Carl Friedrich Gethmann, Friedrich Wilhelm Graf: Identität – Hass – Kultur

Carl Friedrich Gethmann, Friedrich Wilhelm Graf: Identität – Hass – Kultur, Göttingen: Wallstein 2019. 260 S., 18 €

Caroline Sommerfeld

Caroline Sommerfeld ist promovierte Philosophin und dreifache Mutter.

Kul­tur­wis­sen­schaft­li­che Sam­mel­bän­de gibt es wie Sand am Meer, einer spe­zia­lis­ti­scher und jar­gon­be­flis­se­ner als der ande­re. Meist sind sie eif­rig dabei, »in die letz­te noch uner­forsch­te Grab­kam­mer ein­zu­stei­gen, die Geschich­te des Magen­bit­ters auf­zu­blät­tern und den Samm­lern alter Stra­ßen­bahn­bil­lets unter die Arme zu grei­fen«, wie Cas­par von Schrenck-Not­zing (»Wir Pro­tek­to­rats­kin­der«, 1983, in: Kon­ser­va­ti­ve Publi­zis­tik. Tex­te aus den Jah­ren 1961 bis 2008.
Her­aus­ge­ge­ben von Patrick Neu­haus, Ber­lin 2011) sei­ner­zeit über die­je­ni­ge Hälf­te der Buch­mes­sen­ex­po­na­te in Frank­furt 1983 urteil­te, die nicht der ande­ren Hälf­te, den »lin­ken Gedan­ken­z­wirb­ler und Mei­nungs­ein­peit­scher«, zuzu­schla­gen waren. Auch sol­che gibt es in den Kul­tur­wis­sen­schaf­ten in zum Teil hor­ren­dem Aus­maß: Dekon­struk­ti­on, Gen­der- und »post­ko­lo­nia­le« Studien. 

Schrenck-Not­zing sah zwei Model­le der deut­schen Nach­kriegs­ord­nung wider­ge­spie­gelt: eine »Beleh­rungs­front« und eine »Kon­sum­front«, resul­tie­rend jeweils aus roo­se­velt­scher Umer­zie­hung oder hay­ek­scher Mäs­tung der Deut­schen. Legt man die­se Scha­blo­ne auf die Kul­tur­wis­sen­schaf­ten, die sich seit den 90er Jah­ren aus den Fächern der ehe­dem als Geis­tes­wis­sen­schaf­ten berühm­ten Dis­zi­pli­nen ent­wi­ckelt haben, sieht man etwas Inter­es­san­tes: Kul­tur­wis­sen­schaf­ten sind oft hoch­ideo­lo­gisch und gleich­zei­tig aufs pro­fa­ne Kon­sum­ma­te­ri­al fixiert. 

Im vor­lie­gen­den Sam­mel­band nut­zen die her­aus­ge­ben­den Gro­ßen ihrer Dis­zi­plin samt nam­haf­ten Bei­trä­gern wie Alei­da Ass­mann und Jür­gen Fohr­mann zwei aktu­el­le Kampf­be­grif­fe, näm­lich »Iden­ti­tät« und »Haß«, um sie kul­tur­wis­sen­schaft­lich zurück­zu­ver­fol­gen und auf­schluß­reich zu deu­ten. Die­se his­to­ri­schen Rekon­struk­tio­nen sind alle­samt instruk­tiv und – das ist wohl der ein­zi­ge Lese­vor­teil von Sam­mel­bän­den – auf den Punkt zusam­men­ge­faßt. Bei Ass­mann erfährt der Leser, wie der Begriff der »Kul­tur« (hier folgt sie Rein­hard Kosellecks Beob­ach­tung, in der von ihm so bezeich­ne­ten »Sat­tel­zeit« Ende des 18. Jahr­hun­derts sei­en Begrif­fe wie »Völ­ker«, »Revo­lu­tio­nen« oder »Küns­te« in den Sin­gu­lar ver­setzt wor­den), durch Her­der ganz gegen­läu­fig plu­ra­li­siert wor­den ist: »Kul­tu­ren« gab es ab da nur mehr im Plural. 

Kann man heu­te mit die­ser Plu­ra­li­tät noch etwas anfan­gen, oder macht man sich womög­lich des Eth­no­plu­ra­lis­mus ver­däch­tig? Ass­mann gibt »Kul­tur« am Ende eine Media­tor­funk­ti­on: Aus­ein­an­der­ge­tre­te­ne gesell­schaft­li­che Teil­sys­te­me las­sen sich durch den Kul­tur­be­griff wie­der in Bezie­hung brin­gen, wie sie es am Bei­spiel der Dis­kus­si­on um »Nach­hal­tig­keit« zeigt. Der Vor­teil der »Kul­tur« gegen­über sei­nem Kon­kur­renz­be­griff »Volk« ist, daß man sich an ers­te­rem nicht die Fin­ger schmut­zig macht. Kul­tur hat kei­ne »Gene«, so Ass­mann, son­dern repro­du­ziert sich über Spra­che und iden­ti­täts­stif­ten­de Groß­erzäh­lun­gen. Jür­gen Fohr­mann ruft in kul­tur­wis­sen­schaft­li­chem Jar­gon in den Wald hin­ein, daß das neu­zeit­li­che Sub­jekt, statt sich mit Volk, Hei­mat und deut­scher Kul­tur zu iden­ti­fi­zie­ren, »refle­xiv« sei­ne eige­ne Kon­tin­genz aus­hal­ten müsse. 

Daß es ganz so ein­fach nicht ist mit der sim­pli­fi­zie­ren­den »Kom­ple­xi­täts­re­duk­ti­on« durch »Iden­ti­tät« wie Fohr­mann meint, zeigt eine sei­nem Bei­trag fol­gen­de Replik von Lars Fried­rich, der schon bei Höl­der­lin eine unge­ahn­te Por­ti­on Refle­xi­vi­tät vor­fin­det, wenn die­ser davon aus­geht, »das Eige­ne muß so gut gelernt sein wie das Frem­de«. Fried­rich Wil­helm Grafs Bei­trag über den Haß Got­tes ist (ähn­lich wie Alei­da Ass­manns Aus­füh­run­gen) solan­ge lehr­reich, wie er die Geschich­te des Haß­be­grif­fes rekonstruiert. 

Graf sam­melt Beleg­stel­len aus der Bibel, in der von Got­tes oder Jesu’ Haß die Rede ist und streift tra­di­tio­nel­le Fra­gen wie die nach einer Dif­fe­ren­zie­rung zwi­schen dem Haß auf das Böse und dem­je­ni­gen auf den »Bösewicht«.Schon Augus­ti­nus warnt davor, den gött­li­chen Haß als toben­de Lei­den­schaft Got­tes miß­zu­ver­ste­hen. Grafs letz­ter Satz ist dar­an gemes­sen uner­klär­lich: »Man soll­te im theo­lo­gi­schen Dis­kurs so kon­se­quent sein zu bestrei­ten, daß Haß eine Eigen­schaft Got­tes ist.« Kla­rer Fall von: non sequi­tur. Aus dem mensch­li­chen Miß­ver­ständ­nis des gött­li­chen Has­ses folgt nicht des­sen Nicht­exis­tenz. Bei Dan Diner wird es umer­zie­he­risch, die »Beleh­rungs­front« bricht durch. An die Stel­le des Begriffs »Iden­ti­tät«, den er als »Schwund­be­griff« cha­rak­te­ri­siert, soll der Begriff der »Zuge­hö­rig­keit« (belon­ging) tre­ten.

Der Grund liegt für ihn nicht etwa dar­in – hier könn­te man Diner ja recht­ge­ben –, daß bestimm­te Begrif­fe, eben »Schwund­be­grif­fe«, exakt dann infla­tio­när beschwo­ren wer­den, wenn ihr Gegen­stand schmerz­haft abhan­den­kommt, son­dern dar­in, daß das Juden­tum kei­ne Iden­ti­tät habe. Und weil das so ist, darf das auch kein ande­res Volk mehr: Die »Auf­lö­sung tra­di­tio­nell gestif­te­ter Bin­dun­gen« tritt typisch in der »jüdi­schen Exis­ten­z­er­fah­rung« auf, wodurch Juden als »Pio­nie­re der Hoch­mo­der­ne« aus­ge­zeich­net sind. Wenn Kul­tur­wis­sen­schaf­ten his­to­risch aus­ho­len, sind sie unglaub­lich nütz­lich und öff­nen unbe­kann­te Archi­ve. Wenn sie aber das Gefun­de­ne zur mora­li­schen Erzie­hung zurich­ten und das Lang­zeit­ge­dächt­nis einer Kul­tur demo­kra­ti­sie­ren wol­len (so Alei­da Ass­mann am Schluß ihres Bei­trags Sey­la Ben­ha­bib zitie­rend), wer­den sie pro­ble­ma­tisch. Ihre Selbst­re­fle­xi­on hat erst begon­nen – Schrenck-Not­zings Gedan­ken könn­ten sich dafür lohnen.

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Iden­ti­tät – Hass – Kul­tur von Carl Fried­rich Geth­mann und Fried­rich Wil­helm Graf kann man hier bestel­len.

Caroline Sommerfeld

Caroline Sommerfeld ist promovierte Philosophin und dreifache Mutter.

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