Was haben Heinrich Mann, Lion Feuchtwanger, Ernst Robert Curtius, Theodor Fontane und Hanns Martin Schleyer gemeinsam? Sie alle –und die Litanei ließe sich fortsetzen – dienten als Patrone für Preise, die in den vergangenen vierundfünfzig Jahren an den Schriftsteller vergeben Günter de Bruyn wurden. In Zeiten, in denen Kulturmoden suspekt sind, muß ein solcher Preisregen kein Hinweis auf Vortrefflichkeit sein, im Gegenteil. Wer in höchst unterschiedlichen politischen Systemen als preiswürdig galt, kann die Eigenschaft jener Fettaugen haben, die in der Suppe stets oben schwimmen.
Bekanntermaßen bestätigen Ausnahmen die Regel. Neben den Opportunisten gibt es Seiltänzer, Gratwandler und solche Künstler, die durch ihr Können erhaben sind. Zu letzteren gehört de Bruyn (* 1926). Er wurde in der DDR geehrt, in der BRD Adenauers, Kohls, in der Gegenwart. Gemein hat er sich nie gemacht. Vierunddreißig Jahre nach seinem letzten Roman Neue Herrlichkeit hat es den Preußenspezialisten, Widerborst und Vielschreiber abermals zu einem echten Stück Belletristik gedrängt – womit die Notwendigkeit als Schreibimpuls angedeutet wäre. Es ist nämlich ein politischer Roman, ein konservativer. Man darf sogar sagen: ein rechter, durch und durch kulturpessimistischer.
Der – fast rätselhafte – de-Bruyn-Status führt dazu, daß sogar öffentlich-rechtliche Medien das Buch loben, gar als »mildes, versöhnliches Alterswerk« (WDR) begreifen. Versöhnlich? Ein Urteil, das beschwichtigen will! Darum geht es: Leonhardt Leydenfrost (zu gewissen Teilen ein Alter ego des Autors) lebt mit seiner Schwester Hedwig im Dorf der gemeinsamen Kindheit, im südöstlichen Brandenburg. Für Tochter Wilhelmine gilt Leo als »Rechter«, und Hedwig ist eine eingefleischte Linke, die anno 1968 ihre prominente Zeit hatte. Nun steht Hedwigs 90. Geburtstag bevor. Das Fest will die Dame mit einer Spendenaktion für Flüchtlinge verbinden. Zwischen Geburtstagsvorbereitung und Fest vergeht ein knappes Jahr, das de Bruyn hier Revue passieren läßt. Es ist jenes Jahr, das unter der Devise »Wir schaffen das!« stand, ein Motto, das bis in die Provinz durchschlug. In »Wittenhagen« will ein geschmeidiger Funktionär (der Geliebte der geschiedenen Wilhelmine) ein Flüchtlingsheim erbauen lassen.
Leo beäugt die Gemengelage, wie sie sich in dem preußischen Kaff darstellt: Da wäre Frau Schmalfuß, die schicke Journalistin aus dem Westen, die ein Buch über die abgehängten wie tumben Ossis plant. Walter, der Enkel Leos, der sich (leider wenig authentisch) vom verwöhnten Stubenhocker über Buchlänge zum kritischen Zeitgenossen mausert; Cornelia, die als Friseurin alles weiß, was man im Dorf »so meint« und Fatima, die Ziehtochter Hedwigs; sie ist literarisch gebildet und eine echte Patriotin – und somit womöglich ein typischer de Bruynscher Kunstgriff. Leo mag Fatima, und er unterstützt (zwar mit Bedenken) auch Hedwigs Fernstenliebe. Nur – unter der Hand nehmen die Bedenken beträchtlichen Platz ein: Sind das wirklich »Kinder«, die im Dorf fröhlich eingemeindet werden sollen? Kinder – mit Vollbart? Schaffen wir das? Warum wird Hedwig, die »Powerfrau«, so melancholisch? Hat es mit den Abtreibungen zu tun, die sie jahrzehntelang gerechtfertigt hat? Will sie daher »verweinte Kinderaugen wieder zum Strahlen bringen?«
Daß Leo es mit seinem hohen Alter rechtfertigt, die »heutige Welt nicht mehr verstehen zu können«, ist eine Ausflucht.
Leo alias Günter nimmt in Wahrheit alles hellwach aufs Korn: Von der »Willkommenskultur« über das Gendersternchen und die plebejischen Kleidungssitten bis hin zur vermeintlichen Jugendsprache, die sich hier, etwas vorgestrig, in Wendungen wie »fetzig« oder »songs« artikuliert, beäugt er zeitgenössische Niederungen kritisch. De Bruyn ist Katholik, Leo Kulturprotestant: Das ist, was die Rolle der Kirchenoberen im Rahmen einer Neuen Weltordnung angeht, austauschbar. Leo freut sich einerseits, daß die Kirche an Weihnachten bis auf den letzten Platz besetzt ist.
In sozialistischen Zeiten war dies eine Widerstandsgeste, »jetzt, da man unaufhörlich zu einem globalen, multikulturellen Denken aufgefordert“« wird, erscheint es ihm »als Bekenntnis zum Eigenen, zur Tradition«. Andererseits: Der Pfarrer versetzt die Heilige Familie in die Neuzeit, sie sind »Flüchtende«, die nicht mal ein Handy zur Verfügung hatten, und »die Botschaft des Engels empfanden die Hirten als cool.« Leo erträgt dies, wie alles andere, mit stoischer Gelassenheit und leisem Unbehagen. Dazu paßt de Bruyns vornehmes Sprachgefühl: Leo wurde des Pfarrers »ansichtig«, und »das kumpelhafte ›Hallo‹, das sich zu Leos Ärger immer mehr eingebürgert hatte, galt ihm als weiteres Beispiel für die grassierende Gleichmacherei.«
Dieser Roman trägt eine Menge Botschaft mit sich, die sich über den literarischen Gehalt legt. Die Zeit ist danach, sie lechzt nach solchen Romanen! Anrührend sind jene Teile, aus denen weniger die Kulturkritik denn der Greis in seiner Hinfälligkeit spricht. Diese Scham, den Platz einzunehmen, den eine junge Frau ihm anbietet – obwohl man lieber den Kavalier gäbe! Die Erkenntnis des Unvermögens, fix und schlagfertig zu reagieren, weil – trotz kognitivem Hochvermögen – die Drähte einfach nicht mehr so rasch glühen. Der neunzigste Geburtstag: ein Neigungsroman – in jeder Hinsicht.
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Der neunzigste Geburtstag, ein ländliches Idyll von Günter de Bruyn kann man hier bestellen.