Alexander von Schönburg war 1999 als Teil des Jung-Dandy-Quintetts Tristesse Royal in Erscheinung getreten. Für das gleichnamige Buch hatten sich kulturell und finanziell privilegierte Herren ein paar Tage im Berliner Hotel »Adlon« eingemietet, um Protokoll zu führen, wie man stilvoll, zynisch und mittels hermetischer Anspielungen den Untergang des ¬Abendlandes begießen könnte. Ach, was für eine lässige Pose!
Heute fungiert Alexander von Schönburg – ein Bruder Glorias von Thurn und Taxis – als Teil der BILD-Chefredaktion. Vom Regen in die Traufe, mag man unken. Elite, in Anführungszeichen! Will man sich von »so einem« ernsthaft »27 altmodische Tugenden für heute« erläutern lassen?
Um es vorwegzunehmen: Dieses Buch ist phantastisch gut, es übertrifft sogar die ähnlich gelagerten und bereits berühmt gewordenen Manieren- und 12-Rules-Bücher von Asfa Wossen-Asserrate und Jordan Peterson. Beide Autoren zitiert von Schönburg übrigens als Gewährsleute, wie er überhaupt fast ausschließlich (über den Diversitätsphilosophen K. A. Appiah wollen wir schweigen …) bei den klügsten Denkern und Ratgebern Anleihen nimmt: Aristoteles, Thomas von Aquin, Josef Pieper, Chesterton, Hannah-Barbara Gerl-Falkovitz, Simone Weil. Im Vorwort wird – sehr unzeitgemäß – die Artus¬epik, ein mittelalterlicher Ritterroman, als beispielhafte Erzählung herangezogen. Abendland? Hier ist es, stilbildend und entstaubt!
Welche Tugenden will von Schönburg (* 1969, Vater dreier Kinder) gestärkt sehen? Neben erwartbaren wie Bescheidenheit, Höflichkeit, Mitgefühl und Toleranz sind es auch erstaunliche wie Humor, »Dekorum« und Milde sowie gänzlich unzeitgemäße: Keuschheit, Gehorsam, Zucht und Fleiß. Was diese Tugendlehre so besonders macht, ist, daß sie einerseits ohne jeglichen gouvernantenhaften Predigerton auskommt. Hier lesen wir keine Kanzleiansprache von einem, der sich gerade die Fliege zurechtgerückt hat und »denen da unten« eingießt. Wenn der Autor sein Tugendkatalogprojekt damit umreißt, daß er »Coolness« (begriffen als weltmännische Lässigkeit) und »Kindness« (verstanden als mitfühlende Güte) vereinen wollte, spricht daraus eigentlich genau die formvollendete, globalistische Glätte, die das Werk (und so sollte man es durchaus nennen) eben nicht aufweist.
Und auch dieser hohe Ton bei gleichzeitigem Haltsuchen in gängigen, vielmehr: elaborierten Anglizsmen, dieses Ich-bin-auch-bloß-einer-von-euch-Tiefstapeln – es wirkt nie kokett, sondern authentisch. Von Schönburg schreibt als einer, der mit dem klassischen Tugendkanon großgeworden ist, als Adeliger, der längst ein (Berliner) Großstadtleben führt, »mir steht keine andere Perspektive zu Verfügung.« Er gesteht, daß er selbst hier und dort gelegentlich oder oft versagt – auch Zurücknahmen wie diese machen das Buch in seiner ernsten Heiterkeit so eminent lesenswert.
Was also lehrt er uns, beispielsweise in punkto »Klugheit«, die nach Thomas von Aquin die Vorbedingung für sämtliche andere Tugenden sei? Klugheit ist nicht »Cleverness«, sie umfaßt einerseits docilitas, die Bereitschaft, sich belehren zu lassen, sprich, sich nicht von Algorithmen der eigenen Filterblase leiten zu lassen.
Andererseits solertia, wiederum ein thomistischer Wink: die Fähigkeit, komplexe Situationen rasch zu erfassen und umgehend die richtige Entscheidung zu treffen. Wie aber? Das führt zum Kern aller Tugendübung: Durch das Einschleifen der rechten Handlungen und Einstellungen. Tugendtraining heißt, Tag für Tag, Schritt für Schritt durch Gewohnheit und gute Gesellschaft die beste Version seiner selbst aus sich herauszuholen. Tauglich auch, was der Autor uns über die Tugend des »Dekorum« lehrt, frei übersetzt: sich zusammennehmen. Das reicht von adretter Kleidung (auch im Sommer nicht alle Hüllen fallen lassen bedeutet, daß man dem Wetter überlegen ist!) und führt den Autor dazu, seine Kinder anzuhalten, am Circus Maximus sich mit »ähnlicher Pietät wie in einer KZ-Gedenkstätte zu bewegen.« Muß man das alles so eng sehen? Nein. Die Sünde verabscheuen, jedoch die Sünder lieben – das ist hier ohnehin (Stichwort: »Milde«) die Devise. Aber: Man muß die Regeln kennen, die Formen verinnerlicht haben, um sie dann und wann – es kann angebracht sein! – brechen zu können.
Ein paar der kleinen (und eher kniggeartigen) Tips, die nebenbei als auflockernde Seiten eingefügt sind, mag man als nebensächliche Geschmacksfragen abheften: Ist es wirklich ein absolutes Unding, nach der »Toilette« zu fragen? Darf wirklich niemand nie je einen schwarzen Anzug tragen? Muß eine Einladung zum Abendessen wirklich strikt nach der Nahrungsaufnahme ihr Ende haben?
Adelstypisch sind auch die kleinen Seitenhiebe auf das bekanntermaßen verkorkste, nie romanisierte Ostelbien: Die Sachsen seien eben durch die dauernde, jahrhundertlange Nähe zur Barbarengrenze gleichsam notgedrungen zu einem xenophoben und rauhen Stamm geworden – daß von Schönburg selbst nebenbei auch einer »von Glauchau« ist, wiewohl er diesen Titelanhang nicht offen führt, sollte man wissen. Warum aber all diese Anstrengung in einer oft erbarmungslosen Welt, die demjenigen mehr Meriten verheißt, der sich tugendbefreit in ihr bewegt? Diese Frage nun beantwortet der Autor leichterhand: Weil die Abkehr von der Tugend in die Hölle führt.
Alexander von Schönburg hat eine Kulturkritik vorgelegt, die es in sich hat, aber ohne Schaum vorm Mund und ohne herabgezogene Mundwinkel: voilà!
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