Mark Lilla: Der Glanz der Vergangenheit

Mark Lilla: Der Glanz der Vergangenheit. Über den Geist der Reaktion, Zürich: NZZ Libro 2018. 142 S., 29 €

Ellen Kositza

Ellen Kositza ist Literatur-Redakteurin und Mutter von sieben Kindern.

Die non­kon­for­me nicht­lin­ke Sze­ne ist in den ver­gan­ge­nen Jah­ren ziem­lich unüber­schau­bar gewor­den. Von außen wird meist grob unter­schie­den, es fal­len Kate­go­rien (und natür­lich fal­len sie wie das Beil einer Guil­lo­ti­ne) wie »rechts­au­ßen«, »popu­lis­tisch«, »natio­nal­kon­ser­va­tiv«, die äußers­ten Schmäh­be­grif­fe mal außer­acht gelas­sen. Eine Figur wird schon lan­ge nicht mehr auf­ge­ru­fen: die des Reak­tio­närs. Es könn­te sein, daß sie in gewis­sem Maße deckungs­gleich ist mit dem Rechts­in­tel­lek­tu­el­len, der wie­der­um eine Erschei­nung ist, von der lin­ke Bescheid­wis­ser gern behaup­ten, sie sei para­dox, eine con­tra­dic­tio in adjec­to. Mark Lil­la, (*1965), Pro­fes­sor für Geis­tes­wis­sen­schaf­ten an der Colum­bia Uni­ver­si­ty in New York, zeigt uns Pfa­de reak­tio­nä­ren Den­kens auf.

Lil­la hat­te bereits mit Der hem­mungs­lo­se Geist. Die Tyrann­o­phi­lie der Intel­lek­tu­el­len (Mün­chen 2015; sie­he Sezes­si­on 68, Ori­gi­nal­ti­tel: The Reck­less Mind: Intellec­tu­als in Poli­tics, New York 2001) eine äußerst lobens­wer­te Über­set­zung ins Deut­sche erfah­ren. Die­ses neue Büch­lein – eben­falls gran­di­os und wie­der von Eli­sa­beth Liebl über­setzt – Über den Geist der Reak­ti­on ist lehr­reich, fas­zi­nie­rend und schil­lernd; es ist anspruchs­voll, ohne ver­schwur­belt daher­zu­kom­men. Es ist eine rei­ne Freu­de und drin­gen­de Lese­emp­feh­lung! Im Haupt­teil prä­sen­tiert Lil­la uns drei Den­ker, die (wenn­gleich mit Wenn und Aber) als reak­tio­nä­re Typen klas­si­fi­ziert wer­den kön­nen: Franz Rosen­zweig, Eric Voe­gel­in und Leo Strauss.

Wer kennt denn noch Rosen­zweig (1886–1929), der kurz vor sei­ner Kon­ver­si­on zu sei­ner ange­stamm­ten Reli­gi­on damit auch zu einer »Hygie­ne des Zurück« fin­det? Wer hat je Rosen­zweigs Büch­lein vom gesun­den und kran­ken Men­schen­ver­stand gele­sen? Rosen­zweig, erklär­ter Anti-Zio­nist, emp­fand sei­nen Glau­ben als »Blut­re­li­gi­on«, als Gemein­schaft des Blu­tes, was schon sei­ne zeit­ge­nös­si­schen Rezi­pi­en­ten der­art scho­ckier­te, daß die­ser Aus­druck in der eng­li­schen Über­set­zung berei­nigt wur­de. An Voe­gel­in (1902–1985) inter­es­siert Lil­la vor allem sein Werk Die poli­ti­schen Reli­gio­nen (1938), in denen ers­te­rer die struk­tu­rel­len Par­al­le­len zwi­schen tota­li­tä­ren Regie­rungs­sys­te­men und Reli­gio­nen betrach­te­te, und zwar – typisch für einen »Reak­tio­när« – im Rah­men einer Ver­falls­er­zäh­lung: Nach der Auf­klä­rung habe der Mensch begon­nen, sei­ne mensch­li­chen Akti­vi­tä­ten in Begrif­fen des Hei­li­gen zu den­ken: »Wenn Gott hin­ter der Welt unsicht­bar gewor­den ist, dann wer­den die Inhal­te der Welt zu neu­en Göt­tern.« Damit wer­de die Natur der ideo­lo­gi­schen Mas­sen­be­we­gun­gen des 20. Jahr­hun­derts deut­lich; die­se »poli­ti­schen Reli­gio­nen« sei­en aus­ge­stat­tet mit Pries­tern, Pro­phe­ten und Tem­pel­op­fern. Man darf die­se Ana­ly­se über Voe­gel­ins Tod hinausdenken.

Laut Lil­la trennt den Reak­tio­när vom Kon ser­va­ti­ven, daß letz­te­rer (wie der Libe­ra­le und der Lin­ke) das Fort­schritts­nar­ra­tiv zu sei­nen Glau­bens­grund­sät­zen zäh­le. Der Reak­tio­när hin­ge­gen blei­be Pes­si­mist und Mis­an­throp, weil er einen Punkt in der Geschich­te (sei es die Refor­ma­ti­on, die Fran­zö­si­sche Revo­lu­ti­on oder weit frü­he­re Schei­de­we­ge) aus­ma­che, ab dem der Weg ste­tig berg­ab füh­re. Zu die­sen Reak­tio­nä­ren zählt Lil­la auch Leo Strauss, den hes­si­schen Juden, der die Auf­klä­rung als einen sol­chen Bruch ansah und sich im Rah­men sei­ner Lehr­tä­tig­keit in den USA unter Ver­weis auf das Natur­recht und die phi­lo­so­phi­sche Anti­ke gegen Libe­ra­lis­mus und Rela­ti­vis­mus aus­sprach. Neben die­sen Por­träts sind hier wei­te­re Essays und Rezen­sio­nen zum reak­tio­nä­ren For­men­kreis abge­druckt. Emi­nent lesens­wert ist sein Auf­satz mit dem spre­chen­den Titel »Von Luther zu Walmart«. 

Nun gibt es (außer dem Tat­be­stand der aka­de­mi­schen Beschäf­ti­gung mit der The­ma­tik) kei­ne Anzei­chen dafür, daß Lil­la selbst zu den Reak­tio­nä­ren zu rech­nen wäre. Höchs­tens könn­te man anmer­ken, daß er ein vehe­men­ter Geg­ner der lin­ken Iden­ti­täts­po­li­tik (à la »Black Lives Mat­ter«) ist. René Scheu jeden­falls, Feuil­le­ton­chef der Neu­en Zür­cher Zei­tung und Her­aus­ge­ber des Ban­des, fühlt sich bemü­ßigt, am Ende sei­ner in gro­ßen Tei­len kennt­nis­rei­chen Ein­füh­rung fest­zu­stel­len: »Der Autor erweist dem Reak­tio­när nicht die Ehre, son­dern ent­le­digt ihn sei­ner Ideen­klei­der. Nackt steht er in die­sem Buch vor uns. Damit ver­wan­delt Lil­la den wohl letz­ten ver­blei­ben­den Ande­ren in einen poli­ti­schen Geg­ner, der sich fas­sen lässt.« Ulki­ger­wei­se fehlt aber die­ser Impe­tus in den hier vor­lie­gen­den Lil­la-Auf­sät­zen gänz­lich! Lil­la geht es nicht um Ent­blö­ßen, Ent­tar­nen, Bekämpfen. 

Im Gegen­teil, er will uns die Gedan­ken­welt die­ser reak­tio­nä­ren Män­ner begreif­lich machen, nahe­brin­gen, erklä­ren. Ja, er tut es mit einem Abstand, der für einen Wis­sen­schaft­ler gebo­ten ist. Ja, er kri­ti­siert man­chen Neu-Reak­tio­nä­ren: Eric Zemm­ours Le sui­ci­de fran­çais (2014) nennt er ein »Dampf­wal­zen­buch« und Brad Gre­go­rys (lei­der bis­lang nicht ins Deut­sche über­setz­tes) im angel­säch­si­schen Sprach­raum viel­dis­ku­tier­tes Werk The Unin­ten­ded Refor­ma­ti­on (2012) nimmt er hart in die Man­gel. Und doch steht die­se Erkennt­nis Lil­las para­dig­ma­tisch für sei­ne Her­an­ge­hens­wei­se: »Wir kön­nen uns kei­nen Reim auf die Gegen­wart machen, ohne anzu­er­ken­nen, dass der Reak­tio­när als selbst­er­klär­ter Exi­lant sie mit­un­ter kla­rer sieht als jeder, der sich dar­in zu Hau­se fühlt.«

__________________
Der Glanz der Ver­gan­gen­heit. Über den Geist der Reak­ti­on von Mark Lil­la kann man hier bestel­len.

Ellen Kositza

Ellen Kositza ist Literatur-Redakteurin und Mutter von sieben Kindern.

Nichts schreibt sich
von allein!

Das Blog der Zeitschrift Sezession ist die wichtigste rechtsintellektuelle Stimme im Netz. Es lebt vom Fleiß, von der Lesewut und von der Sprachkraft seiner Autoren. Wenn Sie diesen Federn Zeit und Ruhe verschaffen möchten, können Sie das mit einem Betrag Ihrer Wahl tun.

Sezession
DE58 8005 3762 1894 1405 98
NOLADE21HAL

Kommentare (0)