Haben Identitäten per se etwas Fluides und Willkürliches an sich? Der konstruktivistische Nationalismus-Forscher Ernest Gellner (1925 – 1995) vertrat – zugespitzt zusammengefaßt – die Theorie, wonach Befürworter eines nationalen Gedankens sich ihre Nation von oben herab schufen, eine Nation »erfanden«, während es dafür kaum faktische objektive Erfordernisse – Abstammung, Sprache, Geschichte usw. – gab.
Dieser Ausdruck eines verkehrten Bewußtseins, das heute im liberalen wie linken kosmopolitischen Milieu hegemonial ist, erfährt nun Unterstützung von einem Philosophen. Kwame Anthony Appiah (Jg. 1954) macht sich in seiner Schrift Identitäten daran, die Fiktionen der Zugehörigkeit darzulegen. Nur: Das gelingt ihm nicht. Seine Hauptthese verspricht zunächst Spannendes: »Unsere« Denkweisen stammen oftmals aus dem 19. Jahrhundert bzw. verwenden dessen Kategorien. Im 21. Jahrhundert gebe es neue Möglichkeiten, Problemfelder, Herausforderungen – dementsprechend sei es Zeit, aktuelle Fragestellungen zur Identität zeitgemäß zu diskutieren.
Allein, dies folgt nicht im Rahmen des selbst gestellten Anspruchs. Appiah legt mit diesem Buch vielmehr den Versuch vor, die eigene identitäre Zerrissenheit ideologisch zu verklären und damit aufzuwerten. Er räumt ein, daß er seit mehr als drei Jahrzehnten an diesem identitätspolitischen Thema, das er selbst explizit auf seine verschiedenartige Herkunft – britisch-ghanaisch-kosmopolitische Familienkonstellation – zurückführt, arbeitet. Vielleicht ist er deshalb so versessen darauf, tradierte Gemeinschaften und identitätsbildende Marker vermeintlich zu dekonstruieren. Identität, so Appiah, sei schlechterdings ein »Tun«, kein »Ding«, und als solches steten Veränderungen (offenbar: ohne Konstanten) unterworfen.
Eine omnipräsente Form, Identität zu konstruieren, sei für Menschen die Nation – und diese erklärt Appiah noch abwegiger als Gellner: »Eine Nation«, so Appiah, »ist eine Gruppe von Menschen, die der Ansicht sind, gemeinsame Vorfahren zu haben, und denen diese angebliche Tatsache zudem auch wichtig ist.« Solcherlei »Definitionen« lassen den Leser ratlos zurück. Deren akademischer Anspruch bleibt weit hinter der – tatsächlich zu diskutierenden – Kritik an Nationalismen aller Couleur und altväterischem Nationalstaatsdenken, formuliert von so unterschiedlichen Denkern wie Alain de Benoist, Benedict Anderson, Alexander Dugin oder Stuart Hall, zurück.
Seine Thesen erscheinen selbst dort abwegig , wo Appiah ins Konkrete zu übergehen versucht. Denn als Beispiel für eine ethnokulturell und religiös vielfältige funktionierende Nation (im Gegensatz zu »klassischen«, volklich eher homogenen Nationen) nennt er Singapur, wo unterschiedliche Identitäten zusammenwirken und ein Ensemble abgeben. Was Appiah unterschlägt: Der multiple Sonderfall Singapur funktioniert in dieser Art und Weise nur, weil eine autoritäre DNA die Stadtstaatskonstruktion prägt und die unangefochten regierende »Volksaktionspartei« seit 1959 einen durchaus illiberal gesetzten Rahmen aufrecht erhält, an den sich alle Volks- und Religionsgruppen bedingungslos zu halten haben.
Appiahs Überleitungen zu kulturellen Identitäten und ihrer vorgeblich beliebigen Ausgestaltung durch das freie rationale Individuum selbst machen die Sache nicht besser, leiten aber zu seinem finalen Thema, der Genderthematik, über, die »uns aus alten patriarchalischen Unterstellungen befreit hat«, und ohne die es ihm »nicht möglich gewesen (wäre), als ein schwuler Mann zu leben, der mit einem anderen Mann verheiratet ist«. Wiederum wird deutlich, daß Appiahs Studie vor allem der eigenen hybriden identitätspolitischen Vergewisserung dient, nicht aber dem objektiven Erkenntnisgewinn. Allenfalls liefert er fragmentarische Ideologieproduktion für Anywheres. Daß diese Mangelware für Lehrstühle in Yale, Princeton, New York, Duke und Harvard ausreicht, spricht Bände über den universalen Erfolg des kosmopolitischen Scheins.
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Identitäten. Die Fiktionen der Zugehörigkeit von Kwame Anthony Appiah kann man hier bestellen.