Heimatroman, gibt es das noch? Doch nur ironisch gebrochen! Wie dichtete der frühverstorbene Gerhard Gundermann: »Wie kann ich Heimat sagen // Zum Land, auf das mein Schatten fällt?« Dieser Roman hier spielt in Wurzen, der Ringelnatzstadt nahe Leipzig. Bernd Wagner (klar war man verwandt mit dem Wagner!) wurde 1948 hier geboren, 1985 ist er »ausgereist«. Nun kehrt er – im Roman: Max Wagner – zurück, um seine demente Mutter zu pflegen. Unterbrochen von Aktualitäten (Wurzen sei ein Hort der Rechtsextremen, sagen die Linksextremen) läßt er seine Lebensgeschichte Revue passieren.
Das tut Wagner, Sohn einer Schmiedesippe, liebevoll und selbstironisch. Ein Vergnügen! Lokal ist Guntram Vespers hochgelobter Roman Frohburg nah dran; was die Erzählhaltung (nennen wir es: Herzenswärme) angeht, wären Reminiszenzen eher bei Strittmatter, Kempowski und Kurzeck zu finden. Wagner ist ein fulminanter Erzähler. Vom winzigen Detail (wie der Vater sich die Nase abwischte und das Tuch hinterher so sorgsam in der Tasche verpackte, als sei ein Goldstück darin verborgen) bis hin zu weltgeschichtlichen Momenten (Stalin stirbt, und tagelang ertönt aus jedem Radio, auf jedem Platz der Trauermarsch der Russischen Revolution, »Unsterbliches Opfer«) vermag er in solchen Beobachtungen Kindheitswissen und Äraschatten zu bannen und auszubreiten.
Wie dem kleinen Wagner ein Lexikon geschenkt wird und er sich festliest: von AA über Aachen zum Aachener Frieden; wie das Brot mit Kartoffeln gestreckt wurde; wie es beim Verlangen nach Süßigkeit einen Schnitz von der Kohlrübe gab; wie derjenige, der eine Klemme im Scheitel trug, als Muttersöhnchen galt – und nicht zuletzt aktuelle Beobachtungen darüber, wie unglaublich alt die Freunde von damals nun ausschauen. (Man selbst ist ja derselbe geblieben!). Sowohl in seinen Erinnerungen als auch in der Schilderung der Gegenwart ist Wagner offenherzig bis zur Schmerzgrenze: Seien es die Abtreibungen, die er in seinem Leben mitverursacht oder nicht verhindert hat, seien es die derben familiären Auslassungen über die Zigeuner, ausgerechnet eine Sippe namens Hempel: »Onkel Erich zufolge kamen sie wohlgenährt aus den KZs zurück und waren die ersten, die wieder Pferde hatten«.
Angeblich kauften sie verdorbenes Fleisch vom Abdecker und machten dem weis, daß sie es den Raubtieren ihres (ausgedachten) Zirkus verfütterten. Da die Raubtiere keine Stempelfarbe vertrügen, dürfe er es nicht abstempeln. Auf dem Markt hätten dann »die Juden« das Fleisch abgeladen. Die Juden? Wo die denn herkamen? »Och, die waren doch alle wieder da«, hieß es in der Familie, und der Vater setzt eins drauf: leider. Wagner kaut an der väterlichen Kälte, der auf der anderen Seite eine »Weichheit und Verletzlichkeit« gegenüberstanden. Der Vater soll ein Judenhasser gewesen sein, der Vater, der den SA-Dolch wütend ins Schmiedefeuer geworfen hatte; der Vater, der den Juden Silberstern doch fast zärtlich getröstet hatte? Wie das Schreckliche und das Schöne, das Lebendige und das Tote jäh aufeinandertreffen, es macht den Grundbaß dieses Buches aus. In der Zinkwanne der Familie wurde samstäglich gebadet – im Herbst kam das geschlachtete Schwein (ein Fest! Wurstsuppe mit Wellfleisch bekamen nur jene Nachbarn, die übers Jahr besonders viel Speiseabfälle geliefert hatten) darin ebenso zu liegen wie irgendwann der tote Großvater. Stundenlang, jahrelang hatte der aus Wiederverwertungswahn Schmiedenägel geradegeklopft – die natürlich keine Verwendung mehr fanden und heimlich in Kisten auf dem Dachboden verstaut wurden.
Ja, die neue Zeit und das Schritthalten! Als Wagner zurückkehrt nach Wurzen, findet er – es löst gewisse Aggressionen aus – die Silotürme des heimischen Großwerks strahlend geweißt, »als befände man sich in den bayrischen Voralpen und nicht in der Muldenaue«.