Kulturwissenschaftliche Sammelbände gibt es wie Sand am Meer, einer spezialistischer und jargonbeflissener als der andere. Meist sind sie eifrig dabei, »in die letzte noch unerforschte Grabkammer einzusteigen, die Geschichte des Magenbitters aufzublättern und den Sammlern alter Straßenbahnbillets unter die Arme zu greifen«, wie Caspar von Schrenck-Notzing (»Wir Protektoratskinder«, 1983, in: Konservative Publizistik. Texte aus den Jahren 1961 bis 2008.
Herausgegeben von Patrick Neuhaus, Berlin 2011) seinerzeit über diejenige Hälfte der Buchmessenexponate in Frankfurt 1983 urteilte, die nicht der anderen Hälfte, den »linken Gedankenzwirbler und Meinungseinpeitscher«, zuzuschlagen waren. Auch solche gibt es in den Kulturwissenschaften in zum Teil horrendem Ausmaß: Dekonstruktion, Gender- und »postkoloniale« Studien.
Schrenck-Notzing sah zwei Modelle der deutschen Nachkriegsordnung widergespiegelt: eine »Belehrungsfront« und eine »Konsumfront«, resultierend jeweils aus rooseveltscher Umerziehung oder hayekscher Mästung der Deutschen. Legt man diese Schablone auf die Kulturwissenschaften, die sich seit den 90er Jahren aus den Fächern der ehedem als Geisteswissenschaften berühmten Disziplinen entwickelt haben, sieht man etwas Interessantes: Kulturwissenschaften sind oft hochideologisch und gleichzeitig aufs profane Konsummaterial fixiert.
Im vorliegenden Sammelband nutzen die herausgebenden Großen ihrer Disziplin samt namhaften Beiträgern wie Aleida Assmann und Jürgen Fohrmann zwei aktuelle Kampfbegriffe, nämlich »Identität« und »Haß«, um sie kulturwissenschaftlich zurückzuverfolgen und aufschlußreich zu deuten. Diese historischen Rekonstruktionen sind allesamt instruktiv und – das ist wohl der einzige Lesevorteil von Sammelbänden – auf den Punkt zusammengefaßt. Bei Assmann erfährt der Leser, wie der Begriff der »Kultur« (hier folgt sie Reinhard Kosellecks Beobachtung, in der von ihm so bezeichneten »Sattelzeit« Ende des 18. Jahrhunderts seien Begriffe wie »Völker«, »Revolutionen« oder »Künste« in den Singular versetzt worden), durch Herder ganz gegenläufig pluralisiert worden ist: »Kulturen« gab es ab da nur mehr im Plural.
Kann man heute mit dieser Pluralität noch etwas anfangen, oder macht man sich womöglich des Ethnopluralismus verdächtig? Assmann gibt »Kultur« am Ende eine Mediatorfunktion: Auseinandergetretene gesellschaftliche Teilsysteme lassen sich durch den Kulturbegriff wieder in Beziehung bringen, wie sie es am Beispiel der Diskussion um »Nachhaltigkeit« zeigt. Der Vorteil der »Kultur« gegenüber seinem Konkurrenzbegriff »Volk« ist, daß man sich an ersterem nicht die Finger schmutzig macht. Kultur hat keine »Gene«, so Assmann, sondern reproduziert sich über Sprache und identitätsstiftende Großerzählungen. Jürgen Fohrmann ruft in kulturwissenschaftlichem Jargon in den Wald hinein, daß das neuzeitliche Subjekt, statt sich mit Volk, Heimat und deutscher Kultur zu identifizieren, »reflexiv« seine eigene Kontingenz aushalten müsse.
Daß es ganz so einfach nicht ist mit der simplifizierenden »Komplexitätsreduktion« durch »Identität« wie Fohrmann meint, zeigt eine seinem Beitrag folgende Replik von Lars Friedrich, der schon bei Hölderlin eine ungeahnte Portion Reflexivität vorfindet, wenn dieser davon ausgeht, »das Eigene muß so gut gelernt sein wie das Fremde«. Friedrich Wilhelm Grafs Beitrag über den Haß Gottes ist (ähnlich wie Aleida Assmanns Ausführungen) solange lehrreich, wie er die Geschichte des Haßbegriffes rekonstruiert.
Graf sammelt Belegstellen aus der Bibel, in der von Gottes oder Jesu’ Haß die Rede ist und streift traditionelle Fragen wie die nach einer Differenzierung zwischen dem Haß auf das Böse und demjenigen auf den »Bösewicht«.Schon Augustinus warnt davor, den göttlichen Haß als tobende Leidenschaft Gottes mißzuverstehen. Grafs letzter Satz ist daran gemessen unerklärlich: »Man sollte im theologischen Diskurs so konsequent sein zu bestreiten, daß Haß eine Eigenschaft Gottes ist.« Klarer Fall von: non sequitur. Aus dem menschlichen Mißverständnis des göttlichen Hasses folgt nicht dessen Nichtexistenz. Bei Dan Diner wird es umerzieherisch, die »Belehrungsfront« bricht durch. An die Stelle des Begriffs »Identität«, den er als »Schwundbegriff« charakterisiert, soll der Begriff der »Zugehörigkeit« (belonging) treten.
Der Grund liegt für ihn nicht etwa darin – hier könnte man Diner ja rechtgeben –, daß bestimmte Begriffe, eben »Schwundbegriffe«, exakt dann inflationär beschworen werden, wenn ihr Gegenstand schmerzhaft abhandenkommt, sondern darin, daß das Judentum keine Identität habe. Und weil das so ist, darf das auch kein anderes Volk mehr: Die »Auflösung traditionell gestifteter Bindungen« tritt typisch in der »jüdischen Existenzerfahrung« auf, wodurch Juden als »Pioniere der Hochmoderne« ausgezeichnet sind. Wenn Kulturwissenschaften historisch ausholen, sind sie unglaublich nützlich und öffnen unbekannte Archive. Wenn sie aber das Gefundene zur moralischen Erziehung zurichten und das Langzeitgedächtnis einer Kultur demokratisieren wollen (so Aleida Assmann am Schluß ihres Beitrags Seyla Benhabib zitierend), werden sie problematisch. Ihre Selbstreflexion hat erst begonnen – Schrenck-Notzings Gedanken könnten sich dafür lohnen.
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Identität – Hass – Kultur von Carl Friedrich Gethmann und Friedrich Wilhelm Graf kann man hier bestellen.