Als ich das erste Mal nach Montenegro reiste, war es unabdingbar, als ersten Bestimmungsort die Villa Andrić in Herceg Novi anzuvisieren. Benannt nach seinem langjährigen Besitzer Ivo Andrić (1892 – 1975) ist das Haus samt großzügigem Garten heute eine Art Kreuzung aus Parkcafé und Museum.
Man kann dort einen domaća kafa trinken und sich einfühlen in das Ambiente dieser nach wie vor serbisch geprägten Stadt, in der nicht zuletzt ein osmanischer Uhrturm historische Assoziationen weckt. Dabei war der Namensgeber der Villa, die er nach dem Tod seiner Frau im März 1968 nie mehr betreten hat, weder (orthodoxer) Montenegriner noch Serbe, sondern in Bosnien geborener (katholischer) Kroate, der den virulenten Chauvinismus aller Volks- und Religionsgruppen im südslawischen Raum als Feind jeder »ehrlichen Gemeinschaft« brandmarkte, der einem »Schauer, der nicht aufhört«, gleiche. In allen Teilen des alten Jugoslawiens hatte Andrić leidenschaftliche Leser – aber heute hat er ebendort auch leidenschaftliche Gegner.
Michael Martens, dem eine in jeder Hinsicht herausragende Biographie gelungen ist, zitiert einen ironischen Spruch, wonach die Serben Andrić hassen würden, weil er zwar als Serbe starb, aber doch als Kroate geboren wurde, wohingegen die Kroaten ihn hassen, weil er als Serbe starb, während die muslimischen Bosnier ihn hassen, weil er schlichtweg geboren worden sei. Martens selbst trifft noch präziser den Kern, wenn er schreibt:
»Von den Kroaten trennte ihn viel, mit den Serben verband ihn längst nicht alles. Der Jugoslawismus war die einzige politische Idee, der er ein Leben lang verbunden blieb.«
Die südslawische Einheit von Slowenien bis Mazedonien war Andrićs Lebenstraum, und diesen träumte und lebte er so bedingungslos wie systemunabhängig. Konsequenterweise diente er sowohl der Monarchie vor dem Zweiten Weltkrieg wie dem sozialistischen Versuch unter Josip Broz »Tito« nach 1945 ohne ausdrückliche Abweichungen von der Generallinie des jeweiligen Regimes, was ihn pragmatisch bis opportunistisch erscheinen läßt. Die weichenstellende Entscheidung für Jugoslawien fiel dabei früh.
Zunächst als junger Kroate aktiv in der serbisch geprägten, aber bereits panjugoslawisch orientierten Anti-Habsburg-Bewegung »Junges Bosnien«, absolvierte er sein Abitur. Er war zeitweise, nach dem in seinem Sehnsuchtsort Krakau erlebten Kriegsausbruch 1914, als forscher Gegner des k. u. k.-Imperiums inhaftiert und erklomm ab 1918 – dem Jahr, in dem sein Debüt Ex Ponto erschien – dank cleverer Netzwerkgestaltung und seiner polyglotten Sprachvirtuosität die Karriereleiter der jungen jugoslawischen Diplomatie:
Das »Königreich der Slowenen, Kroaten und Serben« wurde 1918 aus der Taufe gehoben und elf Jahre später zum Königreich Jugoslawien, dessen außerordentlicher Gesandter in Berlin er 1939 wurde. Knapp zwei Jahre später, nach dem Bruch zwischen Belgrad und Berlin, wurde er ausgewiesen.
In den Kriegsjahren widmete er seine Schaffenskraft der Literatur und verfaßte seine heute als Hauptwerke geltenden Romane. Er verwandelte, so sein Biograph, »Bosnien in Worte«, setzte aber letztlich dem ganzen Balkan, dieser »Grenzscheide zweier Welten« (Andrić), ein Denkmal. Andrić, der überwiegend in Višegrad an der Drina aufwuchs, schilderte in seinem bekanntesten Werk Die Brücke über die Drina (1945) das Leben an diesem schicksalsschweren Ort in der »Türkenzeit«. Die »Višegrader Chronik« stellt den konkreten Alltag einzelner Individuen genauso plastisch (und empathisch) dar wie die größeren Entwicklungslinien der vor Ort aktiven Großmächte.
Daß nicht zuletzt in Višegrad gleichermaßen einheimische slawische Muslime (bzw. islamisierte Slawen) und slawische Serbisch-Orthodoxe die Konfrontation zwischen Morgen- und Abendland auslebten – mal unter Auspizien der Osmanen, mal der Österreicher – war ein lebenslang bearbeitetes Sujet Andrićs. Die balkanischen Verhältnisse schilderte er luzide, anschaulich, schonungslos, ohne moralistische Beimengungen.
Für sein Œuvre erhielt Andrić 1961 den Literatur-Nobelpreis und ist bis heute der populärste jugoslawische Schriftsteller weltweit – aber schon Jahre vorher konnte er prominente Leser für sich einnehmen. Mit Carl Schmitt, der Andrić 1941 eine deutsche Bibel als Abschiedsgeschenk zukommen ließ, verband ihn das gemeinsame Interesse an Léon Bloy, mit Ernst Jünger traf er auf Vermittlung Schmitts ebenfalls zusammen, in Friedrich Sieburg fand Andrić einen Verehrer.
Gleichwohl wollte er nach dem Weltkrieg die deutschen Kontakte nicht mehr aufleben lassen. Und doch: Andrićs Bewunderer in Deutschland fanden sich auch nach 1945 mitunter im konservativen Spektrum: Die umsichtigste Schau zu Biographie und Werkgenese Andrićs samt internationaler Bibliographie erschien 1992 im Sezession-Vorläufer Criticón.
Ebenso aufschlußreich ist die parallele Ablehnung Andrićs durch Vertreter des Juste Milieu der BRD. Marcel Reich-Ranicki überschrieb 1960 seinen Andrić-Totalverriß in der Welt: »Was kümmert uns Wischegrad?«
Nun, Andrić ist, wie Michael Martens schreibt, tatsächlich »ein Dichter von europäischem Rang«, und wer sein Werk in sich aufgesogen hat, sieht in Višegrad nicht länger mehr ein Kaff mit alter Brücke an der heutigen bosnisch-serbischen Grenze, sondern ein symbolisches Zentrum des Weltgeistes.
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Im Brand der Welten von Michael Martens kann man hier bestellen.