Propaganda ist Werbung für politische Zwecke: Masse muß in Marsch gesetzt, Krieg muß legitimiert, die Gefallenen, Verwundeten, Vermißten müssen als notwendiges Opfer verkauft werden. Propaganda ist: die Realität zurechtschreiben. Die andere Seite nicht zu hören oder nur so, daß es die Botschaft, die man an den Mann bringen will, nicht stört. Wann ist dieses Zurechtgeschriebene glaubwürdig? Wenn die Lobrede sich wie weiße Kreidezeichen auf einer schwarzen Tafel abheben; wenn Gut und Böse klar voneinander geschieden sind und wenn jeder Zweifel an dieser Scheidung ohne Graustufen beiseite geschoben werden kann; wenn also diejenigen, die das glauben sollen, genau dies glauben wollen; wenn also die Lückenpresse nicht mehr als solche erkannt wird.
Mithilfe Steffen Kopetzkys Roman Propaganda schauen wir uns vier Stränge genauer an: Da ist die Identitätskrise des deutschstämmigen US-Amerikaners John Glueck, der ausgerechnet als Angehöriger einer Propagandaeinheit in das mythisch verehrte Land seiner Vorfahren gelangt, und zwar in den Hürtgenwald, jenen Forst südlich von Aachen, in dem die Wehrmacht im Winter 1944 / 45 vier US-Divisionen aufrieb. Glueck hat das fiktionale Schreiben in Kursen erlernt, formuliert nicht ohne Talent, scheint ähnlich begabt zu sein wie seine Kommilitonen Salinger und Bukowski, von denen er später natürlich ab und an »hört«.
Als Propagandasoldat soll Glueck jedenfalls eine Reportage über Ernest Hemingway schreiben. Der ist mit einer Desperadotruppe in Frankreich unterwegs, sucht nach dem Stoff für ein »Krieg und Frieden« des 20. Jahrhunderts, leidet jedoch an Schreibhemmung: laut, selbst schon mythisch, unsympathisch amerikanisch, Propagandist ohne Skrupel.
Glueck ist anders. Der zweite Strang: Diese Schlacht also, in der sich die Feinde ineinander verkrallten, die Allerseelenschlacht (was für ein Name!) im Hürtgenwald. Kriegserfahrene deutsche Verbände trafen auf alliierte Neulinge, die noch nie in einem Wald gekämpft und noch nie zuvor einen Winter erlebt hatten: ein Gemetzel. Eine der eindrücklichsten Szenen ist diejenige, die dem deutschen Stabsarzt Günter Stüttgen ein literarisches Denkmal setzt. Er war es, der an einem der Brennpunkte der Schlacht mehrere Male Waffenstillstand aushandeln und Verwundete beider Seiten bergen und versorgen konnte. Stüttgen hat hunderten Soldaten das Leben gerettet.
Aber John Glueck darf darüber nicht schreiben, oder genauer: Glueck schreibt wohl über Stüttgen und über das taktisch-operative Desaster der US-Führung vor Ort. Aber sein Bericht wird nicht veröffentlicht. »Sie lassen uns echt schlecht aussehen, John, das geht doch nicht«, sagt sein Vorgesetzter. »Und es ist jetzt einfach nicht die Zeit für deutsche Helden, glauben Sie mir.«
Dabei geht es ständig um deutsche Helden, oder besser gesagt: um den phänomenalen militärischen Geist, den die preußische Tradition herausgeschält hatte. Bevor Kopetzky die Schlacht anheben läßt, führt er uns in den Lageraum der deutschen Generalität um Feldmarschall Model, in der durch Telefon- und Funkvernetzungen »ein Stück aus der technologischen Zukunft« aufgeführt wurde: ein Lagebild in Echtzeit, das ein Führen in Echtzeit ermöglichte – heute eine Selbstverständlichkeit, damals futuristisch. Über die Wehrmacht fallen Sätze wie: »Ganz zweifellos gab es niemals zuvor und danach eine Armee, die einen solchen Traditions- und Theorieschatz mit einer so spektakulären jüngeren Praxis verbinden konnte«, und ihr Untergang wird als Tragödie bedauert. »Aber wir waren da, um diesen Geist einzufangen, wie wir es mit dem Geist mancher Indianerstämme getan hatten«, notiert Glueck.
Der dritte Strang: der Vietnamkrieg. Haben die Amis den Geist der Wehrmacht tatsächlich eingefangen? Oder war es nicht vielmehr der Ungeist Falkenhayns, der die Reichswehr vor Verdun verbluten ließ, weil gleichzeitig der Gegner ausbluten würde? Der Body-Count, die perverse Materialschlacht? War es nicht der Ungeist des Rassenwahns? Die Entlaubung, Vergiftung, das Ausmorden ganzer Landstriche – eine technokratische Abschätzigkeit, die jede militärische Kunst erstickte? John Glueck jedenfalls kommt todkrank aus Vietnam zurück, vergiftet, seine Haut schält sich, und er wird – das ist der vierte Strang, der Rahmen – die sogenannten Pentagon-Papers an die Presse weiterreichen, nicht ohne sich zuvor durch eine kalkulierte Verhaftung wegen Alkohols am Steuer hinter Gefängnismauern in Sicherheit zu bringen. Auch hier: ein realer Hintergrund. Die geheimen Pentagon-Papers wurden 1971 in der New York Times veröffentlicht und legten die umfassende Desinformation der Bevölkerung über den Vietnamkrieg offen.
Was für ein Buch ist Propaganda? Zunächst: ein Männerbuch, ein genial ineinandergewobenes Geflecht aus historischem Schauplatz, militärischer Tragödie, einsamem Wolf, Kriegsspiel, Leid, Risiko. Dann: eine Ehrenrettung, eine Beschreibung der Wirkmacht propagandistischer Verdrehung, ein Blick hinter die Kulissen, eine Entzauberung, ein Geraderücken. Vor allem aber – ein Schock. Oder haben die Leser unserer Tage eine so dicke, eine so »eindeutige« Haut, daß ihnen ihr Fell nach der Lektüre nicht zu jucken beginnt? Jeder will doch mehr erfahren über die Verteilung von Schwarz und Weiß, Lüge und Wahrheit, Gut und Böse in jenem Jahrhundert, das uns alle Bilder und Mythen geliefert hat.
Propaganda von Steffen Kopetzky kann man hier bestellen.