Die nonkonforme nichtlinke Szene ist in den vergangenen Jahren ziemlich unüberschaubar geworden. Von außen wird meist grob unterschieden, es fallen Kategorien (und natürlich fallen sie wie das Beil einer Guillotine) wie »rechtsaußen«, »populistisch«, »nationalkonservativ«, die äußersten Schmähbegriffe mal außeracht gelassen. Eine Figur wird schon lange nicht mehr aufgerufen: die des Reaktionärs. Es könnte sein, daß sie in gewissem Maße deckungsgleich ist mit dem Rechtsintellektuellen, der wiederum eine Erscheinung ist, von der linke Bescheidwisser gern behaupten, sie sei paradox, eine contradictio in adjecto. Mark Lilla, (*1965), Professor für Geisteswissenschaften an der Columbia University in New York, zeigt uns Pfade reaktionären Denkens auf.
Lilla hatte bereits mit Der hemmungslose Geist. Die Tyrannophilie der Intellektuellen (München 2015; siehe Sezession 68, Originaltitel: The Reckless Mind: Intellectuals in Politics, New York 2001) eine äußerst lobenswerte Übersetzung ins Deutsche erfahren. Dieses neue Büchlein – ebenfalls grandios und wieder von Elisabeth Liebl übersetzt – Über den Geist der Reaktion ist lehrreich, faszinierend und schillernd; es ist anspruchsvoll, ohne verschwurbelt daherzukommen. Es ist eine reine Freude und dringende Leseempfehlung! Im Hauptteil präsentiert Lilla uns drei Denker, die (wenngleich mit Wenn und Aber) als reaktionäre Typen klassifiziert werden können: Franz Rosenzweig, Eric Voegelin und Leo Strauss.
Wer kennt denn noch Rosenzweig (1886–1929), der kurz vor seiner Konversion zu seiner angestammten Religion damit auch zu einer »Hygiene des Zurück« findet? Wer hat je Rosenzweigs Büchlein vom gesunden und kranken Menschenverstand gelesen? Rosenzweig, erklärter Anti-Zionist, empfand seinen Glauben als »Blutreligion«, als Gemeinschaft des Blutes, was schon seine zeitgenössischen Rezipienten derart schockierte, daß dieser Ausdruck in der englischen Übersetzung bereinigt wurde. An Voegelin (1902–1985) interessiert Lilla vor allem sein Werk Die politischen Religionen (1938), in denen ersterer die strukturellen Parallelen zwischen totalitären Regierungssystemen und Religionen betrachtete, und zwar – typisch für einen »Reaktionär« – im Rahmen einer Verfallserzählung: Nach der Aufklärung habe der Mensch begonnen, seine menschlichen Aktivitäten in Begriffen des Heiligen zu denken: »Wenn Gott hinter der Welt unsichtbar geworden ist, dann werden die Inhalte der Welt zu neuen Göttern.« Damit werde die Natur der ideologischen Massenbewegungen des 20. Jahrhunderts deutlich; diese »politischen Religionen« seien ausgestattet mit Priestern, Propheten und Tempelopfern. Man darf diese Analyse über Voegelins Tod hinausdenken.
Laut Lilla trennt den Reaktionär vom Kon servativen, daß letzterer (wie der Liberale und der Linke) das Fortschrittsnarrativ zu seinen Glaubensgrundsätzen zähle. Der Reaktionär hingegen bleibe Pessimist und Misanthrop, weil er einen Punkt in der Geschichte (sei es die Reformation, die Französische Revolution oder weit frühere Scheidewege) ausmache, ab dem der Weg stetig bergab führe. Zu diesen Reaktionären zählt Lilla auch Leo Strauss, den hessischen Juden, der die Aufklärung als einen solchen Bruch ansah und sich im Rahmen seiner Lehrtätigkeit in den USA unter Verweis auf das Naturrecht und die philosophische Antike gegen Liberalismus und Relativismus aussprach. Neben diesen Porträts sind hier weitere Essays und Rezensionen zum reaktionären Formenkreis abgedruckt. Eminent lesenswert ist sein Aufsatz mit dem sprechenden Titel »Von Luther zu Walmart«.
Nun gibt es (außer dem Tatbestand der akademischen Beschäftigung mit der Thematik) keine Anzeichen dafür, daß Lilla selbst zu den Reaktionären zu rechnen wäre. Höchstens könnte man anmerken, daß er ein vehementer Gegner der linken Identitätspolitik (à la »Black Lives Matter«) ist. René Scheu jedenfalls, Feuilletonchef der Neuen Zürcher Zeitung und Herausgeber des Bandes, fühlt sich bemüßigt, am Ende seiner in großen Teilen kenntnisreichen Einführung festzustellen: »Der Autor erweist dem Reaktionär nicht die Ehre, sondern entledigt ihn seiner Ideenkleider. Nackt steht er in diesem Buch vor uns. Damit verwandelt Lilla den wohl letzten verbleibenden Anderen in einen politischen Gegner, der sich fassen lässt.« Ulkigerweise fehlt aber dieser Impetus in den hier vorliegenden Lilla-Aufsätzen gänzlich! Lilla geht es nicht um Entblößen, Enttarnen, Bekämpfen.
Im Gegenteil, er will uns die Gedankenwelt dieser reaktionären Männer begreiflich machen, nahebringen, erklären. Ja, er tut es mit einem Abstand, der für einen Wissenschaftler geboten ist. Ja, er kritisiert manchen Neu-Reaktionären: Eric Zemmours Le suicide français (2014) nennt er ein »Dampfwalzenbuch« und Brad Gregorys (leider bislang nicht ins Deutsche übersetztes) im angelsächsischen Sprachraum vieldiskutiertes Werk The Unintended Reformation (2012) nimmt er hart in die Mangel. Und doch steht diese Erkenntnis Lillas paradigmatisch für seine Herangehensweise: »Wir können uns keinen Reim auf die Gegenwart machen, ohne anzuerkennen, dass der Reaktionär als selbsterklärter Exilant sie mitunter klarer sieht als jeder, der sich darin zu Hause fühlt.«
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Der Glanz der Vergangenheit. Über den Geist der Reaktion von Mark Lilla kann man hier bestellen.