Vor zehn Jahren veröffentlichte Klaus-Jürgen Liedtke (geb. 1950), der bis dahin vor allem als Übersetzer skandinavischer Literatur hervorgetreten war, eine literarische Dokumentation über das ostpreußische Dorf seiner Vorfahren. Aus den mündlichen und schriftlichen Erinnerungen rekonstruierte er darin eine »versunkene Welt« (so der Titel), bevor auch diese letzten Bindungen verschwinden und Ostpreußen völlig fremd wird. Sein neues Buch schließt daran an, indem Liedtke diesmal seinen eigenen Prozeß der Aneignung der familiären Vergangenheit dokumentiert.
Ausgangspunkt ist seine Abstammung von Vertriebenen, die alles verloren hatten und sich in der Bundesrepublik mühsam ein neues Leben aufbauen mußten. Die Erinnerung an die Vergangenheit war bei ihnen daher vor allem der Rückblick auf eine heile Welt, die nun ausgelöscht war. Darin bestand der wesentliche Unterschied zu den Erinnerungen derjenigen, die kein Vertreibungsschicksal zu erleiden hatten. Auch ihre Welt hatte sich geändert, aber dieser Wandel vollzog sich am selben Ort und im Detail keineswegs so schlagartig, daß auf einmal alles in Frage gestellt worden wäre. Bei den Vertriebenen sind die Orte verloren, zerstört, besetzt und existieren nur in der Erinnerung, in der es keinen Wandel gibt.
Liedtke bietet auch in seinem neuen Buch eine Collage, die vor allem aus seinen eigenen Erinnerungen und Aufzeichnungen besteht. Erinnerungen an die Kindheit sind ebenso darunter, wie Tagebucheintragungen von Reisen nach Ostpreußen und von Archivbesuchen, Lebensläufe von Verwandten, Gespräche mit Verwandten (die es bis nach Kanada verschlagen hat), Gedichte, aber auch fremde Tagebücher (darunter ein Kriegstagebuch) und Erinnerungen Dritter (an die Vertreibung und die ersten Jahre danach). Sie sind nicht chronologisch angeordnet, sondern springen zwischen den Zeiten hin- und her. Liedtke hebt damit gleichsam die Ebene der unreflektierten Erinnerungen der Versunkenen Welt auf.
Die Ebenen reichen von den kulturellen Einbußen, die mit dem Verlust Ostpreußens verbunden waren (ausführlich widmet sich Liedtke dem Schloß Klein Beynuhnen und der dortigen Sammlung von Abgüssen nach Antiken, die heute verschollen sind) bis hin zu aktuellen Diskussionen über die Bewertung der Vertreibungen. An diesen Stellen verläßt Liedtke den traurig-reflexiven Duktus und wechselt in einen polemisch-zornigen. Er zitiert einen Artikel aus der Zeit, in dem es heißt, daß die Deutschen sich mit Vorliebe ins eigene historische Leid versenken und das Gedenken an Auschwitz nur »nachschieben« würden und fragt: »Sich zu versenken? Eher ist es so, daß ich mich dahinein verbissen habe. Mein Erbteil ist die Wut darauf, keinen Ort mehr zu haben … Das eigene Trauma beginnt nicht mit Auschwitz, sondern mit dem Körper und den Gerüchen der Großmutter, den Erzählungen des Großvaters, mit ihrer Trauer und Gebrochenheit … Und einem unterdrückten Schrei nach Wiedergutmachung.«
Liedtke gelingt es mit seinem engagierten Buch, eine Dimension der Vertreibungsgeschichte zu ihrem Recht kommen zu lassen, die bislang kaum in den Blick genommen wurde: die Geschichte derjenigen, die als Kinder von Vertriebenen aufwuchsen, die sich fundamental von denjenigen unterscheidet, die ihren Ort behalten konnten. Warum einen dieses Thema niemals losläßt, warum es jede Generation neu erfährt, macht Liedtkes Buch verständlich. Gleichzeitig versucht es, die Erinnerung an Ostpreußen wieder von den Überkrustungen der Geschichtspolitik zu befreien, indem es ihm ein eigenes Recht jenseits von nachgereichten Kausalitäten zugesteht.
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Nachkrieg und die Trümmer von Ostpreußen von Klaus-Jürgen Liedtke kann man hier bestellen.