Der Autor Eugen Ruge wurde im Juni 1954 geboren, also ein gutes Jahr nach Stalins Tod. Sein Vater war ein an den Ural deportierter deutscher Kommunist, seine Mutter eine Russin. 1956 konnte die Familie in die DDR aussiedeln. 2011 legte Ruge den mehrfach ausgezeichneten Familienroman In Zeiten des abnehmenden Lichts vor, einen DDR- und Wenderoman. Mit Metropol hat er nun die damals ausgeklammerte Lebensgeschichte seiner Großmutter Charlotte nachgereicht, verdichtet auf jene 477 Tage, die sie gemeinsam mit ihrem Mann im Hotel Metropol, Moskau, verbringen mußte, festgehalten wie Forellen im Aquarium eines Restaurants, von denen eine nach der anderen abgefischt wird.
Im Metropol werden nach und nach unter Verdacht geratene Mitglieder der Kommunistischen Internationalen (Komintern) einquartiert. In den Jahren 1936 bis 1938, der Zeit der stalinistischen »Säuberungen«, wurde auch der Nachrichtendienst der Komintern, die sogenannte OMS, liquidiert. Im Epilog, einem editorischen Bericht Ruges über seine Recherchen und den unglaublichen Zufall, der seine Großmutter überleben ließ, sind die reellen Personen hinter den Romanfiguren aufgelistet: Jeder Absatz schließt mit dem Datum der Erschießung oder des Todes im Gulag.
Man kennt diese dürren Auflistungen (»erschossen«, »zu Tode gefoltert«, »verhungert«, »erfroren«) aus wissenschaftlichen Arbeiten und Fallprotokollen. Aber den Weg dorthin, den Weg bis zu dem Moment, in dem es morgens um halb vier an der Tür klopft und man abgeholt wird, während man in den Wochen und Monaten zuvor die ehemaligen Kollegen verschwinden sah: Diesen Weg hat Ruge nun so beklemmend beschrieben wie selten jemand zuvor. Wie gelingt das?
Ruge nimmt nie eine vorgreifende oder allwissende Perspektive ein, auch nicht indirekt dadurch, daß eine seiner Figuren (seine Großmutter beispielsweise) den willkürlichen, brutalen, rechtsfreien, auf Machtsicherung abzielenden Terror Stalins durchschaute, mit den bedrohten Kollegen offene Worte darüber spräche oder Fluchtpläne schmiedete. Vielmehr vermutet jeder allenthalben klare, also in der Ratio der Partei und den kommunistischen Bewegungsgesetzen liegende Indizien dafür, warum wohl der eine verhaftet, der andere liquidiert, der dritte abgesetzt worden sei.
Diese Gläubigkeit in die Unfehlbarkeit von Partei und Führung, die Empörung über Verräter und Hintertreiber (»Trotzkisten«) und die Überzeugung, daß Säuberungen notwendig seien, wird konterkariert von einem Verhaltensmißtrauen in die Klarheit der Kriterien: Kaum ist einer verhaftet, bricht Panik bei denen aus, die sich einer »Verstrickung« bewußt sind, und seien es der Verkauf eines gebrauchten (oder doch neuen?) Grammophons an den Überführten, gemeinsame Bekannte oder Erinnerungen an eine Kampfzeit, die weit zurückliegt, aber plötzlich so wirkt wie heute ein Google-Treffer auf eine Jugendsünde aus dem Jahr 1997.
Wenn es doch gerechte, eindeutige Maßstäbe für die Bewertung einer Tat, einer Parteibiographie gibt, mag die Offenlegung der Kontaktschuld zum Verbrecher das gebotene Mittel sein – aber warum nicht frei heraus damit? Warum feilt Charlottes Mann wochenlang an jeder Formulierung? Ist das alles so leicht mißzuverstehen? Ist die Bekanntschaft mit einem, der im Schauprozeß geständig war, bereits ein Schuldgrund? Sind solche Maßstäbe gerecht? Oder weiß die Partei einfach mehr, und man selbst verbrämt sich den unaufmerksamen Umgang mit dem »Element« aufgrund bürgerlicher Verhaltens- und Bewertungsrückstände? Dieses Leben auf dünnstem Eis wird endlich ausgesprochen, als am Abend vor der Verhaftung ein Ehepaar Bekannte und ehemalige Kollegen zu einer Geburtstagsfeier einlädt. Die Hälfte kommt nicht (Kontaktangst), ein paar können gar nicht mehr kommen (bereits verhaftet) und der Rest? Sitzt zusammen, tastet ein wenig – dann brechen die Zweifel auf: »Inge, als spräche sie zu niemandem: Als ich in die Partei eintrat, da waren sieben Leute im Politbüro. Von den sieben ist einer heute der unumstrittene Führer, und fünf sind Volksfeinde. – Paul sagt: Du willst doch nicht ernsthaft bezweifeln, dass das objektiv Volksfeinde sind. – Ich bezweifle gar nichts, sagt Inge.
Aber wenn du morgen verhaftet wirst, bist du dann auch ein Volksfeind?« »Intelligenz schützt nicht vor Ideologisierung«, sagt Ruge. Sein Zeitroman Metropol ist das literarische Mahnmal für die zeitlose Gültigkeit dieser These. Das Folterbesteck rostet nicht: Verdacht, Denunziation, Unsicherheit, Vereinzelung, Stigmatisierung, Ratlosigkeit – oder weiß jemand Rat? »Schreib an Stalin, sagt Hilde.« Eine halbe Seite weiter: »Es dauert lange, bis sie begreift, dass es an ihre Tür pocht.«
___________________
Metropol von Eugen Ruge kann man hier bestellen.