Günter de Bruyn: Der neunzigste Geburtstag, ein ländliches Idyll.

Günter de Bruyn: Der neunzigste Geburtstag, ein ländliches Idyll, Frankfurt a. M.: S. Fischer.
269 S., 22 €

Ellen Kositza

Ellen Kositza ist Literatur-Redakteurin und Mutter von sieben Kindern.

Was haben Hein­rich Mann, Lion Feucht­wan­ger, Ernst Robert Cur­ti­us, Theo­dor Fon­ta­ne und Hanns Mar­tin Schley­er gemein­sam? Sie alle –und die Lita­nei lie­ße sich fort­set­zen – dien­ten als Patro­ne für Prei­se, die in den ver­gan­ge­nen vier­und­fünf­zig Jah­ren an den Schrift­stel­ler ver­ge­ben Gün­ter de Bruyn wur­den. In Zei­ten, in denen Kul­tur­mo­den suspekt sind, muß ein sol­cher Preis­re­gen kein Hin­weis auf Vor­treff­lich­keit sein, im Gegen­teil. Wer in höchst unter­schied­li­chen poli­ti­schen Sys­te­men als preis­wür­dig galt, kann die Eigen­schaft jener Fett­au­gen haben, die in der Sup­pe stets oben schwimmen.

Bekann­ter­ma­ßen bestä­ti­gen Aus­nah­men die Regel. Neben den Oppor­tu­nis­ten gibt es Seil­tän­zer, Grat­wand­ler und sol­che Künst­ler, die durch ihr Kön­nen erha­ben sind. Zu letz­te­ren gehört de Bruyn (* 1926). Er wur­de in der DDR geehrt, in der BRD Ade­nau­ers, Kohls, in der Gegen­wart. Gemein hat er sich nie gemacht. Vier­und­drei­ßig Jah­re nach sei­nem letz­ten Roman Neue Herr­lich­keit hat es den Preu­ßen­spe­zia­lis­ten, Wider­borst und Viel­schrei­ber aber­mals zu einem ech­ten Stück Bel­le­tris­tik gedrängt – womit die Not­wen­dig­keit als Schreib­im­puls ange­deu­tet wäre. Es ist näm­lich ein poli­ti­scher Roman, ein kon­ser­va­ti­ver. Man darf sogar sagen: ein rech­ter, durch und durch kulturpessimistischer.

Der – fast rät­sel­haf­te – de-Bruyn-Sta­tus führt dazu, daß sogar öffent­lich-recht­li­che Medi­en das Buch loben, gar als »mil­des, ver­söhn­li­ches Alters­werk« (WDR) begrei­fen. Ver­söhn­lich? Ein Urteil, das beschwich­ti­gen will! Dar­um geht es: Leon­hardt Ley­den­frost (zu gewis­sen Tei­len ein Alter ego des Autors) lebt mit sei­ner Schwes­ter Hed­wig im Dorf der gemein­sa­men Kind­heit, im süd­öst­li­chen Bran­den­burg. Für Toch­ter Wil­hel­mi­ne gilt Leo als »Rech­ter«, und Hed­wig ist eine ein­ge­fleisch­te Lin­ke, die anno 1968 ihre pro­mi­nen­te Zeit hat­te. Nun steht Hed­wigs 90. Geburts­tag bevor. Das Fest will die Dame mit einer Spen­den­ak­ti­on für Flücht­lin­ge ver­bin­den. Zwi­schen Geburts­tags­vor­be­rei­tung und Fest ver­geht ein knap­pes Jahr, das de Bruyn hier Revue pas­sie­ren läßt. Es ist jenes Jahr, das unter der Devi­se »Wir schaf­fen das!« stand, ein Mot­to, das bis in die Pro­vinz durch­schlug. In »Wit­ten­ha­gen« will ein geschmei­di­ger Funk­tio­när (der Gelieb­te der geschie­de­nen Wil­hel­mi­ne) ein Flücht­lings­heim erbau­en lassen.

Leo beäugt die Gemenge­la­ge, wie sie sich in dem preu­ßi­schen Kaff dar­stellt: Da wäre Frau Schmal­fuß, die schi­cke Jour­na­lis­tin aus dem Wes­ten, die ein Buch über die abge­häng­ten wie tum­ben Ossis plant. Wal­ter, der Enkel Leos, der sich (lei­der wenig authen­tisch) vom ver­wöhn­ten Stu­ben­ho­cker über Buch­län­ge zum kri­ti­schen Zeit­ge­nos­sen mau­sert; Cor­ne­lia, die als Fri­seu­rin alles weiß, was man im Dorf »so meint« und Fati­ma, die Zieh­toch­ter Hed­wigs; sie ist lite­ra­risch gebil­det und eine ech­te Patrio­tin – und somit womög­lich ein typi­scher de Bruyn­scher Kunst­griff. Leo mag Fati­ma, und er unter­stützt (zwar mit Beden­ken) auch Hed­wigs Ferns­ten­lie­be. Nur – unter der Hand neh­men die Beden­ken beträcht­li­chen Platz ein: Sind das wirk­lich »Kin­der«, die im Dorf fröh­lich ein­ge­mein­det wer­den sol­len? Kin­der – mit Voll­bart? Schaf­fen wir das? War­um wird Hed­wig, die »Power­frau«, so melan­cho­lisch? Hat es mit den Abtrei­bun­gen zu tun, die sie jahr­zehn­te­lang gerecht­fer­tigt hat? Will sie daher »ver­wein­te Kin­der­au­gen wie­der zum Strah­len bringen?«
Daß Leo es mit sei­nem hohen Alter recht­fer­tigt, die »heu­ti­ge Welt nicht mehr ver­ste­hen zu kön­nen«, ist eine Ausflucht. 

Leo ali­as Gün­ter nimmt in Wahr­heit alles hell­wach aufs Korn: Von der »Will­kom­mens­kul­tur« über das Gen­der­stern­chen und die ple­be­ji­schen Klei­dungs­sit­ten bis hin zur ver­meint­li­chen Jugend­spra­che, die sich hier, etwas vor­gest­rig, in Wen­dun­gen wie »fet­zig« oder »songs« arti­ku­liert, beäugt er zeit­ge­nös­si­sche Nie­de­run­gen kri­tisch. De Bruyn ist Katho­lik, Leo Kul­tur­pro­tes­tant: Das ist, was die Rol­le der Kir­chen­obe­ren im Rah­men einer Neu­en Welt­ord­nung angeht, aus­tausch­bar. Leo freut sich einer­seits, daß die Kir­che an Weih­nach­ten bis auf den letz­ten Platz besetzt ist.

In sozia­lis­ti­schen Zei­ten war dies eine Wider­stands­ges­te, »jetzt, da man unauf­hör­lich zu einem glo­ba­len, mul­ti­kul­tu­rel­len Den­ken auf­ge­for­dert“« wird, erscheint es ihm »als Bekennt­nis zum Eige­nen, zur Tra­di­ti­on«. Ande­rer­seits: Der Pfar­rer ver­setzt die Hei­li­ge Fami­lie in die Neu­zeit, sie sind »Flüch­ten­de«, die nicht mal ein Han­dy zur Ver­fü­gung hat­ten, und »die Bot­schaft des Engels emp­fan­den die Hir­ten als cool.« Leo erträgt dies, wie alles ande­re, mit stoi­scher Gelas­sen­heit und lei­sem Unbe­ha­gen. Dazu paßt de Bruyns vor­neh­mes Sprach­ge­fühl: Leo wur­de des Pfar­rers »ansich­tig«, und »das kum­pel­haf­te ›Hal­lo‹, das sich zu Leos Ärger immer mehr ein­ge­bür­gert hat­te, galt ihm als wei­te­res Bei­spiel für die gras­sie­ren­de Gleichmacherei.«

Die­ser Roman trägt eine Men­ge Bot­schaft mit sich, die sich über den lite­ra­ri­schen Gehalt legt. Die Zeit ist danach, sie lechzt nach sol­chen Roma­nen! Anrüh­rend sind jene Tei­le, aus denen weni­ger die Kul­tur­kri­tik denn der Greis in sei­ner Hin­fäl­lig­keit spricht. Die­se Scham, den Platz ein­zu­neh­men, den eine jun­ge Frau ihm anbie­tet – obwohl man lie­ber den Kava­lier gäbe! Die Erkennt­nis des Unver­mö­gens, fix und schlag­fer­tig zu reagie­ren, weil – trotz kogni­ti­vem Hoch­ver­mö­gen – die Dräh­te ein­fach nicht mehr so rasch glü­hen. Der neun­zigs­te Geburts­tag: ein Nei­gungs­ro­man – in jeder Hinsicht.

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Der neun­zigs­te Geburts­tag, ein länd­li­ches Idyll von Gün­ter de Bruyn kann man hier bestel­len.

Ellen Kositza

Ellen Kositza ist Literatur-Redakteurin und Mutter von sieben Kindern.

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