zu lesen? Zugegeben: Die Notizen zur Entstehung einzelner Kapitel seines Buches Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, seine Selbstbeschreibungen als alternder Mann, der Nachvollzug seines Reise- und Vortragsalltags sind wie Füllmaterial um diejenigen Stellen und Denkvorlagen herumgestopft, nach denen sucht, wer einem nimmermüden und vielköpfigen Gegner trotzen muß. Vernutzend, ausschlachtend zu lesen ist nicht schön, aber es ist besser als ein »Herumhängen in der entleerten Zeit am Ende der Geschichte« (Sloterdijk).
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