Dieses Buch ist ein Beweis dafür, daß Belletristik nicht zwangsläufig a) gut abgehangen, b) irgendwie weltanschaulich auf Linie, c) allerhöchste Sprachkunst sein muß, um des Lesens wert zu sein. Das sagt eine, die ihren Kindern beibringt, daß »reine Unterhaltung« jenseits des Gesellschaftsspiels Zeitvergeudung sei. Bahnhofskioskhefte oder sogenannte Jugendliteratur – das ist so sinnvoll wie Schunkeln. Man kann es einfach lassen.
Wenn man Du bis es vielleicht als »zeitgeistkritischen« Unterhaltungsroman rubrizieren wollte, dann stünde er in einem Regal mit Bov Bjergs Auerhaus oder, hochgegriffen, Anthony Burgess’ Clockwork Orange. Gute Gegenwartsliteratur erfaßt traumwandlerisch und subkutan Facetten des Zeitgeists – und zwar auf einem deutlich höheren, sublimeren Niveau als es Mario-Barth-Witze oder sämtliche Känguruh-Chroniken tun. Der Schauspieler Axel Prahl hat für den Rücktitel dieses Buchs ein großes Lob beigesteuert: »… so geschmeidig in Worte gegossen, dass ich das Buch bis zur letzten Seite nicht aus der Hand legen wollte.« Mißtrauen: ja. Aber: stimmt! Protagonist ist Lehrer Timo Tripke, Typ Normcore. Er will seine Ruhe. Zu Hause hat er eine langweilige, zufällige Frau (die bald geht), im Auto hört er Depeche Mode, um ein bißchen in die Gänge zu kommen.
Timo Tripke, das ist das Gesicht der BRD. Er ist nicht so häßlich, daß die Leute gucken. Als Kind war er niedlich. Aber dann … »Die Stirn war lang wie eine Litfaßsäule. Das ohnehin dünne Haar zog sich weiter zurück. Schon mit 21 wirkte er wie ein junggebliebener 35-jähriger, dessen Gesicht aus dem Lot geraten war.« Er war ein »Versehrter, der die Pubertät überlebt hatte.« Klassisch also. Im Geschichtsunterricht bespaßt Tripke seine Schüler mit Audio-Tapes, die er selbst aufgenommen hat. Gerade sucht er die Kassette »Von der Dolchstoßlegende bis zur Weimarer Republik«. »Timo Tripke kroch unter den Tisch, schaltete den Stromverteiler an und sah dabei zu, wie der alte Rechner ratternd hochfuhr. Aus dem Hintergrund drangen hölzerne Dialogfetzen ins Arbeitszimmer, als probe eine Laienschauspielgruppe – der Computer verarbeitete Systemupdates. Zumindest bei ihm gab es etwas Neues.«
Damit ist der Ton vorgegeben. Bei der (üblichen) Kassettenstunde gibt es diesmal Bandsalat. Tripke muß reagieren und die Sachlage »Weimarer Republik« freihändig einführen. Äh … »Ich mach mal einen Kreis, und in dem tragen wir die unterschiedlichen Gruppen zusammen.« Tripke malt einen Kreis an die Tafel und merkt, wie ihn alle anstarren: »Die Müden, die Streber, die Dummen, die Skater, die Hiphopper, die Reiterinnen, die Nazis, die Muslime, der Zeuge Jehova, der auf Drogen.«
Denn der stinknormale Deutsch- und Geschichtelehrer hat den perfekten kreis hingezirkelt! Auf Zuruf tut er es nochmal. Ein idealer Kreis, wie er werkzeugfrei eigentlich nicht zu erschaffen ist! Schüler Levi Eismann stellt diese unbeabsichtigte Show »ins Netz«. Rasch hat die Tripke-Performance anderthalb Millionen Klicks. Und das ist erst der Anfang. Leider ist der Lehrer nicht erfreut darüber, daß er heimlich gefilmt wurde. Auf dem Gang, im Geheimen – dachte Tripke! – setzt es eine kleine Ohrfeige gegen Levi Eismann. Die nun wurde ihrerseits aufgenommen, und fortan wird Tripke erpreßt. Was sich nun anbahnt, spottet jeder Beschreibung.
Tripke wird – nolens volens – zum absoluten Internet-Hype. Ausgerechnet er, der gerade noch gestöhnt hatte: »Online, wenn ich das schon höre!« Nun ist er berühmt, und zunächst jagt ein Volltreffer den nächsten. Er darf als Promi bei der Sendung »Quiz’ was!« mitmachen. Fast schon routiniert schwatzt Tripke mit Moderator Gernot Laub, der »so überzeugend nah an der Durchschnittlichkeit seines Gegenübers« wirkte, »dass nichts außer seinem bekannten Gesicht an den himmelweiten Beliebtheits- und Klassenunterschied erinnerte.« An der 125.000-Euro-Frage scheitert er – mit fulminantem Abgang: Mehr aus Verlegenheit spricht Tripke ein Abschiedsfazit in die Kameras: »Fun ist, wenn’s Spaß macht.« Damit ist der Spruch des Jahres in der Welt.
Bald sitzt der biedere Lehrer im Hubschrauber neben einer tätowierten jungen Frau, die ihm kreischend die Fingernägel in den Oberschenkel spießt: »Ich bin voll am Struggeln, Alter! Lasst mich raus!« Es hilft alles nichts. Tripke fliegt auf Einladung des TV-Senders PTL ins »Camp Grüne Hölle« nach Australien. Die Dinge überschlagen sich bis zur letzten Seite. Klingt nach kunstlos überdrehtem Irrsinn? Mitnichten. Du bist es vielleicht ist ein vielschichtiger, hintersinniger moderner Entwicklungsroman, der mit sichtlichem Vergnügen ausgedacht wurde und sich mitreißend liest.
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Isarpreiss
Ich bin leider etwas hinterher mit dem Abarbeiten der Literaturempfehlungen von Frau Kositza - aber will es trotzdem noch versuchen.
Falls jemand den Roman auch gelesen hat, würde mich dessen Meinung zum nur angedeuteten Ereignis in Bens Vergangenheit interessieren (S. 249). Was ist da wohl vorgefallen?