Wolfgang Bittner: Die Heimat, der Krieg und der Goldene Westen

Wolfgang Bittner: Die Heimat, der Krieg und der Goldene Westen. Ein deutsches Lebensbild, Höhr-Grenzhausen: zeitgeist Print & Online 2019. 352 S., 21.90 €

Ellen Kositza

Ellen Kositza ist Literatur-Redakteurin und Mutter von sieben Kindern.

Jour­na­lis­tisch war Wolf­gang Bitt­ner für die Leit­blät­ter (Die Zeit, NZZ u. a.) tätig; als Schrift­stel­ler hat er dut­zen­de Bücher ver­faßt und her­aus­ge­ge­ben. Der pro­mo­vier­te Jurist, Jahr­gang 1941, hat zwar in nahe­zu allen Gen­res ver­öf­fent­licht (Lyrik, Pro­sa, Thea­ter­stü­cke, Kin­der- und Jugend­bü­cher), den­noch ist sein Name nicht all­zu bekannt. Sein aktu­el­ler Roman Die Hei­mat, der Krieg und der Gol­de­ne Wes­ten ist ein Gold­stück. Bitt­ner selbst dürf­te dabei »der Jun­ge« sein, aus des­sen War­te die Gescheh­nis­se geschil­dert wer­den. Som­mer 1942. Aus dem Radio hört die Fami­lie Marsch­mu­sik. Der Jun­ge ist noch sehr klein. Die Groß­mutter sagt: »Gna­de uns Gott, wenn wir den Krieg ver­lie­ren soll­ten.« Groß­va­ter nimmt das Kind auf den Arm. Er ist Wirt, der Jun­ge darf den Schaum vom Bier trin­ken. Vom süßen, dunk­len Malz­bier natürlich!
Dann geht der Krieg ver­lo­ren. In den Glei­wit­zer Stra­ßen stau­en sich Mili­tär­fahr­zeu­ge. »Die Män­ner sehen abge­ris­sen und erschöpft aus, vie­le sind ver­wun­det. Gera­de waren sie noch Rich­tung Osten gefah­ren, jetzt geht es nach Westen.« 

Im Janu­ar 1945 fällt Glei­witz. Der Ter­ror kommt. Die Rus­sen neh­men sich Haus für Haus vor. Es wird geplün­dert und ver­ge­wal­tigt. »Wer sich nicht ergibt und ruhig ver­hält, wird erschos­sen oder tot­ge­schla­gen.« Die weni­gen Män­ner im Dorf, der Groß­va­ter gehört dazu, kön­nen nichts tun. Sie müs­sen sich im Wald ver­ste­cken, wer­den meist gefun­den, getö­tet oder wenigs­tens ver­schleppt. Auch der Groß­va­ter wird ver­haf­tet. Wie­viel gebe­tet wird in die­ser Zeit! Die neu­en Her­ren rau­ben auch das Bild­nis der inbrüns­tig ange­be­te­ten Hl. Bar­ba­ra. Gott­lob über­se­hen sie, daß auf der Rück­sei­te des Rah­mens ein Hit­ler­por­trait ein­ge­spannt war … Cha­os und Sie­ger­will­kür herr­schen auch dann noch in Ober­schle­si­en, als die Polen die Ver­wal­tung über­nom­men haben. Die Groß­mutter möch­te ihre Mie­ten kas­sie­ren. Sie ist dar­auf ange­wie­sen – zumal sie nun obsku­re Steu­ern für Haus­be­sitz an die pol­ni­sche Ver­wal­tung zah­len muß. Sie wird aus­ge­lacht. Natür­lich zah­len die pol­ni­schen Neu­be­woh­ner kei­ne Mie­te! Und Franz Sakow­ski schmeißt sie raus mit den Wor­ten: an Kapi­ta­lis­ten zah­le er nichts! Der seit je kom­mu­nis­ti­sche Dorf­nach­bar gehört »einem anti­fa­schis­ti­schen Ord­nungs­dienst an und arbei­tet inzwi­schen für die Polen.« 

Um über die Run­den zu kom­men, putzt und wäscht die Groß­mutter nun bei den neu zuge­zo­ge­nen pol­ni­schen Fami­li­en. Die las­sen alles ver­kom­men, sie wis­sen weder mit Mäh­dre­scher noch Kar­tof­fel­ro­der umzu­ge­hen. Pol­ni­sche Räu­ber­ban­den »hal­ten sich schad­los«. Geraub­te Möbel wer­den gen Osten ver­frach­tet, »hun­der­te Güter­wa­gen voll«. Alles Metal­le­ne, ob Regen­rin­nen oder Lei­tungs­roh­re, wird abmon­tiert und ver­scher­belt. In die­sem groß­ar­ti­gen Buch wird der­glei­chen nicht beklagt oder gebrand­markt, son­dern in aller Schlicht­heit beschrie­ben – mit den Augen eines Kna­ben, der im Okto­ber 1945 mit sei­ner Mut­ter die Ver­trei­bung aus Glei­witz erlebt. Der Aus­rei­se­be­fehl kommt über Nacht: »20 kg Rei­se­ge­päck darf jeder Deut­sche mit sich füh­ren. Nicht­aus­füh­rung des Befehls wird mit schärfs­ten Stra­fen ver­folgt, ein­schließ­lich Waffengewalt.« 

Ob der Vater noch lebt (geschil­dert wird durch­weg im Prä­sens, davon geht ein authen­ti­scher Zau­ber aus!), ist unklar. Zuletzt war er auf Kurz­be­such, als sei­ne Fall­schirm­jä­ger­trup­pe nach Bel­gi­en ver­legt wur­de. Zunächst geht es in die Ucker­mark. Flücht­lin­ge sind hier nicht will­kom­men – offen­kun­dig ist dies ein Mensch­heits­ge­setz. Die Lands­leu­te aus dem Osten gel­ten als »Pola­cken­pack«. Heim­lich holt die Mut­ter Kar­tof­fel­scha­len und Essens­res­te vom Mist­hau­fen des Bau­ern, bei dem sie ein­quar­tiert sind. Tan­te Fran­zis­ka rät drin­gend vom Bet­teln an der Tür ab: »Sie haben kein Mit­leid mit uns. Du wirst nur gede­mü­tigt.« Dann gibt es Nach­richt vom Vater! Er lebt, ver­letzt zwar – in Ost­fries­land. Dort wird die Fami­lie nun ansäs­sig. Nicht, daß es leich­ter wür­de, aber es geht auf­wärts. Der Jun­ge ist wohl­be­hü­tet, bis die Eltern eine Fir­ma grün­den und ihn sich selbst über­las­sen. Aber auch da: »Und wenn Du denkst, es geht nicht mehr, kommt irgend­wo ein Licht daher.«

Mitt­ler­wei­le weiß der Jun­ge, wie der Hase läuft. Die Fett­au­gen schwim­men immer oben. Man will kein Fett­au­ge sein! »Banau­sen und Spieß­bür­ger, wohin man blickt!«, hat­te sein in der Nazi­zeit ambi­va­len­ter Groß­va­ter mal aus­ge­ru­fen. Der Jun­ge läuft mit federn­den Schrit­ten in den Wald hin­ein. »Er gehört sich, ist frei und unab­hän­gig. Um ihn her der herr­lich duf­ten­de, blü­hen­de Wald. Und alles, alles ist gut.« Dies ist ein Haus­buch für die gan­ze Fami­lie. So war es, damals in Ober­schle­si­en. In die­sem wun­der­ba­ren Roman wird es lebendig! 

Den Roman von Wolf­gang Bitt­ner kann man hier bestel­len.

Ellen Kositza

Ellen Kositza ist Literatur-Redakteurin und Mutter von sieben Kindern.

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