Die Axt aus der Steppe erschien erstmalig 1974, ein Jahr nach dem apokalyptischen Alptraum Das Heerlager der Heiligen, ein Werk, das den damals 48jährigen Jean Raspail im Laufe von »fünfzehn Monaten schöpferischer Erregung« an die Grenzen seiner Kräfte gebracht hatte. Die Axt aus der Steppe ist gewissermaßen das Resultat einer Genesung und einer Rückbesinnung des Autors auf die Quellen seiner Inspiration, wenn nicht auf »das Wesentliche« des Lebens selbst: »Das Fortleben des Menschen, wenn er dafür ein Bewußtsein hat, so erbärmlich und in grotesker Weise nutzlos er sich selbst in Stunden der Mutlosigkeit vorkommen kann.«
Für Raspail schöpft der Mensch »die Kraft, fortzubestehen« aus dem Bewußtsein, lebendiges Glied einer Kette von Ahnen und Träger einer Tradition zu sein. Wahre Menschen existieren nur dort, wo der Faden nicht abgerissen und die Kette nicht zerbrochen ist; und dennoch ist die Geschichte eine »Leichenkammer« voller Risse und Brüche, voller Auf- und Untergänge von Völkern, Nationen, Sprachen und Rassen. Als mythisches Symbol dieser Ahnenkette gilt dem Autor ein Familienerbstück, das er wie einen Kultgegenstand ehrfürchtig auf seinem Schreibtisch aufbewahrt: Eine antike Axt aus schwarzem Stein, »den vor dreitausend Jahren jemand poliert hat, der mir womöglich ähnelte.«
Diese Axt wird zum Ausgangspunkt einer melancholisch-romantischen Reise, in der sich Dichtung und Wahrheit auf sehr persönliche Weise vermischen. Das große Thema sind die »verlorenen Völker«, »vergessenen Minderheiten« oder »Zeugen-Völker«, denen Raspail im Laufe seines Lebens begegnet ist und von deren »unschätzbarem Weiterleben bis in unsere Tage« er berichten will. Seine Reisen führen ihn in die Karibik, zur »Halbgötterdämmerung« der Urus in den Anden, nach Rußland zu den Nachkommen der napoleonischen Truppen, nach Japan zu den Resten der Ainu, die das Land beherrschten, »als Cäsar noch nicht geboren war«, und den Katakomben-Katholiken, die Jahrhunderten grausamer Verfolgung standhielten, auf die Katalaunischen Felder, wo sich einst Römer, Hunnen und Westgoten schlugen, in das Languedoc, Heimat seiner Familie, und natürlich in sein geliebtes Patagonien. Wie manche Maler immer dasselbe Motiv in unendlichen Variationen malen, so hat Raspail im Grunde immer wieder dasselbe Buch geschrieben.
Nicht anders Die Axt aus der Steppe: Man begegnet hier der Quintessenz des Stoffes, aus dem der Autor sein Lebenswerk geschöpft hat. Ob sich die Szene wirklich abgespielt hat oder von Raspail nur erträumt oder zumindest beträchtlich ausgeschmückt wurde – in seiner Huldigungsrede an den mit kurzärmeligem Hemd, geflickter Hose und improvisierter Kommandeurschärpe bekleideten Karibenkönig der antillischen Insel Dominica, die großteils von riesenhaften schwarzen Sklavenabkömmlingen bevölkert ist, erkennt man unschwer die Könige ohne Reich und Traditionalisten auf verlorenem Posten wieder, die sein Werk bevölkern: »Überall werden Sie besiegt. Außer auf Dominica, wo einige blutüberströmte Überlebende es schaffen, sich zum letzten Gefecht zu versammeln. Und da, Sire, haben Sie zum ersten Mal die Gelegenheit, Ihr Volk zu zählen. Kaum Tausend an der Zahl! Ein Schattenvolk. Aber diese Schatten sind noch immer furchteinflößend, und das ist das Wunder, das Sie retten wird.«
Unweigerlich endet das Buch bei den erschütternden Urszenen, deren Anblick den jungen Weltreisenden für immer geprägt hat: Im patagonischen Sturmwetter erblickte Raspail die letzten »Alakaluf-Phantome«, die sterbenden Seenomaden, Männer, Frauen und Kinder, von denen ihn »eine Kluft von zehntausend Jahren« zu trennen scheint. Am Ende seiner Schilderungen beschleicht den Autor der Verdacht, die schwarze Axt sei vielleicht doch nicht das Symbol der ununterbrochenen Kette, sondern ein »Unglücksbote«, der »all jene mit dem Siegel des Todes zeichnet, die dem Lauf der Jahrhunderte getrotzt haben«. Wird auch »der letzte Franzose« eines Tages in die ewige Nacht gehen, die schon die Alakalufs, die Urus, die Kariben verschlungen hat? Trotz des düsteren Ausblicks erfüllt das Buch ein ebenso heiterer wie tragischer, ironischer wie ernster Glanz, der ähnlich veranlagte Seelen eher erheben als betrüben wird. Zugleich ist es eine Klage über den Verlust der Vielfalt und des Verborgenen, Unentdeckten, Seltenen, Wunderbaren, ein Lobgesang auf Unterschiede und Grenzen, in einer Welt, in der jeder Fleck des Erdballs ausgeleuchtet worden ist und die Mühlen der Moderne unerbittlich ihr nivellierendes Werk vollziehen.
»Ich bin ein glühender Verfechter von Grenzen, solange man diese ohne unnötige Schikanen passieren kann. Aber ich wünschte, man würde jeden Reisenden mit einem Detektor durchleuchten lassen, der Dummheit und Vulgarität unbarmherzig zurückweist und nur wenige passieren läßt, damit sie die Unterschiede genießen und sich daran satt trinken können. Ich sehne von ganzem Herzen eine Vervielfachung der Grenzen ad infinitum herbei, in deren Schutz die so kostbaren Unterschiede aufhören könnten, zu schwinden und sich bis zu einer neuen Blüte sogar eifrig weiter entwickeln würden.« Mit anderen Worten: Wer die »romantische« Variante des ethnopluralistischen Fühlens und Denkens erfassen will, versenke sich in dieses herrliche Buch. Pflichtlektüre für jeden Raspail-Fan, makellos und flüssig übersetzt von Konrad Weiß!
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