Es ist womöglich das liebloseste Rowohlt-Cover seit je, aber dennoch eines der formidabelsten Bücher des Herbstes 2019. Ein Sachbuch, das zugleich ein Krimi ist: Voilà! Der freie SPIEGEL-Autor Juan Moreno schreibt einen minutiösen Bericht darüber, wie er den festangestellten SPIEGEL-Reporter Claas Relotius als Lügenbold enttarnte. Das ist enorm unterhaltsam, es ist ungemein spannend, aber es ist kein Trash.
Keine Neidgeschichte. Die SPIEGEL-Chefs wollten Morenos Hinweise lange, viel zu lange Zeit, aber genauso deuten: Eine Krähe will der anderen ein Auge aushacken – das war völlig unmöglich, das ging gar nicht! Sämtliche – höflich formulierte – Hinweise seitens Moreno, daß hier offenkundig gefaked werde, ignorierten die SPIEGELmänner. Sie leiteten die skeptischen Mails Morenos zwecks Klärung schlicht an den Hochstapler weiter. Erinnern wir uns an die Causa Relotius, Dezember 2018? Ein medialer Fälschungsskandal flog auf, gegen den die Stern-Lügengeschichte mit den angeblichen »Hitlertagebüchern« (1983) geradezu als kunstvoller Slapstick-Quikkie verblaßte.
Mit Relotius war es so: Dieser Kerl war nicht irgendein Typ, der irgendwelche Promi-Interviews gefälscht hat wie Tom Kummer. Sowas hatte es gelegentlich gegeben. Kurios, aber vernachlässigbar. Claas Relotius hingegen war die große Hoffnung im Reportagebetrieb. Im SPIEGEL war der rotblonde Hanseat (*1985) für höhere Weihen vorgesehen. Er lieferte Wahnsinnstexte. Er sprach mit Leuten, die für Journalisten eigentlich unerreichbar waren. Er war ein Wunder. Und er war so einfühlsam! Er schrieb solche Texte, die den Lesern die Tränen in die Augen trieben. Dicht dran. Authentisch. Kraß Relotius erhielt dutzende Preise. Unter anderen viermal in fünf Jahren den deutschen Reporterpreis.
Das hatte noch keiner geschafft. Relotius war eine Art Gott. Er hätte beizeiten noch weiter aufsteigen können (die SPIEGEL-Crew umwarb ihn heiß), aber er war so bescheiden und gut. Seine jüngere Schwester, heißgeliebt, litt an Krebs, und er brauchte einfach die Zeit für ihre Pflege. 2018 wurde der freie, häufig für den SPIEGEL tätige Reporter Juan Moreno beauftragt, über die Grenzsituation zwischen Mexiko und den USA zu berichten. Moreno sollte einen Flüchtlingstreck begleiten, Relotius sollte eine weiße Bürgerwehr gegen die Einwanderer »infiltrieren«. Solche Truppen waren schwer zugänglich. Wunderkind Relotius schaffte es.
Es entstand ein blumiger Bericht über krasse Typen ohne Ladehemmung. Am Ende des Stückes drückt einer der Grenzwächter wirklich ab. Moreno fand daran, am Bericht seines hochgelobten Co-Autoren, einiges fragwürdig. Vieles! Er bat seine Vorgesetzten um Hilfe. Er wies Lücken in der Relotius-Rechereche auf. Mehrmals. Mehrmals ohne Erfolg. Ihm wurde von den SPIEGEL-Bossen Rufmord vorgeworfen. Moreno, vierfacher Familienvater, kämpfte nicht nur um seine Ehre, sondern letztlich um seine Stelle, sein Brot! Moreno, derart von der Redaktion abgewiesen, heftete sich letztlich nahezu besessen an Relotius’ Spuren. Er kam ihm auf die Schliche – und zwar dutzende- nein hundertemal. Nicht nur das Treffen mit der rassistischen Bürgerwehr war ein Fake.
In ungezählten anderen Artikeln hatte die vergötterte Nachwuchshoffnung Relotius sich nachweisbar bei ihrer eigenen Phantasie bedient: Nur ein Beispiel: Traute Lafrenz, letzte Überlebende der »Weißen Rose«, die eigentlich jedes Interview verweigert, zitiert er so: »Deutsche, die strecken auf offener Straße den rechten Arm zum Hitlergruß, wie früher.«
Lafrenz hatte das in Wahrheit nie gesagt. Auf seiner schwindelerregenden und aufwendigen Recherche stößt Moreno auf ungezählte ausgedachte Szenerien, Sätze, Biographien. Relotius, nebenbei, hat auch keine Schwester. Das alles ist einer Zeitschrift durchgegangen, die sich für ihre einzigartige »Faktencheck-Abteilung« rühmt! Moreno: »Natürlich war Relotius ein tendenziell linksliberaler Haltungsjournalist, der Texte schrieb, bei denen er davon ausging, dass sie beim SPIEGEL gut ankommen.« Moreno (dem bis dato vom SPIEGEL keine Festanstellung angeboten wurde) schreibt selbstkritisch, ernst, ehrlich. Es ist eine eigene Kunst, einen derart unglaublichen und verrückten Fall so aufzuarbeiten, daß es nicht reißerisch daherkommt. Das versteht man unter exzellentem Journalismus. Ein Musterstück!
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