Journalistisch war Wolfgang Bittner für die Leitblätter (Die Zeit, NZZ u. a.) tätig; als Schriftsteller hat er dutzende Bücher verfaßt und herausgegeben. Der promovierte Jurist, Jahrgang 1941, hat zwar in nahezu allen Genres veröffentlicht (Lyrik, Prosa, Theaterstücke, Kinder- und Jugendbücher), dennoch ist sein Name nicht allzu bekannt. Sein aktueller Roman Die Heimat, der Krieg und der Goldene Westen ist ein Goldstück. Bittner selbst dürfte dabei »der Junge« sein, aus dessen Warte die Geschehnisse geschildert werden. Sommer 1942. Aus dem Radio hört die Familie Marschmusik. Der Junge ist noch sehr klein. Die Großmutter sagt: »Gnade uns Gott, wenn wir den Krieg verlieren sollten.« Großvater nimmt das Kind auf den Arm. Er ist Wirt, der Junge darf den Schaum vom Bier trinken. Vom süßen, dunklen Malzbier natürlich!
Dann geht der Krieg verloren. In den Gleiwitzer Straßen stauen sich Militärfahrzeuge. »Die Männer sehen abgerissen und erschöpft aus, viele sind verwundet. Gerade waren sie noch Richtung Osten gefahren, jetzt geht es nach Westen.«
Im Januar 1945 fällt Gleiwitz. Der Terror kommt. Die Russen nehmen sich Haus für Haus vor. Es wird geplündert und vergewaltigt. »Wer sich nicht ergibt und ruhig verhält, wird erschossen oder totgeschlagen.« Die wenigen Männer im Dorf, der Großvater gehört dazu, können nichts tun. Sie müssen sich im Wald verstecken, werden meist gefunden, getötet oder wenigstens verschleppt. Auch der Großvater wird verhaftet. Wieviel gebetet wird in dieser Zeit! Die neuen Herren rauben auch das Bildnis der inbrünstig angebeteten Hl. Barbara. Gottlob übersehen sie, daß auf der Rückseite des Rahmens ein Hitlerportrait eingespannt war … Chaos und Siegerwillkür herrschen auch dann noch in Oberschlesien, als die Polen die Verwaltung übernommen haben. Die Großmutter möchte ihre Mieten kassieren. Sie ist darauf angewiesen – zumal sie nun obskure Steuern für Hausbesitz an die polnische Verwaltung zahlen muß. Sie wird ausgelacht. Natürlich zahlen die polnischen Neubewohner keine Miete! Und Franz Sakowski schmeißt sie raus mit den Worten: an Kapitalisten zahle er nichts! Der seit je kommunistische Dorfnachbar gehört »einem antifaschistischen Ordnungsdienst an und arbeitet inzwischen für die Polen.«
Um über die Runden zu kommen, putzt und wäscht die Großmutter nun bei den neu zugezogenen polnischen Familien. Die lassen alles verkommen, sie wissen weder mit Mähdrescher noch Kartoffelroder umzugehen. Polnische Räuberbanden »halten sich schadlos«. Geraubte Möbel werden gen Osten verfrachtet, »hunderte Güterwagen voll«. Alles Metallene, ob Regenrinnen oder Leitungsrohre, wird abmontiert und verscherbelt. In diesem großartigen Buch wird dergleichen nicht beklagt oder gebrandmarkt, sondern in aller Schlichtheit beschrieben – mit den Augen eines Knaben, der im Oktober 1945 mit seiner Mutter die Vertreibung aus Gleiwitz erlebt. Der Ausreisebefehl kommt über Nacht: »20 kg Reisegepäck darf jeder Deutsche mit sich führen. Nichtausführung des Befehls wird mit schärfsten Strafen verfolgt, einschließlich Waffengewalt.«
Ob der Vater noch lebt (geschildert wird durchweg im Präsens, davon geht ein authentischer Zauber aus!), ist unklar. Zuletzt war er auf Kurzbesuch, als seine Fallschirmjägertruppe nach Belgien verlegt wurde. Zunächst geht es in die Uckermark. Flüchtlinge sind hier nicht willkommen – offenkundig ist dies ein Menschheitsgesetz. Die Landsleute aus dem Osten gelten als »Polackenpack«. Heimlich holt die Mutter Kartoffelschalen und Essensreste vom Misthaufen des Bauern, bei dem sie einquartiert sind. Tante Franziska rät dringend vom Betteln an der Tür ab: »Sie haben kein Mitleid mit uns. Du wirst nur gedemütigt.« Dann gibt es Nachricht vom Vater! Er lebt, verletzt zwar – in Ostfriesland. Dort wird die Familie nun ansässig. Nicht, daß es leichter würde, aber es geht aufwärts. Der Junge ist wohlbehütet, bis die Eltern eine Firma gründen und ihn sich selbst überlassen. Aber auch da: »Und wenn Du denkst, es geht nicht mehr, kommt irgendwo ein Licht daher.«
Mittlerweile weiß der Junge, wie der Hase läuft. Die Fettaugen schwimmen immer oben. Man will kein Fettauge sein! »Banausen und Spießbürger, wohin man blickt!«, hatte sein in der Nazizeit ambivalenter Großvater mal ausgerufen. Der Junge läuft mit federnden Schritten in den Wald hinein. »Er gehört sich, ist frei und unabhängig. Um ihn her der herrlich duftende, blühende Wald. Und alles, alles ist gut.« Dies ist ein Hausbuch für die ganze Familie. So war es, damals in Oberschlesien. In diesem wunderbaren Roman wird es lebendig!
Den Roman von Wolfgang Bittner kann man hier bestellen.