Eine Frau in Schwesterntracht lächelt vom Buchtitel, mild, bescheiden, liebreizend. Es ist Vera Brittain (1893 – 1970); in Hamburg und Berlin führen Straßen den Namen dieser englischen Schriftstellerin, Frauenrechtlerin und »Botschafterin des Pazifismus«. (Brittain hatte anno 1917 als Schwesternhelferin auch deutsche Soldaten gepflegt, einen Weltkrieg später verurteilte sie die alliierten Flächenbomardements auf deutsche Städte.)
Ihre nun ins Deutsche übersetzten frühen Memoiren – den Zeitraum bis zu ihren ersten schriftstellerischen Erfolgen 1923 / 24 umfassend – sind 1933 erschienen, bis 1939 verkauften sich ansehnliche 120 000 Exemplare, bis heute beträgt die Gesamtauf¬lage eine Dreiviertel Million. Vor vierzig Jahren hatte die BBC Brittains Bericht als Serie verfilmt, so erfolgreich, daß sich die Produktion in zwanzig Länder verkaufte. Brittain ist Sproß einer wohlhabenden Unternehmerfamilie aus Staffordshire. Dem ehrgeizigen, literarisch gebildeten wie enthusiasmierten Mädchen gelang es – gegen familiäre Widerstände – ein Stipendium für Oxford zu ergattern; Hauptantrieb: der verachteten provinziellen Enge des Städtchens Buxton zu entkommen. Die junge Dame mit ihrer Abneigung gegen schlechtsitzende, schäbige Kleidung und gegen von Unbildung zeugende Dialekte weiß früh, daß sie »eine geborene Demokratin mit überwältigender Liebe zur Menschheit« sowie Protofeministin ist.
Irgendwie – zwischen Tennisstunden, Einkaufstouren und Altsprachenpaukerei wird es wie am Rande wahrgenommen – bricht dann der Weltkrieg aus. Brittains geliebter Bruder Edward und ihre – zeitlebens – große Liebe Robert Leighton, ein hoffnungsvoller Dichter, ziehen ins Feld. Brittain meldet sich – wobei die Motivlage nur angedeutet, aber nicht plastisch wird – zum Voluntary Aid Detachment, zur freiwilligen Hilfstruppe. Lange bevor die beiden Vetrauenspersonen fallen, rückt das Grauen des Krieges näher. Vor allem der Schmutz und die Entbehrungen! Rasch wird nämlich klar, daß die Titelphysiognomie trügt. Bescheidenheit und Zurückhaltung sind nicht Sache der Autorin, sie wirkt qua ihres Ausdrucks und ihrer Empfindungen weniger als vorgestrige, denn als sehr heutige Tochter des Zeitgeistes. Wenn ihr Ton denn von einer Art spöttisch-humorvollen Herablassung geprägt wäre – man täte sich gern auf eine gewissermaßen selbstironische Distanz zu den Zeitläuften einlassen.
Aber nein, es ist ein verbittertes Hadern, ein Pikiertsein in Permanenz. Man kann nicht täglich baden, der Weg zwischen Schwesternwohnheim und Arbeitsstelle beträgt einen knappen Kilometer (bergauf!), im Lazarett spielen sie nervtötende Grammophonmusik. Wenn Brittain schreibt, daß sie anno 1914 »offenkundig an einem Minderwertigkeitskomplex« litt, wird diese Selbsteinschätzung eine Zeile drunter konterkariert. Denn damals schickte ihr Leighton »eins seiner eigenartig prophetischen Gedichte« mit dem Titel »I walk alone«. Brittain interpretiert, er könne damit nicht seinen eigenen Kampf gemeint haben, sondern sie selbst und ihre Ziele!
Ulkigerweise wird in einer der wenigen Fußnoten erläutert, daß die Rede vom »Great War« den Ersten Weltkrieg meint – wer wüßte es nicht? Alleingelassen wird die Leserin (denn es besteht von den ersten Seiten an kein Zweifel, daß es sich hierbei um genuine Frauenliteratur handelt) mit anderen Schlagworten und Bezugspunkten: Andrew Langs Märchenbücher? Befreiung von Mafeking? Wer war Olive Schreiner? Wer überhaupt »Thackery«? Was ist eine Pass-Mods-Prüfung? Und warum gleicht die Rektorin des Oxforder Colleges ausgerechnet einer »Tigerkatze«? Ein seltsamer Wälzer und eine Geduldsprobe. »In gewisser Weise war ich mein Krieg, und mein Krieg war ich«, schreibt Brittain, nachdem sie im Feuilleton angekommen und zum Phänotyp der liberalen Ausrichtung des Zeitgeistes geworden ist. Da ist was dran.
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Vermächtnis einer Jugend von Vera Brittain kann man hier bestellen.