Felix Scharlau: Du bist es vielleicht. Roman

Felix Scharlau: Du bist es vielleicht. Roman, Mainz: Ventil 2019. 261 S., 15 €

Ellen Kositza

Ellen Kositza ist Literatur-Redakteurin und Mutter von sieben Kindern.

Die­ses Buch ist ein Beweis dafür, daß Bel­le­tris­tik nicht zwangs­läu­fig a) gut abge­han­gen, b) irgend­wie welt­an­schau­lich auf Linie, c) aller­höchs­te Sprach­kunst sein muß, um des Lesens wert zu sein. Das sagt eine, die ihren Kin­dern bei­bringt, daß »rei­ne Unter­hal­tung« jen­seits des Gesell­schafts­spiels Zeit­ver­geu­dung sei. Bahn­hofs­ki­os­k­hef­te oder soge­nann­te Jugend­li­te­ra­tur – das ist so sinn­voll wie Schun­keln. Man kann es ein­fach lassen. 

Wenn man Du bis es viel­leicht als »zeit­geist­kri­ti­schen« Unter­hal­tungs­ro­man rubri­zie­ren woll­te, dann stün­de er in einem Regal mit Bov Bjergs Auer­haus oder, hoch­ge­grif­fen, Antho­ny Bur­gess’ Clock­work Oran­ge. Gute Gegen­warts­li­te­ra­tur erfaßt traum­wand­le­risch und sub­ku­tan Facet­ten des Zeit­geists – und zwar auf einem deut­lich höhe­ren, sub­li­me­ren Niveau als es Mario-Barth-Wit­ze oder sämt­li­che Kän­gu­ruh-Chro­ni­ken tun. Der Schau­spie­ler Axel Prahl hat für den Rück­ti­tel die­ses Buchs ein gro­ßes Lob bei­gesteu­ert: »… so geschmei­dig in Wor­te gegos­sen, dass ich das Buch bis zur letz­ten Sei­te nicht aus der Hand legen woll­te.« Miß­trau­en: ja. Aber: stimmt! Prot­ago­nist ist Leh­rer Timo Trip­ke, Typ Norm­co­re. Er will sei­ne Ruhe. Zu Hau­se hat er eine lang­wei­li­ge, zufäl­li­ge Frau (die bald geht), im Auto hört er Depe­che Mode, um ein biß­chen in die Gän­ge zu kommen. 

Timo Trip­ke, das ist das Gesicht der BRD. Er ist nicht so häß­lich, daß die Leu­te gucken. Als Kind war er nied­lich. Aber dann … »Die Stirn war lang wie eine Lit­faß­säu­le. Das ohne­hin dün­ne Haar zog sich wei­ter zurück. Schon mit 21 wirk­te er wie ein jung­ge­blie­be­ner 35-jäh­ri­ger, des­sen Gesicht aus dem Lot gera­ten war.« Er war ein »Ver­sehr­ter, der die Puber­tät über­lebt hat­te.« Klas­sisch also. Im Geschichts­un­ter­richt bespaßt Trip­ke sei­ne Schü­ler mit Audio-Tapes, die er selbst auf­ge­nom­men hat. Gera­de sucht er die Kas­set­te »Von der Dolch­stoß­le­gen­de bis zur Wei­ma­rer Repu­blik«. »Timo Trip­ke kroch unter den Tisch, schal­te­te den Strom­ver­tei­ler an und sah dabei zu, wie der alte Rech­ner rat­ternd hoch­fuhr. Aus dem Hin­ter­grund dran­gen höl­zer­ne Dia­log­fet­zen ins Arbeits­zim­mer, als pro­be eine Lai­en­schau­spiel­grup­pe – der Com­pu­ter ver­ar­bei­te­te Sys­tem­up­dates. Zumin­dest bei ihm gab es etwas Neues.« 

Damit ist der Ton vor­ge­ge­ben. Bei der (übli­chen) Kas­set­ten­stun­de gibt es dies­mal Band­sa­lat. Trip­ke muß reagie­ren und die Sach­la­ge »Wei­ma­rer Repu­blik« frei­hän­dig ein­füh­ren. Äh … »Ich mach mal einen Kreis, und in dem tra­gen wir die unter­schied­li­chen Grup­pen zusam­men.« Trip­ke malt einen Kreis an die Tafel und merkt, wie ihn alle anstar­ren: »Die Müden, die Stre­ber, die Dum­men, die Ska­ter, die Hip­hop­per, die Rei­te­rin­nen, die Nazis, die Mus­li­me, der Zeu­ge Jeho­va, der auf Drogen.« 

Denn der stink­nor­ma­le Deutsch- und Geschich­te­leh­rer hat den per­fek­ten kreis hin­ge­zir­kelt! Auf Zuruf tut er es noch­mal. Ein idea­ler Kreis, wie er werk­zeug­frei eigent­lich nicht zu erschaf­fen ist! Schü­ler Levi Eis­mann stellt die­se unbe­ab­sich­tig­te Show »ins Netz«. Rasch hat die Trip­ke-Per­for­mance andert­halb Mil­lio­nen Klicks. Und das ist erst der Anfang. Lei­der ist der Leh­rer nicht erfreut dar­über, daß er heim­lich gefilmt wur­de. Auf dem Gang, im Gehei­men – dach­te Trip­ke! – setzt es eine klei­ne Ohr­fei­ge gegen Levi Eis­mann. Die nun wur­de ihrer­seits auf­ge­nom­men, und fort­an wird Trip­ke erpreßt. Was sich nun anbahnt, spot­tet jeder Beschreibung. 

Trip­ke wird – nolens volens – zum abso­lu­ten Inter­net-Hype. Aus­ge­rech­net er, der gera­de noch gestöhnt hat­te: »Online, wenn ich das schon höre!« Nun ist er berühmt, und zunächst jagt ein Voll­tref­fer den nächs­ten. Er darf als Pro­mi bei der Sen­dung »Quiz’ was!« mit­ma­chen. Fast schon rou­ti­niert schwatzt Trip­ke mit Mode­ra­tor Ger­not Laub, der »so über­zeu­gend nah an der Durch­schnitt­lich­keit sei­nes Gegen­übers« wirk­te, »dass nichts außer sei­nem bekann­ten Gesicht an den him­mel­wei­ten Beliebt­heits- und Klas­sen­un­ter­schied erin­ner­te.« An der 125.000-Euro-Frage schei­tert er – mit ful­mi­nan­tem Abgang: Mehr aus Ver­le­gen­heit spricht Trip­ke ein Abschieds­fa­zit in die Kame­ras: »Fun ist, wenn’s Spaß macht.« Damit ist der Spruch des Jah­res in der Welt. 

Bald sitzt der bie­de­re Leh­rer im Hub­schrau­ber neben einer täto­wier­ten jun­gen Frau, die ihm krei­schend die Fin­ger­nä­gel in den Ober­schen­kel spießt: »Ich bin voll am Strug­geln, Alter! Lasst mich raus!« Es hilft alles nichts. Trip­ke fliegt auf Ein­la­dung des TV-Sen­ders PTL ins »Camp Grü­ne Höl­le« nach Aus­tra­li­en. Die Din­ge über­schla­gen sich bis zur letz­ten Sei­te. Klingt nach kunst­los über­dreh­tem Irr­sinn? Mit­nich­ten. Du bist es viel­leicht ist ein viel­schich­ti­ger, hin­ter­sin­ni­ger moder­ner Ent­wick­lungs­ro­man, der mit sicht­li­chem Ver­gnü­gen aus­ge­dacht wur­de und sich mit­rei­ßend liest. 

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Du bist es viel­leicht von Felix Schar­lau kann man hier bestel­len.

Ellen Kositza

Ellen Kositza ist Literatur-Redakteurin und Mutter von sieben Kindern.

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Kommentare (1)

Isarpreiss

6. April 2021 22:54

Ich bin leider etwas hinterher mit dem Abarbeiten der Literaturempfehlungen von Frau Kositza - aber will es trotzdem noch versuchen.

Falls jemand den Roman auch gelesen hat, würde mich dessen Meinung zum nur angedeuteten Ereignis in Bens Vergangenheit interessieren (S. 249). Was ist da wohl vorgefallen?