Es ist doch ein Kreuz mit diesem Mainstream! Kaum provoziert man sie, wollen sie alle mitprovozieren. Der Sammelband mit dem Titel konservativ?! (in ganz progressiver Kleinschreibung und Interpunktion übrigens, oder ist das schon wieder konservativ?) beruht auf einer Tagung, in deren Folge hundert weitere Leute der Aufforderung gefolgt sind, jeder drei Seiten zum hingeworfenen Stichwort »konservativ« hinzuwerfen. Da finden sich Namen wie Cem Özdemir, Petra Pau, Gregor Gysi oder Ralf Stegner, von denen man sich Konservatismus-Bashing erwartet und auch geliefert bekommt, aber selbst sie liebäugeln.
Dann finden sich auf der anderen Seite Thilo Sarrazin, Vera Lengsfeld oder Uwe Tellkamp, auch hier: geliefert wie bestellt. Der Überdruß am politischen Riß, am gesäßgeographischen Lagerkampf, an Freund und Feind, hat seinem Herausgeber zufolge diesen Sammelband motiviert. Endlich wollte er mal Reflexionen aus dem beschädigten Leben lesen statt die immergleichen Vorwürfe. Der Mainstream schnappt sich den Begriff des Konservativen, dreht und wendet ihn, undheraus kommt bei zwei Dritteln der Beiträge das, was ein Grandseigneur des Konservatismus, Hermann Lübbe, in seinem Schlußtext in die Parole faßt: »Politischer Konservatismus – das ist der politische Wille, in einer rasch zusammenwachsenden Welt sich in der Konsequenz seiner unverfügbaren Herkunft zukunftsfähig zu halten«.
Ist das nicht langweilig? Langweilig ist, was alle machen. Die Autoren finden fast durch die Bank Konservatismus gut, gehen meist in sich, fördern dies und jenes konservative Sentiment oder Ressentiment, Biographiestückchen, Bibel‑, Burke- oder Hegelzitat zutage, aber »zukunftsfähig«, das wollen sie dann doch alle sein. »Immer wieder ein neues Ja bauen« (Wolfgang Schäuble), »Unterwegs bleiben – Erhaltenswertes bewahren und ausbauen« (Rita Süssmuth), »Konservativ heißt reformfähig« (Thomas Sternberg). Man ist doch kein Reaktionär. Und auch bitte nicht »rechts« oder der »Konservativen Revolution« nahestehend. Wenn Konservatismus als Distanzierungsgeste herhält, wird er unerträglich.
Der Band konservativ!? lädt zum Überblättern ein. Das ist seine gute Seite. Auf die Idee, unakademisch lauter Miniaturen zu versammeln zur Zerstreuung der Leser muß man erst einmal kommen. Blütenlesend, tonfallvergleichend, leider auch manchmal ein wenig inquisitorisch scharrend und von der notorischen Begriffsgeschichte »von lat. conservare statt von Konserve« ermüdet, liest man immer weiter. Plötzlich scharrt man dann einen Fund frei. Besonders die überhaupt nicht begriffsgeschichtlichen sondern privaten Geschichten bergen solche. Svenja Flaßpöhlers Ehestreit um den Familiennamen ihrer Kinder, Susanne Gaschkes Lob des Alkoholtrinkens zu Mittag, Hans Pleschinskis Vater, der Schmied, oder Yehuda Aharon Horovitz’ Beschreibung des Conservative Judaism sind Funde.
Funde gibt es auch, wenn es inhaltlich interessant wird: Christoph Türcke zieht die Fäden des Change Managing von der Nachkriegsumerziehung bis zur Gegenwartspädagogik, Lorenz Jäger historisiert abschließend den allen Konservativen nachgesagten »autoritären Charakter«, und endlich würdigt jemand Gerd-Klaus Kaltenbrunners Verdienst, den Konservatismus nicht bloß e contrario zu definieren, sondern mit einem Lebensführungsauftrag zu füllen.
Wahrscheinlich sind es dann ganz am Schluß die drei Formeln, die der Philosoph Klaus‑M. Kodalle findet, die über konservatives Verhalten das Wesentliche aussagen: 1.) Der Zeitgeist wirkt hinterrücks, erst im Nachhinein bemerkt man seine eigene Angepaßtheit, 2.) der Konservative leistet katechontischen Widerstand angesichts der Sogkraft des Wir-Gefühls, so daß 3.) das Ethos der Nachsichtigkeit und Selbstzurücknahme geboten ist. Mögen sich die Sammelbandautoren alle drei Formeln immer wieder vergegenwärtigen. Und wir Leser genauso. Wir wollen ja konservativ sein.
________________
konservativ?! von Michael Kühnlein kann man hier bestellen.