Vor einigen Jahren war ein kleines Büchlein »Kult« unter (mir bekannten) Rechten aller Couleur: die Novelle Fiume oder der Tod (2004 / 2010) des später von seiner Ehefrau ermordeten Evolianers Oliver Ritter (1960 – 2016). Ritter erzählte die bewegte Geschichte der italienisch-kroatischen Stadt Fiume (heute: Rijeka), die der Dandy-Dichter Gabriele D’Annunzio (1863 – 1938) am 12. September 1919 mit seiner Mannschaft und ihrem Führungskern, den Arditi, einnahm.
Die Erzählung war eine großartige Apotheose: 15 Monate D’Annunzio-Herrschaft wurden zur Feierstunde des Lebens und der Sinne hochgehoben – Ästhetik als Gesetz, Rausch als Freiheit, Genuß im Dienste des Heroismus. Gewiß, Ritter reproduzierte hier meisterhaft einen Mythos; die Realität in einer damaligen Kleinstadt an der Adria war viel profaner, prosaischer, prunkloser. Aber das störte weder Ritter in den 2000er Jahren noch den nationalen Dichter Italiens 80 Jahre vorher, dessen Maxime »Wir wollen die Wahrheit nicht mehr. Gebt uns den Traum!« die exzentrisch-utopische Ader ihres Urhebers auf den Punkt bringt.
Daß die Wahrheit über Fiume eine andere ist als das blumig-heroische »Narrativ« D’Annunzios, seiner Weggefährten und Anhänger, nicht zuletzt vieler Faschisten, tut dem Mythos keinen Abbruch, ist aber evident. Dies macht nicht zuletzt eine nüchterne Studie deutlich, die Kersten Knipp vorgelegt hat. Der Deutschlandfunkjournalist zeichnet des Dichters Leben entlang dessen Motto »Esprimere è vivere« (sich auszudrücken heißt zu leben) über Romane und Weltkriegserlebnisse nach, bevor er über Schlüsselerfahrungen des Porträtierten zur Rebellion von Fiume kommt, die unter dem bei Pindar und Aischilos entlehnten und zum Schlachtruf Fiumes erkorenen »Eia Eia Eia! Alalà!« stehen sollte.
Daß fast 200 Seiten benötigt werden, um zur Causa Fiume und der dort beheimateten, titelgebenden »Kommune der Faschisten« zu kommen, ist begründbar mit einem werkbiographischen und historischen Rahmen, kann jedoch auch als strapazierend beanstandet werden. Fiume jedenfalls war nach dem Ersten Weltkrieg nicht Rom zugesprochen worden, sondern wurde zu einer neutralen Stadt unter Hoheit des Völkerbundes erklärt. Italiens Nationalisten sahen sich in ihrem Standpunkt vom »verstümmelten Sieg« bestärkt, D’Annunzio schwang sich zum Wortführer ihrer Proteste auf. Italiens Regierung stütze ihn und die Seinen nicht? Me ne frego, einerlei. Und so zog man mit einem zusammengewürfelten Haufen von Kriegsveteranen, jungen Nationalisten und Desperados aller Art in die Hafenstadt ein, verspottete den untätig bleibenden Völkerbund und feierte mehr oder weniger fünfzehn Monate lang berauschende Feste, vom Land und von der See her eingekesselt durch alliierte Truppen.
Fiume, das sei die Lebensaufgabe aller Freiwilligen, die Stadt des Opfers und des Selbstopfers, so D’Annunzio; man werde der Welt zeigen, was ein Lebensgefühl erzeugen und gestalten könne. Andauernde Aufmärsche, choreographierte Feier des Personenkults, wilde Orgien und Drogeneskapaden, homosexuelle Partys – das faszinierte denn auch viele Fiume-Legionäre, reizte Dandys und Abenteurer, aber irritierte die anfänglich wohlwollende italienische Mehrheitsbevölkerung. Knipp schildert dies alles plastisch und nimmt das Projekt Fiume wohltuend ernst, indem er auch die neue Stadtverfassung – die Carta del Carnaro – untersucht, die versuchte, Libertinage mit Gemeinschaftdenken zu vereinen, Sozialismus mit Nationalismus, Kosmopolitismus mit Großmachtsphantasien, Basisdemokratie mit Staatskult.
Die pathetische und doch im Kern »fortschrittliche« Verfassung sollte, so Knipp, »einer Republik von Feinfühligen und Tiefgründigen« ein Fundament schaffen, sah sich aber kurz nach Bekanntgabe von den Ereignissen überholt. Am 12. November 1920 einigten sich Italien und das Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen (später: Jugoslawien) auf ein Freistaatstatut Fiumes, was D’Annunzio mit einer Kriegserklärung an Italien beantwortete. Nach einem Beschuß durch italienische Kriegsschiffe, bei dem der Dichtersoldat leicht verletzt wurde, zog er mit den letzten Getreuen ab, konstatierte den »Einzug des Verrats« und konnte ab 1921 für viele Jahre einen stilvollen Wohnsitz am Gardasee einnehmen, wo er noch ein Museum seiner selbst einrichtete und sich als ästhetisierender Gegner einer deutsch-italienischen »Achse« exponierte (weil Hitler, »mit diesem Haarbüschel unter der Nazinase«, ein »Bauernlümmel« sei), bevor er verstarb.
Fiume samt direktem Umland wiederum blieb bis 1941 Freistaat, wurde dann von Italien und 1943 vom Deutschen Reich annektiert, bevor es zwischen Kriegsende bis 1947 de jure wieder ein Freistaat wurde; danach zählte es zu Jugoslawien und das Gros der Italiener wurde vertrieben. Dieses Verbrechen war eine Retourkutsche für Italianisierungsversuche, die unter D’Annunzio 1919 / 20 begannen und 1941 bis 1943 unter italienischer Besatzung gewaltsam erfolgten. Das Abenteuer von Fiume war also »keinesfalls nur eine grosse Party«, wie der kroatische Historiker Vjeran Pavlakovic in der NZZ (v. 24. Dezember 2019) zitiert wird. Der Mythos wird freilich überdauern, und es ist davon auszugehen, daß auch in einigen Jahren noch Oliver Ritters Fiume-Laudatio zirkuliert, während Kersten Knipps Darstellung dann durch lebendiger geschriebene Folgewerke verdrängt worden sein dürfte.
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Die Kommune der Faschisten von Kersten Knipp kann man hier bestellen.