Die seit einigen Jahren vorherrschenden De-Globalisierungstendenzen werden durch die Corona-Pandemie und ihre politischen, wirtschaftlichen, sozialen und gesellschaftlichen Folgewirkungen wie durch ein Brennglas gebündelt, offengelegt und weiter verschärft.
Erster Krisenakt – Verbreitung des Corona-Virus: Bei der lauffeuerartigen Verbreitung des Corona-Virus rund um den Globus handelt es sich unstreitig um eine direkte Folge globaler Reise- und Migrationsbewegungen.Dementsprechend ist dem Globalisierungsforscher Ulrich Menzel zufolge
ins öffentliche Bewusstsein gedrungen, dass die Pandemie auch ein Ausdruck von Globalisierung ist. All das hat den Globalisierungskurs radikal delegitimiert.
Zweiter Krisenakt – Zusammenbrechende Lieferketten und Produktionsprozesse: Bei räumlich und zeitlich entgrenzten sowie nach dem ‚Just-in-Time‘ Prinzip organisierten Lieferketten, die der Minimierung von Lagerkosten zwecks Gewinnmaximierung dienen, und nach dem Prinzip der Vertikalen Spezialisierung global aufgesplitteten Produktionsprozessen für Vor‑, Zwischen- und Endprodukte handelt es sich um die Achillesferse der Handelsglobalisierung.
Bereits geringfügige Störungen können zu drastischen Versorgungsengpässen führen und Produktionsprozesse lahmlegen. Eben jene Schwachstelle wurde durch die grassierende Corona-Pandemie und damit verbundene weltweite Lieferkettenzusammenbrüche und Produktionsausfälle schonungslos offengelegt. Die direkten Folgen dieser Entwicklung und damit verbundener Dominoeffekte sind Massenentlassungen, der Zusammenbruch des Welthandels und eine globale Rezession historischen Ausmaßes.
Dritter Krisenakt – Verschärfung der Weltfinanzkrise: Der globalkonjunkturelle Einbruch infolge der Pandemie wird nicht ohne Auswirkungen auf die seit 2008 schwelende Weltfinanzkrise bleiben.Ein Wiederaufflammen der ungelösten Euro- und Verschuldungskrise in der EU rückt somit in den Bereich des Wahrscheinlichen. Diesmal springt die Krise nicht – wie in den Weltfinanzkrisenjahren 2008/2009 – von den Finanzmärkten auf die Realwirtschaft über, sondern von der Realwirtschaft auf die Finanzmärkte.
Zur Stabilisierung nehmen zahlreiche Notenbanken Zinssenkungen vor, kaufen (Schrott-)Anleihen auf, fluten die Finanzmärkte mit Billionensummen und erhöhen somit im Ergebnis die im Umlauf befindliche Liquiditätsmenge. Hinzu kommen Rettungsprogramme auf nationaler aber auch auf supranationaler Ebene. In der Folge wird – nach deflationären Tendenzen zu Krisenbeginn – die Gefahr inflationärer Tendenzen signifikant zunehmen.
De-Globalisierung als Menetekel einer Kapitalismuskrise: Die zuvor beschriebenen ökonomischen Folgewirkungen der Pandemie sind geeignet, die De-Globalisierungstendenzen voriger Jahre zu verstärken. Letztlich manifestiert sich in der Globalisierungskrise auch eine System- bzw. Kapitalismuskrise. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, welche Kernziele vor dem Hintergrund des nun eingetretenen Ernstfalls von nationalkonservativen (vor-)politischen Kräften in Deutschland verfolgt werden sollten.
1. Kernziel – Festung Europa und nationale Grenzkontrollen: Die Corona-Krise zeigt, daß europäische Außengrenzen und nationale Grenzen wirksam geschützt werden können, wenn der politische Wille dazu vorhanden ist. Im Zuge der Wiedereinführung nationaler Grenzkontrollen zur Eindämmung des Virus kam die illegale Zuwanderung nach Deutschland praktisch zum Erliegen.
Das in Deutschland vorherrschende neoliberale Ökonomieprimat – demgemäß es sich bei illegalen Zuwanderern um eine lohndrückende Reservearmee des Kapitals handelt – muß durch ein konservatives Gesundheits‑, Sicherheits- und Identitätsprimat ersetzt werden, wobei sich letztgenannte Prioritätensetzungen und ökonomische Prosperität keinesfalls wechselseitig ausschließen.
2. Kernziel – Regionalisierung von Wirtschaftskreisläufen: „Seit einiger Zeit“, schreibt der Ökonom Henrik Müller,
nehmen die Beschränkungen des internationalen Handels wieder zu. Regierungen erklären Branche um Branche für strategisch relevant, also schützenswert. […] Die Coronakrise lenkt nun den Blick auf immer weitere Wirtschaftszweige, wo das alte Konzept der nationalen Selbstversorgung wieder zum Maßstab werden könnte.
Wir halten fest: Sofern der politische Wille dazu vorhanden ist, ist es mithilfe eines selektiven Protektionismus durchaus möglich, die Regionalisierung oder Renationalisierung von Lieferketten sowie die Renationalisierung der Produktion von Gütern und Dienstleistungen der nationalen Sicherheit zu gewährleisten und wirtschaftliche Konzentrationsprozesse zugunsten von Großkonzernen zu verhindern.
3. Kernziel – Rückkehr der Nation: Die Institutionen der Europäischen Union versagen im Umgang mit der Corona-Krise – wie bereits beim Umgang mit Weltfinanz‑, Euro- und ‚Flüchtlingskrise‘ – dramatisch. Wenn die EU-Institutionen beim Eintreten und der Bewältigung jedweder krisenhaften Entwicklung grandios scheitern, welche Existenzberechtigung haben sie dann noch?
Diese Frage stellen sich immer mehr Bürger in den EU-Mitgliedsstaaten und fordern eine Rückbesinnung auf das Prinzip der Nationalstaatlichkeit und damit ein Primat des Nationalen über das Supranationale.
Ob die Corona-Pandemie tatsächlich – wie von der englischen Zeitschrift The Times suggeriert – „die Totenglocke für die Globalisierung läuten lässt“ und ob das Läuten dieser Glocke auch das Ende des Euro, der Europäischen Union und die Wiederauferstehung des Nationalen in Europa einläutet, wird die stets ergebnisoffene Zukunft weisen.
Daß es sich bei der Corona-Krise um einen weiteren Nagel im Sarg der ökonomischen Globalisierung* handelt, und daß durch sie bereits seit einigen Jahren wirkmächtige entschleunigende De-Globalisierungsprozesse weiter beschleunigt werden, steht hingegen fest.
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*Unter “ökonomischer Globalisierung” wird die Intensivierung, Beschleunigung und geographische Ausdehnung weltweiter Menschen‑, Waren- und Finanzströme verstanden.
Dr. Jan Moldenhauer promovierte zur De-Globalisierung des Welthandels an der University of Liverpool. Moldenhauer ist Vorsitzender der Friedrich-Friesen-Stiftung, Vorstandsmitglied der Desiderius-Erasmus-Stiftung und Autor der IfS-Studie Japans Politik der Nullzuwanderung – Vorbild für Deutschland?. Der vorliegende Beitrag beinhaltet Auszüge aus einem Grundlagentext, der in der 96. Druckausgabe der Sezession 96 (Juni 2020, Schwerpunkt: Metapolitik) erscheinen wird.
Gotlandfahrer
Ob sich mit der Renationalisierung der anderen dann schon Deutschlands gemütsbasierte Lebensrisiken einhegen lassen, bleibt fraglich. Womöglich bleiben wir unseren Menscheitshampelmännern ausgeliefert, selbst wenn Dänen uns nur noch mit Visa einreisen lassen und es holländische Tomaten bei uns nur auf Lebensmittelkarte gibt.